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Institut für Sozialforschung: Unsichtbare Arbeit
Frauen waren am Frankfurter Institut für Sozialforschung oft unterrepräsentiert und jene Arbeit, die nicht dem Geniekult entsprach, blieb unsichtbar
Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit sind Folge und Ausdruck von Macht beziehungsweise Ohnmacht. Macht und soziales Prestige ziehen Sichtbarkeit nach sich. Und Sichtbarkeit hilft dabei, Einfluss zu mehren. Unsichtbar bleiben daher die Ohnmächtigen und dies erschwert es ihnen, mächtiger zu werden. Die ungleiche Verteilung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Personen oder Tätigkeiten ist damit auch Voraussetzung der Aufrechterhaltung von Macht. Untergeordnete werden häufig als unsichtbar behandelt. Man sieht sie zwar, aber nimmt sie nicht wahr: das Dienstpersonal, die Reinigungskräfte. Oder man nimmt sie nicht als das wahr, was sie sind: Etwa die weibliche Führungskraft, die für eine Sekretärin gehalten wird. Sichtbarkeit, das zeigt dieses Beispiel, ist auch eine Folge gesellschaftlicher Erwartungen und stereotyper Kategorisierungen. Allerdings werden Untergeordnete nicht physisch übersehen, sondern auf andere Weise: Sie werden nicht »anerkannt«. Darin liegt vielleicht ein gewisser, wenn auch geringer »Trost«: Als unsichtbar kann man nur behandeln, wen man rudimentär sieht. Aber manchmal ist es der Betroffenen lieber, nicht gesehen denn als unsichtbar behandelt zu werden. Hierauf beruht auch die Tücke des Lobs dafür, eine Arbeit gut und zuverlässig auszuführen, ohne dafür aufzufallen.
Wissenschaftliche Arbeit fußt auf Prozessen der Arbeitsteilung und ein Forschungsinstitut ist auf ganz unterschiedliche Tätigkeiten angewiesen, um als entsprechende Einrichtung bestehen zu können – Tätigkeiten, die unterschiedlich geachtet, entlohnt, wertgeschätzt werden: von der Reinigung der Arbeitsflächen und Toiletten über die Einrichtung und Wartung der Technik, die Beantwortung von Anrufen und Organisierung der Post, die Begleitung und Bewerbung ganz unterschiedlicher Veranstaltungen, die Korrektur und Gestaltung von Publikationen, die vielfältige Archiv- und Bibliotheksarbeit bis zur Forschung, dem Verfassen von Texten und Vorträgen. Die konkrete Arbeit innerhalb dieser Tätigkeitsspektren, die jeweils ganz unterschiedlichen Bedingungen unterliegt, hat sich in der 100-jährigen Geschichte des Instituts für Sozialforschung (IfS) freilich gewandelt, durch Prozesse der Technisierung und Digitalisierung, durch veränderte institutionelle und organisatorische Bedingungen und Organisationsweisen. So zog die zunehmende Drittmittelfinanzierung den Ausbau bestimmter Tätigkeiten nach sich, ebenso wie die relevanter gewordene Erwartung an »Wissenschaftskommunikation«. Die Organisation der Reinigung wird heute typischerweise an Firmen delegiert, mit Folgen auch für Anerkennungsverhältnisse: Wo zu einer einzelnen angestellten Reinigungskraft persönliche Beziehungen aufgebaut werden (konnten), wird dies durch die Auslagerung der Organisation der Tätigkeiten unwahrscheinlicher, und damit auch die Sichtbarkeit und Würdigung der Arbeit qua Wahrnehmung der Person seltener.
Für das Institut gilt ebenso wie für alle Sphären des Sozialen: Die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Arbeit ist gesellschaftlich vielfach durch Geschlecht vermittelt – freilich nicht nur, sie ordnet sich etwa auch entlang von Klassenlinien. In der feministischen Debatte steht die Chiffre der unsichtbaren Arbeit in der Regel für Tätigkeiten, die in der gesellschaftlichen Sphäre der Reproduktion, als Haus- oder Familienarbeit beziehungsweise als Care-Arbeit, geleistet werden. Gesellschaftlich entwertet sind diese Tätigkeiten unabhängig davon, in welcher Sphäre sie stattfinden, ob im Privaten oder in der Erwerbssphäre. Ihre fehlende Anerkennung zeigt sich unter anderem in der verbreiteten Annahme, dass Sorgetätigkeiten keine berufliche Qualifikation erfordern, sondern von Frauen gewissermaßen als Frauen, als empathische, liebende, sich aufopfernde Wesen beherrscht würden. Nicht nur Frauen leisten unsichtbare Arbeit, aber unsichtbare Arbeit wird besonders von Frauen geleistet. Anders herum: Aufgrund der Verortung von Frauen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung einer patriarchalischen Gesellschaft bleiben Arbeiten oft unsichtbar, die von Frauen geleistet werden – und zwar eben darum, weil sie von Frauen geleistet werden. Und: Frauen bleiben oft unsichtbar, weil sie gesellschaftlich entwertete Tätigkeiten ausüben. Die Ko-Konstitution von Arbeit(s-) und Geschlecht(erverhältnissen) hängt wesentlich auch mit Fragen von (Un-)Sichtbarkeit zusammen.
