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Vielleicht ein Noch-nicht-Land?
Oskar Negt über den politischen Menschen und die Demokratie als Lebensform
Der letzte Satz des hier vorzustellenden, so erfahrungsgesättigten wie gedankenreichen Werkes lautet: »Nur noch die Utopien sind realistisch.« Nun sind Utopien bekanntlich nicht eins zu eins mit »kein Ort, nirgends« gleichzusetzen, auch wenn sie im Gegensatz zu einem geografisch und zeitlich bestimmten Ort eigentlich genau das besagen. Es sei keine Wirklichkeit in ihnen enthalten, monieren die Realpolitiker und Staatsräsonnisten aller Sorten. Außer in unseren Gedanken. Immerhin das. Ein Nirgendwo-Land, gewiss; vielleicht aber ein Noch-nicht-Land?
Oskar Negt – Jahrgang 1934, Student bei Horkheimer, Promovend bei Adorno, Assistent bei Habermas, 1968 einer der Wortführer außerparlamentarischer Aktionen, gewerkschaftsverbundener linker Sozialdemokrat – zählt als nunmehr emeritierter Soziologieprofessor aus Hannover und seit vorigem Jahr auch Ehrendoktor der Magdeburger Universität zu jenen Unverdrossenen im Lande, die nach wie vor von der Veränderungsbedürftigkeit der Welt an Haupt und Gliedern überzeugt sind. Weshalb er nicht davon ablässt, sich als Polit-Theoretiker in die Polit-Praxis einzumischen, dort also, wo, wie er selbst es formuliert, die Berufspolitiker ihr Wesen und Unwesen treiben.
Man kann Negts neuestes Buch als ein Sündenregister des heutigen Realkapitalismus verstehen. Es ist mehr als das. Wenn er etwa die von der Bush-Administration durch den Zusammenbruch der Sowjetunion genutzte Chance einer aggressionskriegerisch betriebenen geopolitischen Neuordnung der Welt als Imperialismus anprangert, und zugleich von Obamas »gutem Willen« nichts erhofft, da »die Herrschafts- und Machtstrukturen des Kapitalismus unverändert bleiben«. Wenn er die gegenwärtige Funktionsweise des Kapitalismus als »sozialdarwinistisch ablaufenden Überlebenskampf« charakterisiert. Wenn er die Arbeitslosigkeit als Gewaltakt kennzeichnet, als Anschlag auf die körperliche und geistige Integrität des Menschen. Wenn er die schamlose Bereicherungssucht einer sich als »Geschäftsführer des Weltgeistes« verstehenden Managerkaste und den jeder nationalstaatlichen Regulierungskontrolle entzogenen Machtmissbrauch der börsennotierten Großkonzerne diffamiert. Wenn er sich darüber entrüstet, dass die ohnehin Reichen den Staat durch Steuerhinterziehungen um Millionenbeträge betrügen, wissend, dass ihre »Kavaliersdelikte« infolge einer Disproportionalität des Rechts nur mit Peanuts geahndet werden. Wenn er brandmarkt, dass nach dem Mauerfall das Kapital seine Beißhemmung verloren habe.
Demokratie sei, so sagt unser Autor, die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsordnung, die in ständig erneuerter Kraftanstrengung gelernt werden müsse; schließlich könne es eine Demokratie ohne Demokraten nicht geben, und niemand werde als Demokrat geboren. Sie sei ein Lern-, ein Produktionsprozess. Daher setzt Negt einerseits auf Bildungsarbeit und andererseits weniger auf Parteien als auf die Gewerkschaften. Diese müssten angesichts von Millionen Armer und Ausgebeuteter ihr gesamtgesellschaftliches Mandat wahrnehmen und ihren Interessenbegriff auf den umfassenden Lebenszusammenhang der Menschen richten, der ja nicht nur durch den Arbeitsplatz definiert sei. Ähnliches hatte er bereits vor fünfzehn Jahren in einem ND-Interview vom 31. Oktober 1995 (S. 12) gefordert: das gewerkschaftliche Mitbestimmungskonzept ziele darauf, die absolute Herrschaft der kapitalistischen Wirtschaftsordnung »auf allen Ebenen« (!) zu brechen, um schließlich die Wirtschaftsdemokratie mit der politischen Demokratie zu verbinden. Ohne Wirtschaftsdemokratie gebe es keine haltbare Zivilgesellschaft. Eigentlich keine Demokratie. Denn in deren Wesenskern sei die Idee einer tendenziellen Überwindung nicht-legitimer Ungleichheit enthalten, und erst recht jeder Herrschaft von Menschen über Menschen.
Negt adressiert seine demokratietheoretischen Hoffnungen ausdrücklich an den Menschen als einen geborenen homo politicus, ein seiner Natur nach politisches Lebewesen. Marx verschwieg nicht, dass das aristotelische Zoon politikon zuweilen einem Menschen gilt, der ein geselliges, jedoch völlig unpolitisches Tier sei. Möge er sich wenigstens diesmal geirrt haben.
Negts Utopie, um noch einmal auf diesen Begriff zurückzukommen, kann nicht als Opium für gescheiterte Intellektuelle lächerlich gemacht oder als Warten auf den Sankt Nimmerleinstag verharmlost werden. Dazu steht das gebotene Gedankengerüst zu vollständig mit unseren Alltagserfahrungen in Übereinstimmung; es ist darüber hinaus auf ungewöhnliche Weise und in bewundernswerter Belesenheit mit dem Bildungsgut der Menschheit bestückt worden, von Aristoteles über Montesquieu bis Kant, von Marx über Luxemburg bis Korsch und Abendroth. Mit Freude bemerkt solches der Rezensent, der sich im »vorigen« Leben mit dem Autoren auf dem Felde der Rechtstheorie gefetzt hatte und der gleichwohl von diesem nach der sogenannten Wende zu einem Beitrag in einem von ihm edierten Sammelband eingeladen wurde.
Um es schließlich klipp und klar zu sagen: Negts Utopiebegriff meint einen Sozialismus als eine in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung vorhandene objektive Möglichkeit, einschließlich einer auf die Dauer unvermeidlichen Vergesellschaftung der Produktionsmittel.
Zu den Vorzügen des Werkes gehört, dass es autobiographische Bezüge aufweist, und zwar nicht nur als Rechtfertigung des Gedankenweges seines Autoren. Allerdings, und das soll nicht zugedeckt werden, umgeht er seine seinerzeitige Beratertätigkeit bei Gerhard Schröder, aber auch seine gewesenen Attacken auf Lafontaine, dessen Zusammenwirken mit Gysi er vor einigen Jahren keine Perspektive gab. Irren ist auch bei Wissenschaftlern menschlich.
Oskar Negt: Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform. Steidl Verlag, Göttingen. 585 S., € geb., 29 €.
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