Das Leben eines Schwarzkäfers
Roland Eckardt komponierte Hits für Schlagerstars wie Gaby Albrecht und Stefanie Hertel. Nach der Wende war sein Können nicht mehr gefragt. Vor zehn Jahren entschloss er sich, ins Rotlichtmilieu einzusteigen.
Roland Eckardt will auf alles vorbereitet sein. Keiner soll ihm was können nächstes Jahr im Juli, wenn das Prostituiertenschutzgesetz in Kraft tritt. Jeden einzelnen Paragrafen wird er durchgegangen sein und sich abgesichert haben. Das Gesetz, am 7. Juli vom Bundestag verabschiedet, liegt ausgedruckt neben seinem Bett, 118 Seiten. »Nachtlektüre«, sagt er. Eckardt ist Bordellbesitzer, vermietet in Thüringen fünf Zimmer in zwei Etablissements an SexarbeiterInnen. Die meisten Gedanken macht er sich gerade um die Kondompflicht und dass Freiern und Prostituierten getrennte Toiletten zur Verfügung stehen müssen. Im Gesetz steht, dass die Intimsphäre der SexarbeiterInnen besonderen Schutz braucht. »Intimsphäre?«, prustet es aus Eckardt heraus. »Ich soll für separate Toiletten sorgen und zwei Minuten später sind die Finger und der Mund da, wo die Intimsphäre am sensibelsten ist. Das ist doch absurd.« Das Gesetz, in der Branche hauptsächlich wegen der Anmeldepflicht für Prostituierte umstritten, verlangt Eckardts Rechtsverständnis alles ab. Zur Not will er für die Freier Dixi-Toiletten anschaffen und sie in den Garten stellen, dazu eine Waschschüssel. Frauen, die bei ihm ein Zimmer mieten, haben meist ihre eigenen Bäder. Die Alarmanlagen, die im nächsten Jahr in jedem Raum Pflicht sind, werden ihn 3000 bis 4000 Euro kosten. Angebote hat er schon eingeholt. Mit jeder Seite, die er im Gesetz liest, wird der Mietvertrag, den er den SexarbeiterInnen vorlegt, länger. Zu jedem Paragrafen sucht er Präzedenzfälle im Internet, schreibt dann eine Formulierung in den Vertrag, die ihn absichern soll. Als Kind wollte er Rechtsanwalt werden, einer von der Sorte »Winkeladvokat«, sagt er.
Eckardt ist, vielmehr war, der Rotlichtkönig von Jena. Drei Bordelle gehörten ihm einst in der Universitätsstadt mit ihren 110 000 Einwohnern. Als seine Mutter pflegebedürftig wurde und seine Frau an Krebs erkrankte, er selbst einen Burn-out bekam, entschloss er sich, eines seiner Häuser aufzugeben. Eckardt betreibt keine Bordelle, wie man sie aus Spiegel-TV-Reportagen kennt. Es gibt keine Granitskulpturen römischer Götter, keine Bar mit Schwarzlicht und keinen dauerblubbernden Jacuzzi. Eckardt vermietet Zimmer, die wohl spartanisch genannt werden müssen. Darin ein Futonbett, Frotteebettwäsche in Mädchenfarben (pink oder lila), ein Safe und ein Fernseher, eingebaut in eine Eiche-Furnier-Schrankwand. Die Fenster sind verdunkelt, Deckenlicht gibt es keins. In einem Raum ist ein schwarzes Holzkreuz mit Hand- und Fußfesseln an die Wand gedübelt. Das Business führt er seit einer Weile nicht mehr, hat es an einen anderen übertragen, aber er sieht sich noch als graue Eminenz im Hintergrund. Die Anmeldung »der Mädchen« zum Beispiel macht er noch selbst.
