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Berliner Gericht: Polizei wendete Schmerzgriffe zu Unrecht an
Das Verwaltungsgericht Berlin beurteilte den Einsatz von Schmerzgriffen bei einem Klimaaktivist als unverhältnismäßig
Im April 2023 setzte die Berliner Polizei Schmerzgriffe ein, um den 21-jährigen Lars Ritter aus einer Straßenblockade der Letzten Generation wegzutragen. Am Donnerstag entschied das Verwaltungsgericht Berlin: Die beteiligten Beamten handelten rechtswidrig. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die Ritter bei der Klage unterstützte, spricht von einem »fundamentalen Erfolg für die Versammlungsfreiheit«. Schließlich sei es das erste Urteil eines Gerichts in Deutschland, dass dem Einsatz von Schmerzgriffen bei friedlichen Demonstrationen Grenzen aufzeigt.
Richter Wilfried Peters betonte während der Verhandlung indes, dass es bei dem Verfahren nicht um den generellen Einsatz von Schmerzgriffen geht. »Wir entscheiden hier nicht allgemein über die Frage, wann und unter welchen Umständen die Polizei unmittelbaren Zwang anwenden darf«, so Peters. »Es geht hier um eine ganz konkrete Situation, die wollen wir beurteilen.«
Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) sieht in dem Urteil dennoch einen Präzedenzfall, der auf ähnlich gelagerte Fälle übertragbar ist. Auch Ritters Anwalt Patrich Heinemann sagte: »Jede Entscheidung hat über einen konkreten Einzelfall hinaus eine Bedeutung (...). Und ich glaube, es gibt einige vergleichbare Fälle.«
Aktivist Ritter zeigte sich nach dem Urteil erleichtert, dass ein kräftezehrender Prozess vorerst zu Ende ist. »Ich hatte Tränen in den Augen«, sagte er »nd«. Er sprach von »Glück im Unglück«, dass der Vorfall gut dokumentiert war. Mehrere Videoaufnahmen zeigen deutlich, was am 20. April 2023 passierte: Die Berliner Polizei war gerade dabei, eine Straßenblockade der Letzten Generation aufzulösen. Die meisten Aktivist*innen standen schon am Straßenrand, nur eine Handvoll Protestierender saß noch auf der Fahrbahn. Die Lage war ruhig, als drei Beamte Ritter unter Einsatz von Schmerzgriffen wegtrugen.
»Unser Ziel ist es, Schmerzgriffe gegen friedlich Demonstrierende grundsätzlich für rechtswidrig erklären zu lassen.«
Joschka Selinger Rechtsanwalt Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF)
Handelte es sich dabei um das mildeste Mittel, um die Auflösung der Versammlung durchzusetzen? Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist entscheidend, wenn es darum geht, ob und welche Form von »unmittelbarem Zwang« (sprich: körperliche Gewalt) die Polizei anwenden darf.
Das Gericht befand: Die Beamten hätten Ritter auch ohne »Schmerzgriffe und Nervendrucktechniken« wegtragen können. Die Ausgangssituation sei ruhig und friedlich gewesen, Ritter habe sich nicht gewehrt und genügend Polizist*innen seien auch vor Ort gewesen, lautete die Begründung der Anklage, der das Gericht folgte. Erfolglos argumentierte hingegen die Polizei, dass Schmerzgriffe ein milderes Mittel als das Wegtragen seien, weil letzteres mit einem »erheblichen Verletzungsrisiko der Kollegen« einhergehe. Richter Peters verwies darauf, dass die Beamten den Aktivisten auch trotz der Schmerzgriffe von der Straße trugen.
Rechtsanwalt Joschka Selinger begleitete den Prozess für die GFF. Schmerzgriffe hätten in Verteidigungssituationen und dann, wenn Menschen aktiv Widerstand leisten, durchaus eine Berechtigung, so Selinger. »Unser Ziel ist es, Schmerzgriffe gegen friedlich Demonstrierende grundsätzlich für rechtswidrig erklären zu lassen.« Das Urteil sei ein »erster wichtiger Schritt«. Im Februar war die GFF vor dem Amtsgericht Ansbach mit einem ähnlichen Fall gescheitert, wie der Evangelische Pressedienst (epd) berichtete. Eine Urteilsbegründung steht noch aus.
Ungeachtet dessen erhofft sich die GFF, dass das nun gefällte Urteil direkte Auswirkungen haben wird: »Wir gehen davon aus, dass es die polizeiliche Praxis auch in den anderen Bundesländern unmittelbar beeinflussen wird.« Schließlich sei nun gerichtlich festgestellt, dass das Wegtragen das mildeste Mittel sei. Die Polizei Berlin kündigte an, die Einlegung von Rechtsmitteln zu prüfen, betonte aber gegenüber »nd«, dass der Entscheidung ein konkreter Einzelfall zugrunde liege, der nicht verallgemeinert werden könne. »Es besteht nach derzeitiger Feststellung kein Anlass, die Rechtmäßigkeit der Anwendung polizeilichen Zwanges, einschließlich der Anwendung von Hebel- und Transporttechniken, grundsätzlich in Frage zu stellen«, teilte die Pressestelle der Polizei Berlin »nd« mit.
Die Antwort der Polizei Berlin wurde nachträglich hinzugefügt.
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