Neugier aufs Leben

Hans-Dieter Schütt hat die nd-Redaktion verlassen - und bleibt uns erhalten

Über Angela Merkel wird gern geschrieben, wenn es um ihre Stärken geht: Sie sei in der Lage, die Dinge vom Ende her zu betrachten. Das ist - von allem anderen, was über Merkel zu sagen wäre, abgesehen - nicht das Schlechteste. Es bedeutet, aus dem Politwahrsagerischen übersetzt: Egal, was zwischendurch läuft, am Ende muss die Rechnung stimmen, das Ziel erreicht sein. Um ein Ende geht es auch hier; man darf durchaus sagen: um ein gelingendes, ein gelungenes Ende. Ein Berufsleben vollendet sich, zumindest nach der Form des Arbeitsvertrags, das ganz und gar nicht gewöhnlich zu nennen ist. Hans-Dieter Schütt ist seit Beginn dieses Jahres Rentner.

Mit Merkel verglichen zu werden - das darf, ja muss man für gewagt halten. Wer aber Schütt-Texte kennt, ist durch ganz andere Volten abgehärtet. Da bleibt er seiner Biografie treu, die alles Mögliche sein mag, nur nicht durchschnittlich. Ein Ausnahmejournalist, ein Überzeugungstäter, ein Mann, der voller Begeisterung polarisiert und ein wenig spät zu seiner Bestimmung fand. Immerhin tröstlich: Er fand sie.

Schütt, Jahrgang 1948, ist ein Kind der DDR. Journalist bei der FDJ-Zeitung »Junge Welt«, zunächst zuständig für Theater und Film, Kommunist, Journalist, Agitator, Propagandist, Ideologe. Chefredakteur in vergleichsweise jungen Jahren. Ein Berserker der Sprache und der Meinung, ein fantasiebegabtes Pendant zum verbreiteten Verlautbarungsjournalismus. Im Herbst 1989 dann die Wende. Für Hans-Dieter Schütt ein Absturz; zu seinem Glück nicht zu spät. Die Chance zum Neuanfang.

16 Jahre als Parteijournalist bis 1989, über 20 Jahre als linker, von seinem Gewissen getriebener Journalist und Publizist seitdem - ein Leben in zwei sehr unterschiedlichen Hälften. Mit einer Triebfeder: einem ungebremsten, schier unbremsbaren Mitteilungsdrang. Im Herbst '89 verließ Schütt, dem der Umsturz der Verhältnisse wohl eine ebenso endlose wie ernüchternde Funktionärskarriere ersparte, die »Junge Welt«. Er wusste, dass seine Zeit dort abgelaufen war und versuchte gar nicht erst, sich als Mann der Wende zu inszenieren. Er probierte dies und jenes und landete schließlich beim »neuen deutschland«. Was früher folgerichtige Kaderpolitik gewesen wäre, war nun ein durchaus nicht selbstverständliches Zeichen von Courage, Selbstbehauptung, auch Schuldbewusstsein.

Eines Tages Anfang der 90er war er da und blieb. Was für ein Gewinn, was aber auch für eine Herausforderung für diese Zeitung und ihre Leser. Ein exzellenter Kenner von Lyrik und Prosa, von Film und Theater war da zu uns gekommen, der im DDR-Fernsehen sogar mal eine Kinosendung moderiert hatte. Ein Theatersüchtiger, der Dramaturgie und Theaterwissenschaften studiert hatte, bevor er ins ideologische Fach wechselte. Vielleicht rührt daher der Hang zur großen Geste - ob er eine Zeitungsseite baut, eine Inszenierung beschreibt, politische Debatten reflektiert: Immer die Suche nach dem ungewohnten Blick, dem Widerhaken im Bild oder im Satz.

Für viele: ein Lesegenuss. Für manchen: eine Überforderung. Aufregend, streitbar, anmaßend zuweilen in seinen Gedankenbögen, nachdenklich, zweifelnd. Und immer wieder: selbstkritisch. Selbstkritisch bis aufs Herzblut. Das rote Banner der historischen Siegesgewissheit hat er vor gut 20 Jahren abgelegt; für manchen, dem seine Rigorosität zu weit geht, ist er nun selbst ein rotes Tuch.

