»Wachs oder Wirklichkeit«: Wo wohnt das Glück?

Der gewitzte Theatermelancholiker Christoph Marthaler ist mit »Wachs oder Wirklichkeit« an die Berliner Volksbühne zurückgekehrt. Endlich!

Vom Wachsfigurenkabinett auf die Bühne: Christoph Marthaler sucht die wirkliche Wirklichkeit.
Vom Wachsfigurenkabinett auf die Bühne: Christoph Marthaler sucht die wirkliche Wirklichkeit.

Alle sind sie da: Heino gesellt sich zu Horst Lichter, die verstorbene Queen trifft auf Albert Einstein, während uns Karl Lagerfeld den Rücken zukehrt. Wir blicken auf einen Ausschnitt des Hamburger Wachsfigurenkabinetts Panoptikum, den uns die Szenografin Anna Viebrock für die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz nachgebaut hat.

»Wachs oder Wirklichkeit« ist der Titel der zugehörigen Inszenierung, die am Donnerstag ihre Premiere hatte. Und fast zu schön, um Wirklichkeit zu sein, ist auch der Umstand, dass Christoph Marthaler diesen zarten Theaterabend inszeniert hat. Der wahrscheinlich feinsinnigste Regisseur, den diese Bühne je gesehen hat, hat zuletzt im Herbst 2016 eine Premiere an diesem Haus verantwortet – und wurde in Berlin seitdem schmerzlich vermisst.

Nun hat also die Wehmut ihr Ende … Unsinn! Denn bittersüße Wehmut ist ja gerade die Spezialität dieses großen Theatermelancholikers. Es ist Marthalers Eigenart, seine sehnsuchtsvollen Inszenierungen aber nicht zu Trauerveranstaltungen werden zu lassen, sondern sie mit heiterem Witz zu versehen. Wer bei einem Marthaler-Abend nicht ein einziges Mal in Lachen ausbricht, muss gänzlich abgestumpft sein. Für denjenigen, dem an keiner Stelle die Tränen kommen, muss dasselbe gelten.

Mit Marthaler kommt auch seine so bezeichnete Familie an das Haus zurück. Die Bühnenbildnerin Anna Viebrock wurde schon erwähnt. Sie hat einen weiteren unwirtlichen Ort in den Theaterraum versetzt. Die goldenen Säulen, die die Bühne strukturieren, versinnbildlichen ein schönes Paradox: dass am billigsten wirkt, was nur teuer aussehen soll. Die Balustrade, der sie ihren Platz gegeben hat, ist, ganz je nachdem, Bühne für stolze Auftritte oder Ort größter Einsamkeit.

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Die – nicht nur an der Volksbühne – geradezu verehrte Schauspielerin Sophie Rois musste krankheitsbedingt leider passen. (Gute Besserung!) Unter anderem mit Tora Augestad, Jürg Kienberger und Clemens Sienknecht sind einige der altbekannten singenden Spieler und spielenden Sänger vertreten. Mit Rosa Lembeck hingegen ist ein frisches Gesicht im Marthaler-Ensemble vertreten, eine der interessantesten neuen Darstellerinnen an der Volksbühne.

Mit »Wachs oder Wirklichkeit« hat Marthaler auch eine Reminiszenz an den 2018 verstorbenen Schweizer Schriftsteller Jürg Laederach geschaffen. Dessen experimentelle, geradezu neodadaistische Texte und Szenen, die in der Inszenierung zerpflückt und neu zusammengesetzt werden, sind in ihrer Versponnenheit, in ihrem Spiel mit Rhythmus und Melodie dem Marthaler-Theater durchaus verwandt.

Laederachs Texte laden uns ein zu einer großen Frage, die statt einer Handlung die Bühne beherrscht: Was ist Wachs, was Wirklichkeit? Warum erscheint uns die Realität so künstlich? Und warum das Artifizielle so täuschend echt? Wie auch die Wachsfiguren, die die Volksbühne bevölkern und die erst auf den zweiten Blick unterscheidbar werden von dem neunköpfigen Ensemble.

In den Miniaturen, die sich hier zu einem Ganzen fügen, scheitern alle Figuren an ihrem Leben. Das ist traurig und komisch und berührend schön. Schon die Eingangsszene macht das deutlich, wenn Clemens Sienknecht zwischen Bühnenmitte und Piano hin und her läuft und »Rhythm is a Dancer« der Eurodance-Pioniere Snap! als Warteschleifenmelodie einspielt. Selbstverständlich mit dem obligatorischen Hinweis: »Bitte haben Sie noch einen Augenblick Geduld, wir sind gleich wieder für Sie da.«

Warten und Vergehen, Verschwinden und Sterben sind die Themen dieses Abends. Und sie alle schreiben sich tief in das Leben ein. »Nicht einschlafen!«, lautet die fortwährende Ermahnung von der Bühne und im Publikum verfolgt man den andauernden Dämmerzustand der Figuren. Wie sie dem Leben sanft zu entgleiten drohen, geschieht allerdings anmutig und lustig – und zu keinem Augenblick will man wegsehen.

»Das Leben ist eine Pistole, die nicht losgeht«, heißt es an einer Stelle, ehe der entscheidende Zusatz folgt: »Manchmal schon.« Und in einnehmender Lakonie wird später deklamiert: »Ich bin luftleer, meine Emotionen wollen nicht flutschen.«

Wie gewohnt fügt Marthaler diesen Szenen liebevoll kompilierte Musik hinzu. Und so übersetzt sich das Gesehene in die von falschem Pomp befreiten Schlager à la Münchener Freiheit: »Einmal kommt das Leben und sagt ja zu dir / Einmal die Gelegenheit zu fliehen von hier / Ohne morgen und wie im Spiel / Alles neu erleben, es ist nie zu viel.« Oder – etwas volkstümelnder: »Über den Bergen, weit zu wandern, / Sagen die Leute, wohnt das Glück.«

Der Unterscheidung von Wachs und Wirklichkeit ist man nach dem gut 90-minütigen Abend kaum näher. Eher schon hat man das Gefühl, dass alles eins ist. Vielleicht hat Christoph Marthaler ein für sich programmatisches Stück inszeniert. Seine Arbeiten – die Bühnenbilder, die Figuren! – scheinen manchmal ganz unmittelbar dem Leben entrissen. Und im nächsten Augenblick bestimmt eine umwerfende Artifizialität die Szene. Und umgekehrt: Manchmal wähnt man sich bei einem Spaziergang durch die Ruinen von Berlin wie in einem Marthaler-Stück und wundert sich: Wo bleibt die Musik?

War’s das jetzt?, geht es einem durch den Kopf, wenn am Ende das Licht ausgeht. Dabei ist doch fast nichts passiert. Ein Tippeln auf der Stelle, dazu kunstvoll überschwenglich interpretierte Lieder. War das alles, war das die Wirklichkeit? Oder doch nur Wachs? Ein bisschen Kitsch? Es waren große Bilder für die großen Themen, nicht verlegen auch um vermeintlich einfache Antworten und Nicht-Antworten. Christoph Marthaler ist ein kluger Abend geglückt, traurig-schön, der einen nachdenklich in die unwirkliche Wirklichkeit entlässt.

Nächste Vorstellungen: 15., 23. und 24. März
www.volksbuehne.berlin

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