- Politik
- Kneipensterben
»Die Jugend geht halt lieber in Bars«
Die Zeit der Eckkneipe geht zu Ende. Selbst im Ruhrgebiet bangen viele Wirte um ihre Existenz
Rauch steigt auf. Ralle atmet einmal tief ein und schaut sich den klaren Nachthimmel über Duisburg an. »Ein Kippchen gehört einfach dazu«, lacht er und zieht erneut genüsslich an seiner Zigarette.
Während Ralle vor der Tür »mal eine quarzen« ist, geht es drinnen hoch her. Es ist Donnerstagabend. Primetime in der Schänke in Duisburg-Buchholz – eine Institution im Süden der Stadt. Donnerstags ist der beliebte und fast schon legendäre Bier- und Schnitzeltag. Da kostet das kleine »Pilsken« nur 1,50 Euro, das Schnitzel ist für weniger als zehn Euro zu haben. Lecker, denken sich an diesem Abend viele. Die Schänke ist gut besucht.
Vor knapp 20 Jahren war das Bier noch gut 70 Cent günstiger. Alles wird teurer, auch die Kneipe. Ralle trägt ein Käppi und nimmt das so hin. Er ist fast noch nüchtern. »Mich siehst du nie voll«, sagt er und drückt die Zigarette am Ascher aus. Ende fünfzig mag er sein. »Jetzt gehe ich wieder an den Tresen. Mein Pils wird warm.« Bei lauter Schlagermusik wird in der Schänke gefeiert und getrunken, einige schauen Fußball, vor allem Ältere, spielen am Automaten oder mit Würfeln und Bechern. Die Einrichtung ist rustikal, aber gepflegt. Im Keller gibt es eine Kegelbahn. »Hier ist es immer gut voll von Donnerstag bis Samstag«, meint Dennis, der einmal im Monat zum Feierabendstammtisch »rumkommt«, und nimmt einen kräftigen Schluck aus dem Weizenglas.
Dabei sind die Zeiten eigentlich vorbei, als die Kneipe insbesondere für die Arbeiter so was wie ein zweites Wohnzimmer war, selbst im Ruhrpott zwischen Dortmund und Duisburg. Die Zahl der Schankbetriebe ist auch hier, wo es vor 50 Jahren noch an fast jeder Straßenecke eine typische Eckkneipe gab, in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen. Zwischen den Jahren 2006 und 2023 ist sie Zahl der Schankbetriebe in Nordrhein-Westfalen um fast 42 Prozent gesunken, erklärte das Statistische Landesamt kürzlich. Während 2006 noch gut 14 000 Kneipen gezählt wurden, waren es 2023 nur noch etwas mehr als 8000. Einige Duisburger Stadtteile haben überhaupt keine mehr.
»Traurig ist das«, meint Ralle, der seinen Platz am Tresen wieder eingenommen hat. »Aber die Jugend geht halt lieber in Bars oder Clubs oder feiert vor dem Handy oder illegal auf Spielplätzen.« Er spricht Ruhrpott-Deutsch und ist auf den ersten Blick ein typischer Malocher. »Ich habe Elektriker gelernt und bin seit bald 40 Jahren auf Arbeit auf der Hütte hier.« Die soll bald schließen. Denn sie gehört dem Geflecht Thyssenkrupp, dessen Stahlsparte seit Jahren in einer Krise steckt. »Scheiße für die jüngeren Kollegen«, meint er. »Ich kann früher abhauen, das trifft mich nicht hart, einige kleine Abzüge und gut iss.« Nach mir die Sintflut? Scheint so, hört man Ralle zu. Die früher viel beschworene Solidarität und das Zusammengehörigkeitsgefühl im Ruhrpott haben offenbar schon bessere Tage erlebt.
