Packt die Knarren weg und die Bücher ein
Das Trenchtown Reading Centre setzt einen Kontrapunkt gegen Jamaikas Kultur der Gewalt
Bob Marley hat das Kingstoner Ghetto Trenchtown durch seinen Song »Trenchtown Rock« weltbekannt gemacht. Heutzutage gehört Trenchtown mit den anliegenden Vierteln Rema, Denham Town und Jones Town zu den Gebieten mit den höchsten Mordraten auf der Karibikinsel Jamaika. Einen Kontrapunkt setzt das von der Kanadierin Roslyn Ellison gegründete Trenchtown Reading Centre (TTRC), eine Bibliothek für Alt und Jung, zum Lesen und zum Lesen und Schreiben lernen.
Die 60er Jahre, in denen Bunny Wailer, Bob Marley und Peter Tosh in Trenchtown ihre ersten musikalischen Gehversuche unternahmen, sind längst passé. Damals war das Leben in dem Elendsviertel hart und rau, mörderische Gewalt war jedoch die Ausnahme. Schon damals galt Trenchtown als eines der verrufensten Elendsviertel der Hauptstadt Kingston: Wer dort aufwächst, hat von vornherein keine Chance, galt und gilt als Faustregel.
Bob Marley ist allgegenwärtig
Bunny Wailer, Peter Tosh und Bob Marley waren Ausnahmen und insbesondere letzterer ist auch 2009 noch fast allgegenwärtig. Das zeigen viele Porträts an den Mauern und insbesondere das mit Geldern aus Deutschland renovierte Kulturzentrum Bob Marley Culture Yard, jener Hinterhof, in dem Bob Marley einst lebte und wo heute noch sein VW-Bus als Touristenattraktion vor sich hinrottet.
Bob Marley ist präsent wie auch seine Musik. Im TTRC laufen seine Songs nicht selten Nonstop und bei nicht wenigen Liedern singen die anwesenden Kinder textsicher mit – von den Dreijährigen angefangen. Sie singen beim Lesen oder Spielen im TTRC, das seit seinem zweiten Anlauf 2005 in voller Blüte steht. Mindestens ein kleines Wunder, wenn man an die Anfänge zurückdenkt.
Die Idee zum TTRC entstand mehr oder weniger spontan. Auf einem Jamaika-Besuch Anfang der 90er Jahre wurde Roslyn Ellison buchstäblich an einer Ecke in Trenchtown stehen gelassen. Ihr einheimischer Bekannter wollte kurz was erledigen und »soon« zurück sein, erinnert sie sich. »Bald« ist in Jamaika bekanntermaßen relativ und die kommunikative Kanadierin überbrückte die Zeit durch einen Plausch mit Anwohnern in Bob Marleys ehemaligem Proberaum. Die Diskussion drehte sich darum, wie für die Bewohner dauerhaft etwas zum Besseren geändert werden könnte. Die Idee einer Bibliothek, die Zugang zu Wissen schaffen sollte, fand Anklang. Doch es blieb nicht bei der Idee. Innerhalb weniger Wochen wurde sie umgesetzt: 1993 wurde das Trenchtown Reading Centre eingeweiht.
Die ersten Jahre waren alles andere als einfach, die Unterstützung durch die Politik war begrenzt, obwohl der Abgeordnete in Trenchtown ein politisches Schwergewicht ist: Omar Davis von der sozialdemokratischen People's National Party (PNP), die von 1989 bis 2007 ununterbrochen regierte. Lumpen ließ sich die PNP-Regierung freilich nicht. 1998 baute sie in einer ihrer uneinnehmbaren Wahlhochburgen ein Gebäude für die Bibliothek – allerdings sparte man sich die Wände. Nicht gerade die optimale Lese- und Lernatmosphäre in einer Ecke, wo fast jeder Bewohner und jede Bewohnerin schon einmal zufällig ins Kreuzfeuer geraten ist und Schusswechsel auch am helllichten Tag keine Seltenheit sind. Das änderte sich erst 1999, als mit Hilfe des damaligen Finanzministers Davis, einem Kredit der Weltbank und privaten Sponsorengeldern ein richtiges Haus errichtet wurde – mit Steinwänden, Glastüren und Fenstern. Für die laufenden Kosten kam jedoch nach wie vor weitgehend Roslyn Ellison auf, die zwischen ihrer Heimatstadt Vancouver, wo sie als Lehrerin unterrichtete, und Kingston pendelte.
Die heutige Bibliothekarin, Keisha Howell, von allen nur Happy genannt, war von Anfang an dabei – 1993 als wissbegieriges Kind. »Im TTRC konntest du Bücher finden, die es in der öffentlichen Bibliothek nicht gab«, erinnert sie sich. Wichtig für Aufgaben wie das sogenannte fact finding in den Schulen, wo die Schüler sich zu einem Stichwort selbst schlau machen müssen und Fakten zum Beispiel zum Thema Elefant oder Dinosaurier recherchieren müssen. Außerdem wurde und wird beim TTRC von Beginn an viel Wert auf kontextbezogenes Lesen gelegt. »Es gibt unterschiedliche Arten zu lesen. Die eine ist es, den Inhalt eines Paragrafen zu lesen, die andere ist es, zu verstehen, was sich hinter einem Paragrafen verbirgt«, macht sie die Herangehensweise im TTRC anschaulich. Happy hält Analphabetismus primär für ein soziales Problem. Die Umstände schaffen die Analphabeten und Analphabetismus lässt sich dauerhaft nur bekämpfen, wenn auch die soziale Realität verändert wird.