Sei's drum, da muss er durch. Der Leser. Sagt Schütt. Es muss weh tun, aber nicht alle ertragen das. Einer wie er, der ganz vorn stand an den Lautsprechern der Systemkonfrontation, hat viel aufzuarbeiten. Er tat und tut es mit erstaunlicher, manchmal beängstigender Konsequenz; in zahllosen nd-Artikeln und noch radikaler in seinen autobiografischen Überlegungen »Glücklich beschädigt: Republikflucht nach dem Ende der DDR«. Er exerziert, was vormals nicht seinesgleichen, unseresgleichen, schon gar nicht dieser Zeitung in den Sinn gekommen wäre, als sie noch Zentralorgan war: sich selbst ernsthaft in Frage zu stellen.

So erarbeitete er sich den Respekt von Leuten, die ihn einst - genau wie er sie - als Feind erachtet hatten. Die Leser lieben ihn dafür, andere hassen ihn; sie schreiben ihm lange Briefe, die er akribisch beantwortet: handschriftlich, auf Postkarten, und wenn eine Karte nicht ausreicht, dann auf mehreren. In seiner Stammkneipe hat er damit viele Stunden zugebracht.

Schütt diskutiert mit den Lesern, er sucht das offene Gespräch. Wie auch in seinen berühmten Interviews, die sich oft zu Büchern auswuchsen: Gedankengefechte auf Augenhöhe, auf die er manchen Befragten erst zieht und aus denen nicht nur die Leser etwas übers Leben lernen, sondern zuweilen die Interviewten etwas über sich selbst. Aufklärerische, anrührende Gespräche, die ganze Buchregale füllen: Friedrich Schorlemmer und Regine Hildebrandt, Markus Wolf und Klaus Renft, Gerhard Gundermann und Thomas Langhoff, Sahra Wagenknecht und Bodo Ramelow, Ursula Karusseit und Alfred Hrdlicka, Kurt Böwe und Hans Modrow ...

Fragen stellen - das ist wohl Schütts Lieblingspose. Er habe, sagte er in den 90ern, als er mit sich und seiner DDR-Geschichte noch längst nicht fertig war, keine Antworten mehr, nur noch Fragen. Das war natürlich eine kokette Untertreibung. Die Fragen sind ja oft Vorschläge zum Nachdenken, und Antworten hatte und hat er bis heute. Nur dass sie nicht mehr mit »Ja« oder »Nein« beginnen, sondern mit »Ja, aber« oder »Nein, aber«. Die Scheuklappen hat er weggeworfen, die Richtlinien verlassen - linke Gesinnung auf Spuren- und Zukunftssuche.

Geblieben ist eine ausgreifende Formulierungswut, die weder vorm gemeinen Kalauer zurückschreckt noch vor der großen Metaphernsense. Geblieben ist auch eine beinah enzyklopädische Kenntnis der Theaterszene, die Fähigkeit, mit wenigen Sätzen seelengenaue Porträts von Künstlern hinzuwerfen. Gewachsen ist die Neugier auf Menschen, auf Ansichten, Erfahrungen, Gedanken - auf das Leben.

Vom Ende her betrachtet ist Hans-Dieter Schütt ein Wendegewinner, ganz zweifellos. Diejenigen, die er einst mit Argumenten bekämpfte, die sich als die schwächeren erwiesen, haben ihn aus der Burg gestoßen, die er freiwillig nicht verlassen hätte. Hinein in die Freiheit des Denkens. Ihn wie auch das »neue deutschland«. Aber was heißt hier Ende? Es geht ja weiter. Nur weil einer in den Rentenbezug wechselt, wird er ja nicht untätig.

Was müsste eine Zeitung tun, um einen Autor wie Hans-Dieter Schütt zu halten? Eigentlich nicht viel. Sie müsste ihn ab und zu ins Theater schicken und ihm ein paar Spalten freihalten. Mehr nicht.

Das sollte sich machen lassen. Er kann ja auch gar nicht anders.

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