Die Republik der Atomkraftgegner

Mahnwachen, Demonstrationen, Unterschriftensammlungen – die Anti-AKW-Bewegung will nicht lockerlassen und den Ausstieg erzwingen

Bei Mahnwachen in ganz Deutschland haben mehr als 100 000 Atomkraftgegner am Montagabend ein Ende der Kernenergie gefordert. In 450 Städten fanden Demonstrationen statt. Und so soll es auch in den nächsten Tagen und Wochen weitergehen. Eine vorübergehende Stilllegung reicht den Kritikern nicht.
Eigentlich sollte es nur eine halbstündige Mahnwache werden. Ein Zeichen, dass die Chemnitzer Anteil nehmen am Leid der Menschen in Japan, die von der schlimmsten Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg heimgesucht wurden. Erst wenige Stunden zuvor hatte die Grüne Steffi Zaumseil dazu aufgerufen. Die Stadt im Westen von Sachsen ist nicht gerade als Anti-Atom-Zentrale bekannt. Aber am Montagabend finden sich hier spontan 300 Menschen auf dem Rathausplatz ein. Kerzen werden angezündet, einige tragen weiße Armbinden – weiß steht in der japanischen Kultur für Trauer und Tod. Manche verbinden persönliche Erfahrungen mit Japan, wie Helga Katschner, deren Sohn vor einigen Monaten genau in der Region unterwegs war, die es nun am schlimmsten getroffen hat. Oder die Rentnerin Erna Ziegler, die schon vor über 60 Jahren nach dem Atombombenabwurf auf die japanische Stadt Hiroshima mit ihrer Mutter Unterschriften gegen Atomwaffen gesammelt hat. Und Kathrin Weber schüttelt den Kopf: »Es ist erst wieder ein Anlass nötig gewesen, damit viele zum Nachdenken gebracht werden.«

Auch wenn die direkte Gefahr viele tausend Kilometer entfernt ist und es in ganz Ostdeutschland kein einziges Atomkraftwerk gibt, ist auch in Chemnitz die häufigste Forderung, dass man schnellstmöglich aus der Atomkraft aussteigen müsse. Denn schnell wurde am Montag klar: Mit stiller Trauer allein ist es nicht getan. Das Mitteilungsbedürfnis ist groß und neben dem Mitgefühl für die Opfer herrscht auch Wut über das Versagen der Politik. »Schwarz-Gelb abschalten« ist auf Schildern zu lesen.

Unbehagen und Wut trieben am Montag im gesamten Bundesgebiet Zehntausende auf die Straße. In Sylt und Aalen, in Meppen, Riesa und Würzburg hieß es: »Fukushima ist überall – Atomausstieg jetzt!« Noch nie in der Geschichte der Anti-AKW-Bewegung hätten so viele Menschen an so kurzfristig angesetzten Demonstrationen teilgenommen, sagt Jochen Stay von der Anti-Atom-Organisation »ausgestrahlt«. Einen Appell an Bundeskanzlerin Angela Merkel für die endgültige Abschaltung der AKW hatten am Dienstag weit über 100 000 Menschen unterzeichnet. Er soll nun in großformatigen Anzeigen in Tageszeitungen veröffentlicht werden.

Der atomare Notstand in Japan setzt in Deutschland einiges in Bewegung. Student Maximilian, der am Montag an der Chemnitzer Mahnwache teilnimmt, ist überzeugt: »Bei den anstehenden Wahlen wird das Folgen haben.« Der 24-Jährige kommt ursprünglich aus Baden-Württemberg, wo vier der 17 deutschen Atommeiler stehen und wo der Ministerpräsident bis vor Kurzem zu den größten Anhängern der Atomkraft innerhalb der Union gehörte. Selbst wenn Stefan Mappus jetzt einen Schwenk vollzieht, werde ihn das nicht retten, glaubt der Student.

Die enorme Resonanz beweist einmal mehr, wie verbreitet die Kritik an der Atomkraft ist. »Wir haben seit Jahrzehnten vor den Gefahren der Atomkraft gewarnt«, sagt der Chemnitzer Josef Lutz, Professor an der Technischen Universität und Verfechter der regenerativen Energien. Besonders schockiert ist er von den Beschwichtigungsversuchen der Atomindustrie, während gleichzeitig in Japan hunderte Ingenieure unter Einsatz ihres Lebens versuchen, das Allerschlimmste zu verhindern.

Der Montag war nur der Auftakt für die Proteste gegen den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke in Deutschland. Die AKW-Gegner wollen sich vom angekündigten Moratorium nicht einlullen lassen: »Es ist eine Wählertäuschung ohnegleichen, jetzt radikale Entscheidungen vorzuspielen und dann nach den Wahlen doch alles beim Alten lassen zu können«, kritisiert »ausgestrahlt«-Sprecher Jochen Stay die dreimonatige Abschaltung von sieben Meilern. Die Atomkraftwerke müssten noch vor den Landtagswahlen endgültig stillgelegt werden. Alles andere sei »unglaubwürdig«.

Für die nächsten Tage und Wochen sind weitere regionale und überregionale Demonstrationen und Aktionen angekündigt. Der nächste Höhepunkt ist für den 26. März geplant. Dann soll es in drei bis fünf Großstädten in allen Teilen der Republik, darunter Berlin, Hamburg und Köln, Großdemonstrationen geben. Für den 9. April ist ein weiterer dezentraler Aktionstag angesetzt. Und am Ostermontag, dem 25. April, werden anlässlich des 25. Jahrestags der Tschernobyl-Katastrophe an 13 Atomkraftwerken und Atommüllstandorten Großdemonstrationen veranstaltet.

Überall laufen derzeit weitere Aktionen an. In Bayern sammeln die Grünen bis zum Tschernobyl-Jahrestag Unterschriften für die Abschaltung der fünf bayerischen Atomkraftwerke, anderswo verteilen die LINKEN praktische Tipps für den Wechsel zu einem Ökostromanbieter. Am kommenden Montag soll es in großen und kleinen Orten der Republik erneut Mahnwachen geben.

Auch in Chemnitz. »Ich hoffe, es werden in nächster Zeit noch mehr Menschen protestieren«, wünschte sich Umweltaktivist und Kleinkünstler Peter Krauß dort am Montag eine ähnlich starke Anti-Atom-Bewegung wie in den 80er Jahren in Westdeutschland. Eine Nacht später ist im Zusammenhang mit vier Atomkraftwerken von einer endgültigen Stilllegung die Rede. Die Anti-Atom-Bewegung wird nicht lockerlassen. Auf der Internetseite von »ausgestrahlt« füllt sich die deutsche Landkarte schon wieder mit blauen Fähnchen. Sie markieren die nächsten Montagsaktionen.

Der Protest im Netz:
www.ausgestrahlt.de
www.campact.de
www.greenpeace.de

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