Dass es mit Solidarität und Geselligkeit nicht mehr so bestellt ist wie vor einigen Jahrzehnten, merken freilich auch die Wirte und die vor allem männlichen Stammgäste. »Früher war auch werktags noch viel mehr los als heute«, sagt ein anderer Gast, der seit 30 Jahren fast täglich in der Schänke ist. »An Wochenende ist es fast wie früher, aber es ist dennoch anders«, hat er bemerkt. Jetzt gibt es ein Rauchverbot, dazu sind die Bier- und Alkoholpreise stark gestiegen. Und noch viel wichtiger: Die Menschen seien andere und die Stimmung habe sich verändert. »Viele alte Kollegen sind unter der Erde, manche dürfen nicht mehr oder sind im Heim. Und die Neuen in der Kneipe sind nicht so unterhaltsam«, findet er.
Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch Ralle: »Vor allem wir Älteren gehen noch in die Kneipe, stelle ich immer wieder fest. Denn die Jüngeren können sich das nicht mehr leisten.« Bis zu dreimal »inner Woche« geht er in die Kneipe. An diesem Donnerstagabend sind die meisten Gäste das, was die Werbeindustrie »Best Agers« nennt, Männer jenseits der 50. Auch einige Abiturienten und Mittdreißiger sind da. Die Schänke liegt an einer Bus- und Bahnstation und gleich daneben sind ein Discounter, eine Bank, Ärzte und das Bezirksamt. »Gute Lage«, nennt das Dennis. Die Kneipe diente in den 1980ern mal einem Schimanski-Tatort als Kulisse. Damals hatten Kneipen noch einen anderen Stellenwert.
»Vor allem wir Älteren gehen noch in die Kneipe. Die Jüngeren können sich das nicht mehr leisten.«
Ralle
Die Schänke ist aber auch eine der letzten Kneipen im Süden von Duisburg, einem Stadtbezirk mit knapp 74 000 Einwohnern. Im restlichen Stadtgebiet sieht es ähnlich aus. Man findet mittlerweile häufiger Nagelstudios und Shishabars als Kneipen in den Straßen.
Die Corona-Pandemie hat das Kneipensterben noch einmal verstärkt, ist sich Thorsten Hellwig sicher. Der Pressesprecher des Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga in NRW erklärt das mit »besonders herausfordernden Rahmenbedingungen«. Auch nach der Pandemie habe sich die Lage nicht wirklich verbessert, »die Umsätze liegen noch immer unter denen vor Corona«. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass in Deutschland insgesamt viel weniger Alkohol getrunken wird. Der Konsum ist in den vergangenen vier Jahrzehnten ungefähr um ein Drittel zurückgegangen.
Mancherorts sieht man auch im Kneipenfenster den Aushang: »Kellner oder Koch gesucht!« Auch die Schänke in Duisburg sucht nach Personal. In der Gastronomie gibt es anders als in anderen Branchen tatsächlich einen Fachkräftemangel. Teilweise ist er selbst verschuldet – denn die Bezahlung ist schlecht, nur selten gibt es eine Tarifbindung. Zudem sind die Arbeitszeiten oft familienunfreundlich, und das Geschäft ist saisonal schwankend. Außerdem gibt es kaum einen Kündigungsschutz. Das macht die Branche nicht gerade attraktiv. Viele, die dort arbeiten, sehen das als befristeten Job an, und so wundert es nicht, dass der Gastronomie der ausgebildete Nachwuchs fehlt. Dennis hat dazu eine klare Meinung. Er findet die Arbeit unattraktiv. »Ich würde nicht kellnern oder in der Kneipe jobben wollen als junger Mensch, und schon gar nicht als älterer.« Seine Kumpane kommen zum Stammtisch – auch dies ist auch ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Wie der Sparclub. Heute trifft man sich eher zum »Chillen« oder zur »Party«.
