Armer August
Was würde Bebel dazu sagen? - Dies fragten sich SPD-Politiker, Wissenschaftler und Schriftsteller
Ja, was würde wohl der »Arbeiterkaiser« zum Zustand der SPD heute sagen? Nix. Weil es ihm die Sprache verschlüge. Oder er würde in einen Weinkrampf ausbrechen. Seine stolze Partei, die er durch die harten Zeiten des Bismarckschen »Sozialistengesetzes« geschickt manövriert und gestärkt herausgeführt hat, ist zum Bittsteller und Befehlsempfänger mutiert. Armer August.
Obwohl die Antwort eigentlich offenkundig ist, hat sich doch eine illustre Schar prominenter Namen (35) der explizit im 150. Jahr der SPD gestellten Frage angenommen: Vertreter der alten und neuen SPD-Führungsriege, Gewerkschafter, Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten. Manfred Bissinger hat ein klassisches Vorwort verfasst, das die Kernaussagen der Autoren bündelt. Eilige Zeitgenossen sind damit schon mal gut bedient. Es lohnt indes darüber hinaus die Lektüre, nicht aller, aber doch vieler der hier in roten Leinen eingefassten Essays.
Egon Bahr eröffnet den Reigen, knurrig: »Was Bebel gesagt hätte, weiß ich nicht.« Um sich sodann zu erinnern: »Außer Willy Brandt kenne ich keinen Menschen, der von sich gesagt hat: ›Ich bin weiter gekommen als Bebel.‹« Für den Architekten der Neuen Ostpolitik wichtig und bewahrenswert ist der konsequente Antimilitarismus von Bebel und Brandt. Letzterer, im Jahr geboren, in dem Bebel starb (1913), hatte früh gewarnt: »Frieden ist nicht Alles, aber ohne Frieden ist Alles nichts.« Auch Günter Wallraff wünscht sich von der SPD entschiedenere Kriegsgegnerschaft. Die Partei habe die Kriegskreditbewilligung 1914, ein Jahr nach Bebels Tod, noch immer nicht aufgearbeitet. »Friede den Hütten! Krieg den prekären Verhältnissen!« fordert der Reporter. Und »Mehr Mut wagen«, den Kampf ansagen der nahezu feudalistischen Übermacht des Kapitals und der schrankenlosen Ausbeutung.
Sozialphilosoph Oskar Negt (der vor Wallraff als Erster mit dem August-Bebel-Preis der SPD ausgezeichnet wurde) beklagt, die Sozialdemokratie mache immer weniger von der identitätsstiftenden Kraft ihrer Geschichte Gebrauch. In Bebel erkennt er die Inkarnation sozialdemokratischen Charakters: eine beharrliche Unruhe, die Welt mit Mitteln zu verändern, die dem guten Willen nicht widersprechen. Den »guten Willen« definiert Negt nach Kant (»Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«).
Spannend wird es beim Interview, dass Bissinger mit Günter Grass führte. Nicht nur, weil der Literaturnobelpreisträger der SPD vorhält, nicht zu erkennen, dass »wir eine soziale Situation, nicht nur in Deutschland, sondern insgesamt haben, die längst die Stunde der Sozialdemokratie hätte werden müssen«. Grass äußert sich auch ungeniert zu möglichen Koalitionsgesprächen mit der LINKEN: »Gegen die ist nichts einzuwenden.« Es sei im Interesse beider Parteien, sich einander anzunähern. Als ein Hemmnis hierfür sieht er indes, wie nicht wenige Sozialdemokraten, den »Verräter« Oskar Lafontaine. An zweiter Stelle nennt ausgerechnet der Autor des Antikriegsroman »Die Blechtrommel« die Position der Linkspartei zur NATO. Schließlich und enttäuschend bedient dann sogar Grass die alte Leier: »Ich habe Zweifel, ob die Linke schon in der Lage ist, Regierungsverantwortung im Bund zu übernehmen.« So spricht man über ein unmündiges Kind.
Juso-Bundesvorsitzender Sascha Vogt scheint sich bewusst zu sein, dass Bebel den Bruch mit dem Marxismus in Godesberg (1959) wohl eher als Sündenfall denn Notwendigkeit betrachtet hätte. Die Eigentumsfrage diskutiert Daniela Dahn. Aufschlussreich ihre Bobachtung, bei Eingabe der Worte Bebel und Eigentum würden umgehend diverse Zwangsversteigerungen in August-Bebel-Straßen (mehrheitlich in Ostdeutschland) angeboten.
Zufällig fiel mir jüngst eine bibliophile Ausgabe von Bebels Schrift »Unsere Ziele« (1870) in die Hände. Sie hatte bewirkt, dass die Partei sich auf ihr Banner die Losung schrieb: »Expropriation der Expropriateure!« Was fällt den Genossen heute eigentlich dazu ein?
Manfred Bissinger/Wolfgang Thierse (Hg.): Was würde Bebel dazu sagen? Zur aktuellen Lage der Sozialdemokratie. Steidl Verlag. 493 S., geb., 24 €.
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