Befleckte Familienchronik
Der Krieg im Osten im Gedächtnis der Deutschen
Man hört ihm gern zu, respektvoll. Reinhard Rürup, emeritierter Professor der TU Berlin, ist es vor allem zu danken, dass es in den 90er Jahren in der Bundesrepublik eine breite Debatte über den Weltanschauungs-, Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion gab und endlich auch der 27 Millionen sowjetischen Opfer gedacht wurde. Ohne ihn hätte es letztlich nicht die Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« gegeben, nicht die Topographie des Terrors in Berlin und nicht die neue Exposition am Kapitulationsort Karlshorst.
Es begann mit der Eröffnung der dokumentarischen Anklage »Krieg gegen die Sowjetunion« am 15. Juni 1991 im provisorischen Gebäude der Topographie. »Alle großen Zeitungen berichteten«, erinnerte sich Rürup am Dienstagabend auf einer Veranstaltung im nun nicht mehr provisorischen Domizil an historischer Stätte – da, wo die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einvernehmlich mit dem Oberkommando der Wehrmacht und der SS, geplant worden sind. Die 1991er Ausstellung wurde auch in der Sowjetunion, respektive Russland gezeigt und dort von 1,5 Millionen Menschen besucht. Auch dort seien die Historiker sich bewusst geworden, so Rürup, dass man den Krieg nicht mehr wie ein Heroengemälde nachzeichnen könne, bei dem die Opfer und Leiden marginal blieben.
Durch jene Ausstellung, ergänzte Peter Jahn, Leiter des Deutsch-Russischen Museums von 1995 bis 2006, wurde das vorherrschende Bild vom revanchistischen Westdeutschland aufgebrochen. Man sah, diese Deutschen reflektieren blutige Partisanenbekämpfung, die Blockade Leningrads und das Leiden der Zwangsarbeiter. »Mit der deutschen Vereinigung war ein Zeitfenster geöffnet, das wir nutzten.« Bevor mit dem Streit um Beutekunst die Beziehungen wieder abkühlten, hat eine russisch-deutsche Kommission mit der Konzipierung einer neuen Ausstellung im einstigen Offizierskasino von Karlshorst begonnen, wo sich seit 1967 die Heldensaga vom »Sturm auf Berlin« befand. »Das neue Museum ist ein Unikat, es ist das einzige weltweit, in der einstige Gegner gemeinsam einen Krieg erinnern«.
Peter Klein vom Hamburger Institut für Sozialforschung würdigte die zwei, von Hunderttausenden besuchten Wehrmachtausstellungen (1995-1999, 2001-2004), die das völkerrechtswidrige Vorgehen deutscher Soldaten enthüllten, verlogene Landserromantik widerlegten und die Mär der Generäle von der »sauberen« Wehrmacht zerstörten. »Die Wehrmacht war ein williges Organ des rasseideologischen Vernichtungskrieges«, so Klein. 17 Millionen Deutsche waren Angehörige der Wehrmacht, neun bis zehn Millionen standen an der Ostfront. Ergo war keine deutsche Familie ausgespart. »Die Kriegsverbrechen fanden Eingang in die Familienchronik«, so Klein. Das auf Grund des großen öffentlichen Interesses nun am Institut für Zeitgeschichte München aufgenommene Forschungsprojekt »Die Wehrmacht in der NS-Diktatur« stellte als ein daran Beteiligter Christian Hartmann vor.
Warum aber hat es Jahrzehnte gebraucht, ehe all das angegangen wurde? Jahn gestand für die westdeutsche Zunft: »Wir haben uns lange gedrückt, uns ausgeschwiegen, was von Deutschen Millionen Menschen in Polen, in der Sowjetunion und auf dem Balkan angetan worden ist.« Und meinte sodann: »So viel ist da in der DDR ganz gewiss auch nicht passiert.« Dies erfuhr Widerspruch aus dem Publikum. Verwiesen wurde beispielhaft auf die Forschungen von Eva Seeber und Dietrich Eichholtz zu Zwangsarbeit. Zudem: In der DDR wurden Simonow und Jewtuschenko gelesen, Und es gab eine große Empathie für die Opfer der Sowjetunion und der Polen.
Während Hartmann nun westdeutsches Manko mit selektiver sowjetischer Geschichts- und Archivpolitik entschuldigte, die Westforschern Akten vorenthielt, so beharrte Jahn auf dem Verdikt: »Die DDR hat nie andere Akzente gesetzt als die Sowjetunion. Wenn das Los der Kriegsgefangenen oder Juden Tabu war, folgte man dem.« Er wiederholte: »Da war nicht viel.« Hier nun griff beherzt Rürup ein und konzedierte: »In der Tat haben die DDR-Forscher eine Menge Quelleneditionen und Monografien zum Krieg im Osten veröffentlicht. Deshalb haben wir sie 1991 auch einbezogen.« – 1991. Das ist 20 Jahre her. Wie steht's heute um deutsche Kollegialität? Auch an diesem Abend saß im Podium kein Vertreter der Ostzunft.
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