Ellison pflichtet ihr bei: »Laut Statistik werden 90 Prozent aller Morde in Jamaika von Jungs zwischen 18 und 30 Jahren verübt, 86 Prozent davon sind ohne Vater aufgewachsen und können weder lesen noch schreiben.« Eine der berüchtigtsten Banden in Trenchtown heißt treffend »Fatherless Gang« – die Väter der Mitglieder sind in der Regel eines gewaltsamen Todes gestorben.
Die Zukunft der Kinder, die in die Bibliothek kommen, soll dank Bildung besser aussehen. Und sie sind mit Begeisterung dabei, zeigen dem Gast ihre Lese- und Schreibkenntnisse. Die Stimmung ist lebendig und wenn es mal zu laut wird, reicht ein Klatschen in die Hände und ein eindringlicher Appell von Happy oder ihrer Kollegin Stacy, um den Lärmpegel auf Normalniveau zu senken. Spielerisch wird den Kleinen das Alphabet beigebracht, den Älteren wird bei den Schulaufgaben geholfen und Bücher gibt es für alle Altersklassen.
Bei der Auswahl der derzeit rund 1000 Bücher legt Ellison Wert auf emanzipatorische Inhalte. So finden sich unter den Autoren von Autobiografien viele bedeutende schwarze Bürgerrechtler, Marcus Garvey, Malcolm X, Rosa Parks, Nelson Mandela und Afrikas erste Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai. Zu ihnen gesellt sich unter anderem Albert Einstein. Die Bücher sind allesamt neueren Datums und gut erhalten. Als Halde für zu entsorgende Buchbestände von Privatpersonen versteht sich TTRC prinzipiell nicht. »Qualität statt Quantität«, bringt es Ellison auf eine Formel. Ihr Credo lautet: Wissen ist Macht und Bildung ist der Schlüssel.
Macht wofür? Für einen radikalen Wandel. Die Geschichte der Arbeiterbewegung zeige weltweit, dass Schreiben und Lesen die Voraussetzungen dafür sind, damit die Unterschicht überhaupt Ideen und Macht für einen strukturellen Wandel entwickeln kann. Das Prinzip der Selbstverantwortung sei in Jamaika bereits verankert, fast jeder ist sich dessen bewusst, dass er sich über Musik oder Sport selbst aus der Misere herauskatapultieren kann. Diese Selbstverantwortung müsse auf die Bildung gelenkt werden, getreu einem Song von Shabba Ranks, in dem er fordert: »Put down the guns, put up the books« (Packt die Gewehre weg und die Bücher ein). Ohne Reggae läuft in Jamaika nichts. Das gilt auch für den fortwährenden Kampf, die Menschen von Trenchtown zu überzeugen, ins Zentrum zu kommen. Bücher, sagt Ellison, seien heute noch weniger im Bewusstsein der Leute als früher. Schließlich gebe es Fernsehen, Handy und Computer auch für jene, die weder lesen noch schreiben können.
Musik ist die Brücke zum Wissen
Mit Reggae-Konzerten auf einem Gelände einen Steinwurf von der Bibliothek entfernt wird eine Verbindung von Wissen und Musik praktiziert. »Musik eint und schafft Brücken, Bücher vermitteln Wissen und Wissen ist Macht«, meint Ellison. Sie ist sicher, dass Trenchtown Musik und Bücher gleichermaßen braucht.
Eine Einsicht indes, die wächst, aber auch wachsen muss. Als Ellison von 2000 bis 2005 in Vancouver bleiben musste, um ihre Eltern bis zu deren Tod zu pflegen, verwahrloste das TTRC zusehends. Alles was nicht niet- und nagelfest war, wurde »privatisiert«. Soziale Aktivisten, die das TTRC geleitet hatten, waren entweder weggezogen oder erschossen worden.
Eines Abends erreichte Ellison der Anruf eines verbliebenen Aktivisten aus dem Bob Marley Cultural Yard, der schräg gegenüber der Bibliothek liegt. Sie müsse unbedingt kommen und nach dem Rechten sehen. Ellison kam und statt angesichts des frustrierenden Zustands die Flinte ins Korn zu werfen, trommelte sie die Community Leaders zusammen und konnte sie flugs für einen Neustart gewinnen. Die inzwischen in das Gebäude eingezogene Autowerkstatt zog wieder aus, der Friseursalon blieb als gutes Beispiel für gelungenes und platzsparendes Kleinunternehmertum, und das TTRC steht heutzutage besser da denn je. Das findet zumindest Happy, die inzwischen ein Studium der Sozialarbeit neben ihrer Bibliotheksarbeit begonnen hat. Ein lebendes Beispiel für Sinn und Zweck des TTRC: Wissensvermittlung, um Macht für die Veränderung der Verhältnisse zu gewinnen. Das TTRC leistet dazu fraglos seinen Beitrag: Täglich schauen bis zu 50 Kinder herein – ein Faustpfand für eine bessere Zukunft – individuell und gesellschaftlich.
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