Hellwig wünscht sich als Lobbyist andere Rahmenbedingungen für die Gastronomie: »Eine Wiedereinführung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes auf Speisen sowie eine Wochen- statt einer Tageshöchstarbeitszeit sind nötig.« Das sind Standpunkte, die auch die Unionsparteien und die FDP fordern. Zudem wünscht er sich für die Gaststätten eine Begrenzung der Sozialversicherungsbeiträge, einen von einer Kommission statt der Politik festgelegten Mindestlohn sowie mehr Fachkräfteeinwanderung.
Teilweise müssten die Wirte noch immer Corona-Hilfen und Kredite zurückzuzahlen, erzählt er, was die Kneipenbesitzer natürlich belaste. Zumal nach dem Ende der Corona-Pandemie keinesfalls eine Entspannung eingetreten ist. Vor nunmehr drei Jahren hat Russland die Ukraine überfallen, und mit dem Lieferstopp von russischem Öl und Gas brach hierzulande eine Energiekrise herein, was zu beträchtlichen Preissteigerungen bei Herstellern und Produzenten der Gastronomie führte. Selbst private Sport-Streaminganbieter haben ihre Angebote drastisch verteuert. Der Dehoga-Sprecher zeichnet eine herausfordernde Situation für die Wirte: »Der eingetretene hohe Kostendruck, der Arbeits- und Fachkräftemangel und die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Speisen belasten die Branche.« Die heimische Fußball-EM im vergangenen Sommer habe zwar für gute Umsätze gesorgt, aber auch das Großevent habe nur kurz die generellen Umsatzeinbußen gestoppt, bilanziert er.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
300 Meter von der Schänke entfernt liegt stadteinwärts das Queen’s Inn. Hier sollen sich während der britischen Besatzung Soldaten getroffen und gesoffen haben, lauscht man den Anekdoten am Tresen. Der aktuelle Wirt weiß davon nichts mehr, er hat den Laden erst vor einigen Jahren aus einer Laune heraus übernommen und wiedereröffnet. Einige Rentner sind hier morgens beim politischen Frühschoppen – ein weiteres Überbleibsel aus der Vergangenheit.
Ist die Kneipe aus der Zeit gefallen? »Nein«, sagen die Rentner am Tisch. Und fügen dann an: »... für uns noch lange nicht!« Sie streiten sich über die aktuelle Bundesregierung und schimpfen über Friedrich Merz. Viel los ist hier nicht mehr, abends auch nicht. Die besten Zeiten scheint das Queen’s Inn mit den Briten in den 1980er Jahren gehabt zu haben.
Unterhält man sich mit den Wirten, dann hört man auch sie über die überbordende Bürokratie klagen. »Sie ist vor allen Dingen bei kleineren Betrieben immer schwerer zu stemmen«, sagt Hellwig, »weil gleichzeitig andere Themenfelder im Bereich Digitalisierung und Nachhaltigkeit bearbeitet werden müssen«. Digitalisierung und Kneipen? Wenn man in einigen Kneipen noch nicht einmal mit Karte bezahlen kann? »Die werde immer wichtiger«, betont Hellwig, der aber trotzdem keine Trübsal blasen möchte. Er geht davon aus, dass die Schankbetriebe auch in Zukunft eine wichtige Rolle einnehmen werden, sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich. Ralle würde es freuen. Er sitzt inzwischen wieder vor seinem Pils, dazu hat er sich einen Korn gestellt.
Man muss kein Soziologe sein, um zu konstatieren, dass Freizeitgewohnheiten und Konsumverhalten sich verändern. Und deshalb wird sich auch die Kneipe weiterentwickeln müssen und auf neue Bedürfnisse reagieren. Sonst geht die Kundschaft aus. Aber der Wandel geschieht langsam: »Rein getränkeorientierte Konzepte werden sicherlich in einer großen Nische gut existieren können«, schätzt Hellwig. Damit meint er die Kneipe, die vom Verkauf alkoholischer Getränke lebt. »Aber nicht mehr in der großen Zahl, wie das zu klassischen ›Eckkneipen-Jahren‹ der Fall war.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.