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Sekretärinnen und Hilfskräfte
Die tradierten Geschichten und Historiografien über das IfS errichteten und stabilisierten das Imago einiger weniger genialischer Personen. Die Voraussetzungen ebenso wie der kooperative Prozess akademischen Arbeitens werden durch diese verschleiert. Dass Forschungsergebnisse und Texte in institutionellen Kontexten erarbeitet werden, bleibt auf der Hinterbühne, wird ausgeblendet, um auf einzelne scharfzustellen. Diese im Ergebnis androzentrische Operation gelingt deshalb relativ mühelos, weil die forschende und intellektuelle Arbeit von Frauen, weil sie Frauen sind, historisch seit jeher und auch in der Geschichtsschreibung des IfS abgewertet wurde, und weil eine Reihe von Arbeiten, die – obwohl sie für die Aufrechterhaltung und Sichtbarwerdung der Forschung notwendig ist – strukturell unsichtbar bleibt.
So etwa die Sekretariatsarbeit, ein klassisches Beispiel für unsichtbare Assistenzarbeit, die in der Arbeitssoziologie als »assistierende Gewährleistungsarbeit« gefasst wird. Sekretariatsarbeit gehört zu den beruflichen Tätigkeiten, die einen Geschlechtswechsel vollzogen haben – und in eben diesem historischen Prozess entwertet wurden. Es war ursprünglich ein männliches Feld, wird aber seit etwa einem Jahrhundert meist von Frauen ausgeübt – zunächst ausschließlich, heute weiterhin häufig für Männer. Sie stellt diejenige Arbeit sicher, die als die eigentlich wichtige angesehen wird, indem sie dieser assistiert: Schreib- und Lektoratsarbeiten, organisatorische Unterstützung, Materialverwaltung, Terminplanung, mündliche und schriftliche Kommunikation nach außen und vieles anderes mehr. Die Sekretär*innen sind auch dann wichtig, wenn sie ihre »Vorgesetzten«, also die Forschenden, »unterwachen« (wie es bei Niklas Luhmann heißt) ihnen hilfreiche Informationen geben oder störende vorenthalten, bei den Arbeiten Prioritäten setzen, die Forschenden an Termine, Aufgaben oder Anrufe erinnern – oder beim Vergessen helfen. Nicht ohne Grund entwickeln Sekretär*innen trotz ihrer hierarchischen Unterordnung angesichts des Spektrums dieser Tätigkeiten einen gewissen »Gewährleistungsstolz«. Dazu gehören auch Emotionsarbeiten, die zu einer Atmosphäre beitragen, die für das Gelingen kooperativer Arbeit und die Bewältigung variabler, nicht formalisierter und ungeplanter Anforderungen unerlässlich ist.
Die geringe Anerkennung dieser Arbeitsbestandteile ist auch einem rationalistischen, objektivierenden und individualisierten Arbeitsverständnis geschuldet. Ein solches Verständnis übersieht die Komplexität, Vielschichtigkeit und auch die Tücken, die in der strukturierenden, kommunikativen und emotionalen Arbeit bestehen, bei der es oftmals auch darum geht, die privaten und intimen Dimensionen des Lebens der Forschenden zu berücksichtigen oder zu schützen. Zu Zeiten, in denen briefliche Korrespondenzen abgetippt wurden, hatten Sekretärinnen einen viel größeren Einblick in die Lebensführung ihrer Vorgesetzten, weshalb Verschwiegenheit als so wichtige Tugend bei der Besetzung solcher Stellen galt. Ganz zweifelsohne stellte sie dies mitunter auch vor kommunikative und atmosphärische Herausforderungen, wie beispielsweise ein von einer Sekretärin abgetippter Briefwechsel von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zeigt, der sich unter anderem um den Besuch eines Pariser Bordells dreht. In ihm empfiehlt Adorno Horkheimer den Besuch bei der Prostituierten »Monette«. Über die Antwort Horkheimers schreiben die Editoren, dass sie vermutlich eine durch die »Anwesenheit der Sekretärin notwendig gewordene camouflage« enthalte. Die Sekretärin ist in dieser Kommunikation also Anwesende und Unsichtbare beziehungsweise vom Inhalt Ausgeschlossene zugleich.
