Straschno bylo. Es war schrecklich.
Nach dem Schweigen – Angehörige von Stalinopfern und Historiker suchen nach Erklärungen für den Großen Terror
Warum begann der Große Terror 1937? Die dafür als Vorwand dienende Ermordung des Leningrader Parteisekretärs Sergei Mironowitsch Kirow lag drei Jahre zurück. Über die Hintergründe des Attentats auf den populären Bolschewik am 1. Dezember 1934 wird nach wie vor spekuliert. Warum ausgerechnet das Jahr 1937? Eine interessante These bot jüngst Anatolij Razumov aus St. Petersburg: Der 20. Jahrestag der »Großen Sozialistischen Oktoberrevolution« und der Abschluss des zweiten Fünfjahr-Planes standen an. Im Dezember 1936 war die neue Verfassung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verabschiedet worden, im darauffolgenden Jahr sollte es Wahlen geben. Das Land sollte bis dahin von den »Muttermalen der alten Gesellschaft« befreit sein.
Die Partei- und Staatsführung entfachte eine massive Kampagne zur Entlarvung von »Konterrevolutionären« und »Volksschädlingen«. Entsprechend eines am 5. August 1936 ergangenen Befehls, so Razumov vom Verein »Wiedergegebene Namen«, waren alle Betriebe und Institutionen aufgerufen, Listen »verdächtiger« Personen zu erstellen. Die vorgegebenen »Planziffern« wurden übererfüllt. Innerhalb eines Jahres seien allein in Leningrad und Umgebung 40 000 Menschen wegen angeblicher Spionage, Sabotage oder Diversantentätigkeit erschossen worden, darunter ausländische Facharbeiter, sagte der Herausgeber des Gedenkbuches »Leningrader Martyrolog« auf einer Tagung im Berliner Haus der Demokratie.
Razumow hat Dokumente mitgebracht, darunter die Liste Nr. 1 der »Germanskaja Operazija«. Die sogenannte Deutsche Operation sei die erste nationale Verfolgungsaktion gewesen. Am Vorabend der Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution, am 5. November 1937, sind hundert Deutsche erschossen worden. Eine deutsche »Verschwörergruppe«, vom Direktor bis zum Kraftfahrer, wurde 1936/37 auch in der Bibliothek, in der Razumov heute arbeitet, »aufgedeckt«.
Es war schwer zu ertragen, was der russische Wissenschaftler an grausigen Details enthüllte. In Petrosawodsk beispielsweise wurden 55 Menschen in einem Wald mit dem Beil erschlagen, um Munition zu sparen. Es seien auch Fälle bekannt, dass zum Tode Verurteilte bereits während der Fahrt zum Exekutionsort durch in die Lkws eingelassene Gase umgebracht wurden. In den Massengräbern von Butowo bei Moskau fanden sich Indizien, die darauf deuten, dass Menschen lebendig begraben wurden. »Straschno bylo« - »es war schrecklich« -, stöhnte der Forscher, der täglich mit dem Grauen befasst ist.
»Nach dem Schweigen« war die zweitägige Konferenz des Vereins Helle Panke und des Berliner VVN-BdA getitelt. Sie begann mit der Vorführung des Films »Im Schatten des Gulag - als Deutsche unter Stalin geboren« (Annette Leo/Loretta Walz), in dem acht Töchter und Söhne deutscher Emigranten über ihre Erfahrungen berichten, und sie endete mit der russischen Produktion »Und die Kiefern neigen sich über die Gräber. Als wären es die Seelen der Toten« (Witali Posdnjakow).
Anja Schindler, deren Großmutter und Onkel 1938 erschossen wurden (s. ND v. 22./23.10.), berichtete emotional berührend über das Schicksal einer Jugendfreundschaft, zwischen drei Söhnen deutscher Emigranten und dem Sohn des russischen Heizers in der Detskaja uliza Nr. 3 in Leningrad, die durch die mörderischen Jahre 1937/38 und 1941 auseinandergerissen worden sind; nur einer der vier überlebte. Gerd Kaiser zeigte am Beispiel von drei Familien aus Thüringen, die Anfang der 30er Jahre in die Sowjetunion übersiedelten und dort in die Mühlen des Repressionsapparats gerieten, wie unterschiedlich Leiderfahrungen verarbeitet wurden; nur einer der Suhler Metallarbeiter, die ihre Kraft dem Aufbau des »Vaterlands aller Werktätigen« widmen wollten, hatte den Mut, in der DDR in einem Fragebogen seine Lagerhaft zu vermerken und obendrein seine Unschuld zu beteuern. Aus eben diesem Grunde, jahrzehntelangem Tabuisieren, mahnte Wilfriede Otto eine systemische Analyse der Periode an, die verkürzt unter dem Begriff Stalinismus gefasst werde.