Heute will er mit vier Frauen Mietverträge ausfüllen. Eckardt redet sich seit über 15 Minuten über fehlende Durchführungsbestimmungen zum Prostituiertenschutzgesetz und Umsatzsteuer-Klein-Klein in Rage. Die Frau, die ihm gegenüber an einem Tisch sitzt, guckt gar nicht erst hoch. Sie trägt einen pinken Flanellbademantel, aus dem unten zwei dünne Beine mit grell lackierten Fußnägeln rausschauen. Ihr Make-up hat das freundliche Gesicht mit den hohen Wangenknochen einbetoniert. Keine Chance, ihr Alter zu schätzen. Sie tippt gelangweilt auf ihrem Smartphone herum, weil sie kein Wort von Eckardts Tirade versteht. Alle paar Sekunden flitzt ein grüner oder gelber Fleck aus einer Mini-Lichtanlage über ihr Gesicht und den Bademantel. Auf dem Bett liegt ein junger Typ, kein Freier, sondern eine Art Aufpasser, der sich von Eckardt und dem Mädchen abgewandt, Musikvideos auf seinem Handy ansieht. Meistens sind es die Freunde der Frauen, sagt Eckardt. Zuhälter seien die nicht. Erst, als Eckardt »familia?« sagt, guckt die Frau hoch. Eckardt schiebt ihr den fünfseitigen Gewerbemietvertrag auf deutsch über den Tisch und fragt, wie es läuft. Am Ende der Woche will er 385 Euro Miete für das Zimmer von ihr. Es geht ganz gut, sagt sie. Sie wird zahlen können. Vor einer halben Stunde saß Eckardt noch in seinem anderen Etablissement mit zwei Ungarinnen zusammen. Die beiden haben in der ganzen Woche bisher nur einen Freier gehabt. Eckardt wird auf seiner Miete sitzen bleiben. 50 Euro kostet die halbe Stunde in Jena, für weniger arbeitet keine. Miete, Annoncen in Internetforen, das alles zahlen sie aus eigener Tasche. Ein Aufpasser, der auch hier dabei ist, erzählt, dass er in Eisenach vor einer Woche von einem Freier angegriffen wurde, der nicht bezahlen wollte, weil er keinen Orgasmus hatte. »Ich habe gesagt, egal. Er soll abhauen oder noch mal bezahlen.« Dann ist der mit einer Vase auf ihn losgegangen. Er hält sich den Kopf und zeigt auf die Stelle, wo er getroffen wurde. Eckardt, der mit Aktentasche in Marmoroptik, gemustertem Hemd und Filzhut aufschlägt und aussieht wie Udo Lindenberg, der einen Steuerberater spielt, hört sich die Geschichte an, ist aber wenig beeindruckt. Er bleibt freundlich, sagt ruhig aber bestimmt, dass sie morgen ausziehen sollen.
Das Geschäft läuft nicht mehr gut, seit in der Gegend kaum noch gebaut wird. Flüchtlinge würden momentan einige kommen, aber so gut wie Anfang der Nullerjahre läuft es längst nicht, da machte ein »gutes Mädchen« auch mal 3000 Euro in der Woche, sagt Eckardt. »Das Krisengejammere schlägt sich auch bei uns durch.« Außerdem sei der Sommer viel zu heiß gewesen, da hätte niemand Lust auf Sex gehabt.
Eckardt rangiert im zweiten Versuch seinen in die Jahre gekommenen Ford Kombi in die Parklücke, die er erst nach 20-minütiger Rotation gefunden hat. Er hasst einparken und bei seinem Steuerberater, dem er noch Kontoauszüge und sein Kassenbuch schuldig ist, sind die Parkplätze knapp. Auf dem Weg, nur fünf Minuten, wird er von einer Dame freundlich gegrüßt. Später im Imbiss, wo er Kartoffelsalat mit Wiener zum Mittag isst, fragt ihn die Verkäuferin nach seinem Sohn aus. In Jena weiß jeder, was Roland Eckardt macht, auch, was er mal gemacht hat.