Zusätzlich zu der »Hintergrundarbeit« waren Sekretärinnen am Institut lange Zeit eng in Forschung und Schreibprozesse eingebunden: Manchmal gingen sie mit ins »Feld« und kannten somit die Arbeit der Projekte von innen, sie waren vielfach an der Akquisition von Interviews oder Betriebszugängen beteiligt, sie hörten und transkribierten Interviews. Bis in die 1980er Jahre stenografierten sie und tippten Texte ab, waren oft auch die ersten Leserinnen der Texte, äußerten zuweilen, wenn eine Passage unverständlich sei, oder schlugen andere Formulierungen vor. Mit der Computerisierung Ende der 1980er Jahre übernahmen die Forschenden viele dieser Arbeiten selbst; in Drittmittel-Forschungen werden sie heute oft von gering entlohnten studentischen Hilfskräften übernommen, die ebenfalls häufig unsichtbar bleiben, jedoch, sofern sie eine wissenschaftliche Berufslaufbahn verfolgen, zumindest die Aussicht auf die spätere Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit haben. Die Arbeit der Sekretärinnen verlagerte sich nun auf die Verwaltung des gesamten Instituts. Die Entwicklung des Forschungssystems brachte ein sich aufblähendes Berichtswesen mit sich, das mit neuen Aufgaben verbunden war. Damit entfiel aber zumeist auch die Praxis, ihre Mitarbeit in den Vorworten und Danksagungen der Forschungsberichte zu würdigen – ein weiterer Verlust an Sichtbarkeit der zahlreichen Sekretärinnen in den 100 Jahren Institutsgeschichte.
Eine zumindest visuelle Bekanntheit erlangte Elfriede Olbrich – jahrelang Sekretärin Adornos nach dessen Rückkehr aus dem Exil – durch ein 1963 entstandenes Bild des Fotografen Stefan Moses, das den Titel »Elfriede Olbrich, Selbstportrait mit Spiegel« trägt. Es entstand während der Fotosession, in der auch das berühmte Foto Adornos mit eben diesem Spiegel aufgenommen wurde. Am Beispiel Olbrichs wird der intellektuelle Anteil der Arbeit vieler Sekretärinnen deutlich. Olbrich war in verschiedene Schreibprozesse involviert, sie stenografierte und tippte ab, kommentierte aber auch – und war so in die Entstehung des Textes eingebunden, nicht nur bei Adorno, sondern etwa auch bei Oskar Negt und Alexander Kluge, beide Schüler von Adorno. Olbrich stenografierte und stellte transkribierte Texte am nächsten Tag wieder bereit, recherchierte, sammelte Material und brachte Buchvorschläge ein. Kluge charakterisierte Olbrich als »Redakteurin«, denn: »Ob ein Text stimmig ist, sieht man beim Diktat an ihrer Miene«; in der »Nachbemerkung« von Negts und Kluges »Geschichte und Eigensinn«steht: »Bei der Herstellung des Buches waren wir nicht allein. Uns haben, mit Auswirkung auf den ganzen Inhalt und die Kooperation, Karin Niebergall, Franz Greno und – wie schon bei Öffentlichkeit und Erfahrung – Elfriede Olbrich geholfen.« Weniger in Form einer Danksagung als einer Randbemerkung in einer Fußnote wird erneut offenbar, dass im Prozess der alleinigen Zurechnung eines Werks an einen oder zwei Autoren der Beitrag anderer eingebundener Personen mindestens opak, wenn nicht ganz unsichtbar werden muss.