In der russischen Historikerzunft, so Alexander Vatlin, gebe es heute die Meinung, die »alten Geschichten« ruhen zu lassen: es sei alles gesagt und geschrieben, weitere Aktenenthüllungen würden nichts Neues bringen. Der Dozent an der Lomonossow-Universität Moskau ist vom Gegenteil überzeugt. Er verwies zudem darauf, wie wichtig es für alle Nachfahren sei, endlich zu erfahren, was ihren Familienangehörigen vorgeworfen wurde und durch welche Hölle sie gehen mussten. Deren Bedürfnis nach einem Ort der Trauer, ob an Stätten der Exekution oder der Lagerhaft, sei zu respektieren und zu realisieren. Vatlin berichtete sodann über seine deutsche Datenbank. Er erforschte die Schicksale von 720 Politemigranten, die demnächst in einem russischen Verlag veröffentlicht werden. Eine Übersetzung würde er für einen interessierten deutschen Verlag gern besorgen, verriet Vatlin im Gespräch mit ND.
Carola Tischler rekapitulierte die Arbeit am 1991 erschienenen, von einer Arbeitsgruppe des Berliner Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung (vormals IML) erstellten Lexikon »In den Fängen des NKWD. Deutsche Opfer des stalinistischen Terrors«, deren Fortsetzung, Aktualisierung und Konkretisierung überfällig ist. Eine Bilanz der Forschungen des erst zwei Jahre jungen »Arbeitskreises zum Gedenken an die in der sowjetischen Emigration verfolgten, deportierten und ermordeten deutschen Antifaschisten« beim Berliner VVN-BdA zog Wladislaw Hedeler. Bisher seien die Namen von 2954 deutschen Frauen, Männern und Jugendlichen ermittelt, die erschossen, zu Gulag, Zwangsarbeit, Verbannung oder Ausweisung ins faschistische Deutschland verurteilt wurden.
Beunruhigt zeigte sich Hedeler über eine nicht nur von ihm in der Linkspartei ausgemachte Tendenz, sich der Aufarbeitung und Erinnerung Stalinscher Verbrechen mit dem Scheinargument der »Rückwärtsgewandtheit« nicht mehr so engagiert und ernsthaft wie bisher befassen zu wollen. Der Sohn eines Verbannten unterstützte den Vorschlag des Arbeitskreises, eine Gedenktafel am Berliner Karl-Liebknecht-Haus, am Sitz des Parteivorstandes der LINKEN, anzubringen. Wie deren Inschrift lauten könnte, trug Inge Münz-Koenen vor: »Ehrendes Gedenken an Tausende deutsche Kommunisten und Antifaschisten, die in der Sowjetunion zwischen den 1930er und 1950er Jahren willkürlich verfolgt, entrechtet, in Straflager deportiert und ermordet wurden.«
Ende 2010 habe man den Antrag gestellt. »Seitdem ist nichts geschehen«, bedauerte Inge Münz-Koenen, die gleich anderen Nachfahren von Stalin-Opfern sich nicht mit dem »nichtssagenden« Gedenkstein auf dem Sozialistenfriedhof in Berlin-Friedrichsfelde identifizieren kann. Dessen Aufstellung als einen damals notwendigen Akt zu verteidigen, bemühte sich Jürgen Hofmann, Sprecher der Historischen Kommission beim Parteivorstand der LINKEN sowie Vorstandsmitglied des Förderkreises der Sozialistengedenkstätte. Er fand wenig Gehör bei den Kindern und Enkeln der ermordeten Kommunisten, die nicht nur des lange verordneten Schweigens überdrüssig sind, sondern auch selbstbewusst ihre (durchaus konträre) Sicht auf die Schreckenszeit artikulieren wollen.
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