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»Von Steuervorteilen profitieren vor allem Männer«
Anreize für längere Arbeitszeiten sind ein Fixum der Koalitionsverhandlungen. Dabei bräuchte es eine andere Flexibilisierung.
Würde ich ihre Forschung paraphrasieren, würde ich sagen: Das Problem des deutschen Arbeitsmarkts ist nicht die Teilzeit der Frauen, sondern die Vollzeit der Männer. Wie ist die Arbeitszeit denn derzeit verteilt?
Männer arbeiten laut letzten Erhebungen im Schnitt etwa 37 Stunden, Frauen ungefähr 30 Stunden, aufgrund höherer Teilzeitanteile. Interessanterweise wünschen sich Frauen mehr zu arbeiten, Männer weniger – die Arbeitszeitwünsche liegen in Deutschland im Schnitt zwischen 32 und 34 Stunden. Dabei sind Überstunden, die zu einem deutlich größeren Teil von Männern geleistet werden, weil Frauen beispielsweise aufgrund von Sorgetätigkeiten weniger arbeiten können, noch gar nicht eingerechnet. Wenn wir also alle ein bisschen weniger arbeiten würden, würden die tatsächlichen und gewünschten Arbeitszeiten besser zusammenpassen.
CDU und SPD argumentieren in den Sondierungen dagegen für eine wöchentliche statt tägliche Höchstarbeitszeit »gerade im Sinn von Vereinbarkeit und Beruf«.
Das ist eine kolportierte Idee. Die Situation ist bereits ohne eine Ausweitung auf wöchentliche Höchstarbeitszeiten schlecht bestellt. Diesen erweiterten Arbeitszeitrahmen können erneut vor allem Männer ausschöpfen, weil ein täglicher oder wöchentlicher Arbeitszeitkorridor nichts an der Vereinbarkeitsproblematik an sich ändert. Mütter können beispielsweise nicht autonom über ihre Arbeitszeit bestimmen, wenn sie sich nach den Schulzeiten ihrer Kinder richten müssen. Derlei Regelungen führen dazu, dass Betriebe die Möglichkeit haben, den Arbeitszeitrahmen und damit auch Beschäftigte stärker auszuschöpfen, also zu unternehmerischer Flexibilität.
Dr. Eike Windscheid-Profeta leitet in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung das Referat Wohlfahrtsstaat und Institutionen der Sozialen Marktwirtschaft und forscht zum Thema Arbeitszeitgestaltung von morgen.
Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wünschen sich Frauen aber mehr Flexibilität. Ist das nicht in ihrem Sinne?
Es gibt unterschiedliche Definitionen von Flexibilität. Wenn man tagsüber kurz weg kann, um das Kind abzuholen und die Zeit abends nacharbeiten muss, ist das unternehmerische Flexibilität. Es gibt dazu eine spannende Studie meiner Kollegin Yvonne Lott, die aufzeigt: Derlei Flexibilität wollen zum Beispiel Eltern gar nicht, weil ihnen die wertvolle Zeit am Abend mit der Familie fehle. Einen anderen Fall haben wir, wenn Menschen tatsächlich Lage und Dauer von Arbeitszeiten mitbestimmen oder sogar autonom darüber entscheiden können. Solche Wahlarbeitszeitmodelle haben sehr gute Effekte auf Zufriedenheit, Motivation, Produktivität und Gesundheit, das wissen wir aus der Forschung. Wenn wir aber wollen, dass Menschen mehr arbeiten und das durch Steuervorteile anreizen, profitieren davon vor allem Männer.
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Die steuerlichen Begünstigungen für Mehrarbeit sollen auch für Teilzeitarbeit gelten. Das kommt doch vielen Frauen zugute?
Das ist hoch bedenklich, denn Menschen arbeiten nicht ohne Grund in Teilzeit, sondern oft, weil sie die Belastung nicht ertragen. Derlei Maßnahmen gehen zu Lasten von Arbeits- und Gesundheitsschutz und der Belastungsprävention. Der zentrale Grund für Teilzeitbeschäftigung ist Sorgearbeit. Diejenigen, die zu Hause keine Sorgeverpflichtungen haben, kommen in den Genuss von »zusätzlichem Geld«, was das Missverhältnis der Geschlechter weiter zementiert. Diese Pauschallösung ist unzureichend und gelinde gesagt gefährlich. Mit finanziellen Anreizen ist es eben nicht getan.
Das gleiche gilt für Menschen, die in Sparten mit hoher Arbeitsbelastung arbeiten, oder?
Ja. Viele Menschen, die in der Pflege, auf dem Bau, in der Erziehung oder in anderen belastenden Branchen arbeiten, geben bei Befragungen die Angst an, unter den aktuellen Bedingungen nicht bis zur Rente durchzuhalten.
Apropos: Die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren soll nach derzeitigem Stand beibehalten werden, durch finanzielle Anreize aber längeres Arbeiten normalisiert werden. Ein ähnlicher Fall?
Egal, ob es um die Ausweitung von Tageshöchstarbeitszeiten, Wochenhöchstarbeitszeiten oder Lebensarbeitszeiten geht, es greifen immer die gleichen Ungleichheitsmechanismen. Prinzipiell müsste man für eine positive Form der Arbeitszeitflexibilisierung das Arbeitssystem als Ganzes anfassen. Der Arbeitszeitrahmen ist nur ein Teil davon. Erst wenn man die Ausgestaltung des Arbeitsplatzes gut gelöst hat, kann man sich Gedanken über eine gesundheitsförderliche, altersgerechte und vereinbarkeitsförderliche Arbeit machen. Dazu gehören dann unter anderem auch gute Arbeitszeitarrangements, die den Beschäftigten Möglichkeiten einräumen, besser über ihre Zeit zu verfügen.
Gibt es denn praktische Beispiele für diese »Utopie«?
Bei der Bahn und der Post etwa können Arbeitnehmer*innen bereits zwischen Zeit und Geld entscheiden. Zum Beispiel durch eine Reduktion der Wochenarbeitszeit statt Lohnerhöhung. Oder sie nehmen die Lohnerhöhung, dafür bleibt die Arbeitszeit die gleiche. Zudem gibt es in vielen kleinen Betrieben bis zu großen Konzernen bereits eine echte Vier-Tage-Woche, das heißt Arbeitszeitreduzierung ohne Lohnverlust. Und diese Betriebe arbeiten stabil, ohne dass ihre Produktivität bedroht wäre. Die Menschen sind gesünder, zufriedener, motivierter und auch für die Sorgearbeit besser aufgestellt. Selbst in der Schichtarbeit ist autonome Flexibilität möglich und führt zu größerer Zufriedenheit.
Machen Arbeitnehmer*innen – gerade in Zeiten des Fachkräftemangels – mehr Druck in diese Richtung?
Die Überlegungen halten derzeit Einzug in Tarifverhandlungen. Wie im öffentlichen Dienst, wo mehr Urlaubstage gefordert werden. Viele Unternehmen merken aber von selbst, was sie ihren Angestellten bieten müssen. Einige Krankenhäuser, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, probieren inzwischen die Vier-Tage-Woche aus, weil das Personal aus Belastungsgründen gekündigt hat. Pauschalausweitungen machen im Übrigen keinen Sinn, stattdessen braucht es branchen- und betriebsnahe Lösungen. Die Konzepte dafür liegen auf dem Tisch.
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