Arbeit ist ein kooperativer Prozess. In diesen Kooperationen werden einige Arbeiten sichtbarer als andere: weil sie als wichtiger und für das Ergebnis entscheidend gelten und weil sie durch Personen repräsentiert werden. Wissenschaftliche Texte haben Autor*innen, die für sie verantwortlich sind oder denen hierfür die Verantwortung zugesprochen wird. Im Ergebnis verschwinden dann die Anteile anderer, die in den Diskussionen über die Arbeit, an der materiellen Texterstellung, in Überarbeitungsprozessen, am Lektorat mitgewirkt haben. Sie tauchen – vielleicht – kurz in Vorworten und Danksagungen auf, aber bleiben ansonsten im Schatten. Diese Fokussierung auf jene Personen, die als Autor*innen firmieren, scheint im modernen Wissenschaftssystem unvermeidlich und stärkt die Illusion der individuellen Forscher*innenpersönlichkeit.
Zur Konstruktion von Genialität
Bis heute gilt, dass personalisierte Repräsentanz sich in hierarchischen Strukturen herausbildet. Es gibt Projektleiter*innen und -mitarbeiter*innen, Professor*innen und wissenschaftlichen »Mittelbau«, Direktor*innen und Institutsmitglieder. Auch Wissenschaftsjournalist*innen richten ihre Aufmerksamkeit auf die »Größen« im Feld, Politiker*innen beziehen sich positiv oder feindlich auf die repräsentativen Namen, denn sie müssen abkürzen und brauchen griffige Geschichten. Die anderen Forschenden werden dann gewissermaßen als die »Sachbearbeiter*innen« der Professor*innen verschattet. Auch ein Institut, an dem Gesellschaftskritik betrieben wird und Macht- und Herrschaftsmechanismen beleuchtet werden, kann sich derartigen Logiken nicht entziehen, es ist Teil eines hierarchisch strukturierten Wissenschaftssystems und angewiesen auf die Sichtbarkeit im Feld wie in der Medienlandschaft.
Mehr noch: Vielleicht ist das IfS aufgrund seiner Geschichte und des spezifischen Wissenschaftsverständnisses auf eine besondere Weise in das Spiel der Aufmerksamkeitsökonomie eingebunden. Das IfS versteht sich als eine Einrichtung, die Theorie und Philosophie einerseits, empirische Forschung andererseits betreibt und bestrebt ist, diese zu verbinden. In der Regel finden Philosophie und Theorie, Zeitdiagnosen und große Thesen zur Gegenwart mehr Aufmerksamkeit als die kleinteilige empirische Forschung. Diese Differenzierung durchzieht allerdings häufig auch die Arbeitsteilung von Theorie und Empirie unter hierarchisch angeordneten Positionsträger*innen und damit auch die Sichtbarkeitsrelationen. Auch gilt: Wer Gesellschaftskritik und Kritische Theorie betreibt, der oder die tut dies nicht einfach aus beruflichen Gründen, sondern folgt einem politischen und moralischen Anliegen, will einen Beitrag zur Emanzipation der Gesellschaft leisten, kämpft gegen Unvernunft, Reaktion, Leiden und Unterdrückung und übt in diesem Sinne weit mehr als nur eine Profession aus. Die Sozialfigur des kritischen Intellektuellen, die wesentlich durch die Intervention in die öffentliche Debatte bestimmt ist, ist eine charismatische und zugleich individualistische Figur. Wer als ein kritischer Gesellschaftstheoretiker anerkannt wird, den umgibt gleichsam eine Aura, von der diejenigen, die auf der Hinterbühne wirken, nahezu unberührt bleiben.
Aufgrund ihres emphatischen Verständnisses wissenschaftlicher Gesellschafts- und Erkenntniskritik operiert die Historiografie der Frankfurter Schule mehr als andere Tradierungen von Theorielinien mit der Imago des Genies, das schon vielfach Gegenstand feministischer Kritiken war. Insbesondere Adorno, der sich selbst in der »Ästhetischen Theorie« kritisch mit dem Geniebegriff auseinandersetzte, aber auch Walter Benjamin wurden explizit als solche bezeichnet. Doch auch die anderen Protagonisten der Kritischen Theorie wurden von ihren Anhänger*innen wie Kritiker*innen charismatisch besetzt. Dass die »Frankfurter Schule« zu eben dieser wurde, zu einer Theorietradition mit internationaler Bekanntheit, deren Erbe, das viele antreten wollen, schwer umkämpft ist und deren zweite, dritte und vierte Generation bereits mehrfach in Feuilletons proklamiert wurde, liegt an ebensolchen Konstruktionen und charismatischen Besetzungen. Differenzen zwischen den Generationsrepräsentanten sind Material für Narrationen, in denen die Personalisierung befestigt wird. Sie ist Teil machtvoller Spiele im Feld der Wissenschaft und trug dazu bei, dass das IfS im Zuge des zunehmenden akademischen Wettbewerbs, nicht nur der Wissenschaftler*innen, sondern auch der »Standorte«, heute in der Wahrnehmung derer, die diese Spiele vorantreiben, zu einer »Marke« geworden ist.
Die Beleuchtung des Unsichtbaren
Dass in der Geschichte des IfS vor allem die Arbeit männlicher Forscher sichtbar ist, ist historisch zunächst einmal Ausdruck der allgemeinen Beschränkung von Frauen in der Wissenschaft als Teil einer zutiefst patriarchalen Gesellschaft und deren Institutionen. Frauen durften in Hessen erst seit 1908 studieren und promovieren und wurden bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nur ausnahmsweise Professorinnen, ihr Anteil an den professionellen Wissenschaftler*innen war lange Zeit deutlich unterproportional. Und doch waren am IfS vergleichsweise früh Frauen in die Forschungsarbeit eingebunden; zwei der ersten, für die Genese und Etablierung der deutschsprachigen Frauenforschung ganz wesentlichen Figuren – Helge Pross und Regina Becker-Schmidt – kamen aus dem Institut und eine der ersten großen empirischen Studien im Bereich der Geschlechterforschung wurde am IfS durchgeführt. Insofern ist die Ausblendung all dieser Personen und Forschungsarbeiten auch Ausdruck einer androzentrischen Scharfstellung, ohne die es nicht hätte gelingen können, die einzelnen Genies der Frankfurter Schule als solche erscheinen zu lassen.
Unsichtbare Arbeit und die Personen, die sie ausüben, sichtbar zu machen, ist wesentlicher Bestandteil feministischer Gesellschaftskritik. Eine feministische Geschichte des IfS trägt damit im besten Fall dazu bei, Muster der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu verändern, und damit zu hinterfragen, wie Sichtbarkeiten verteilt werden, durch welche hierarchischen Strukturen die Scheinwerfer worauf ausgerichtet werden und was im Dunklen bleibt. Dabei wirft sie auch die Frage der Ausbeutung auf – der Geniekult etwa funktioniert immer auch nach einer Logik des Eigentums.
Bei einem solchen Unterfangen treten allerdings schnell Widersprüche auf. Naheliegend ist es, Frauen mit den Leistungen und Eigenschaften sichtbar zu machen, die generell Sichtbarkeit fördern: Herauszustellen, welche Frauen Professorinnen geworden sind und in bestimmten Bereichen durchaus Anerkennung bekommen haben, dass Frauen einen ebenso hohen Bildungsstand wie die Männer haben und dennoch niedrigere Positionen bekleiden oder für ihre Leistungen weniger Beachtung finden, dass sie ebenfalls theoretische Beiträge geleistet haben. Eine solche Strategie zielt auf die Verdeutlichung von Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen im Rahmen der allgemeingültigen Kriterien für Sichtbarkeit. Doch damit reproduziert sie zugleich auch die Kriterien, nach denen Sichtbarkeiten verteilt werden, und die damit einhergehenden Strukturen der Macht und Ausbeutung.
Die unsichtbaren Arbeiten, die in den Strukturen gesellschaftlicher Arbeitsteilung im Schatten stehen, bleiben weiterhin im Schatten. Die Sichtbarmachung bleibt halbiert. Die Kritik an den Sichtbarkeitsverhältnissen muss also zweierlei leisten: Eine Kritik an den Ungleichheiten bei der Anwendung der herrschenden Kriterien und eine Kritik an den Strukturen der Sichtbarkeit selbst. Damit muss sie einen Widerspruch bearbeiten, wie er für viele Bereiche (nicht nur) feministischer Kritik der gesellschaftlichen (Geschlechter-)Verhältnisse kennzeichnend ist.
Sarah Speck ist Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung an der Goethe-Universität sowie Mitglied des Kollegiums und stellvertretende Direktorin des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main.
Stephan Voswinkel ist Soziologe, Permanent Fellow am Institut für Sozialforschung und Privatdozent am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Der Text ist ein gekürzter Abdruck aus: Christina Engelmann/Lena Reichardt/Bea S. Ricke/Sarah Speck/Stephan Voswinkel (Hrsg.): Im Schatten der Tradition. Eine Geschichte des IfS aus feministischer Perspektive. Bertz + Fischer 2025, 256 S., br., 18 €.
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