Als »Stiebi« war er in der DDR eine große Nummer in der Thüringer Schlagerszene. Mit Gaby Albrecht spielte er in den 1980er Jahren bei den Pößnecker Musikanten, Klaus Henning, Bruder vom Puhdysmanager Rolf, schrieb die Texte. Die Pößnecker waren die Band, die Albrecht, den Ostschlagerstar, erst bekannt machte. Auch später komponierte Eckardt für sie noch Musik, bis Albrecht nach der Einheit beim großen Musiklabel Warner unterkam und Eckardt damit abgeschrieben war. Stefanie Hertel gewann 1991 mit einem seiner Titel Achims Hitparade. Das ZDF wollte sie mit der Nummer aber nicht in der ZDF-Hitparade auftreten lassen, sagt Eckardt und so war sein Traum von der Komponistenkarriere im Westen vorbei, bevor er begonnen hatte. Eine Bekannte fragte ihn, ob er, der berühmte Musiker, nicht bei der Hochzeit ihrer Tochter den DJ geben wolle. Er kaufte bei Kaufland die CD-Regale leer, lieh sich eine Anlage im Elektromarkt und verdiente sich als Alleinunterhalter nach eigenen Angaben fortan »dumm und dusselig«, bis er das Geschäft an seine Söhne abgeben wollte. Die aber lehnten ab.
Roland Eckardt ist der Schwarzkäfer unter den Menschen. Dieses gerissene Tier, das in der afrikanischen Wüste bei deutlich über 50 Grad und absoluter Trockenheit lebt. Im Morgengrauen hält er sein Hinterteil in die Luft und fängt den Frühnebel ein und verdurstet so nicht. Eckardt ist seinen Geschichten zufolge dauernd von Nebel umgeben. Wenn es ein leer stehendes, zerfallenes Haus gibt, das ihm irgendeine Geschichte erzählt, dann kauft er es, saniert es mit Hilfe von Freunden, macht daraus eine Pension und verdient sich daran, natürlich, »dumm und dusselig«.
In der DDR holte er sich mit 18 Jahren die Erlaubnis als Altstoffhändler arbeiten zu dürfen, fuhr die Garnisonshöfe in Zwätzen und Umgebung ab und verscherbelte alte Motorblöcke. Von dem Geld kaufte er sich einen Polski Fiat, den großen. Seine Musikerkarriere war da schon angelaufen. Mit sechzehn ist er der jüngste staatlich anerkannte Blasorchesterleiter der DDR, die Klarinette sein Instrument. Mit dem Karl-Heinz-Laux-Sextett spielte er bei der Staatsjagd für Erich Honecker, bekam vor lauter Aufregung Durchfall, woraufhin ihn zwei Männer von der Staatssicherheit zur Toilette begleiteten und flog aus der Band, als er bei einem Empfang mit Sigmund Jähn darüber sprechen wollte, was ihn an der DDR störte. Das alles erzählt Eckardt als würde er aus seiner Biografie vorlesen. Alles ist noch präsent bis ins Detail. Was Honecker wann zu wem gesagt hat an dem Abend, wie die Magentropfen hießen, die er genommen hat. Wer Roland Eckardt zuhört, denkt, allein bis hierher hätte sein Leben für drei gereicht und da war der Mauerfall noch zehn Jahre hin. In keinem Satz schwingt Bitterkeit mit, er machte einfach immer weiter, wenn er am Ende einer Episode angekommen war.
Als es im Jahr 2006 mit seiner Zimmervermietung nicht mehr lief, weil kaum noch Monteure in Jena und Umgebung unterwegs waren, gab er die Pension auf. Er hörte von einer Prostituierten, die bei ihrem Chef rausgeflogen war und schon ratterte es wieder in Eckardts Kopf. Monteure oder SexarbeiterInnen, Mieter sind Mieter. Er fand eine geeignete Wohnung in Jena und überlies sie der Prostituierten. Zwei Wochen später standen drei Frauen bei ihm vor der Tür. Sie hätten gehört, er vermiete tageweise Zimmer. Es lief einfach zu gut. Sekretärinnen aus dem öffentlichen Dienst boten nach der Arbeit SM an, Transsexuelle aus Peru kamen ins kleine Jena und verdienten sich bei ihm, klar, »dumm und dusselig«.
Dieses Jahr ist Eckardt 60 geworden. Momentan will er ein selbst eingespieltes Hörbuch, in dem es um einen Wolf geht, der durch einen Fluch zum Vegetarier wird, an eine Literaturagentur verkaufen. Die Rohversion seines »Kindergrimmis« steht. Aufgenommen hat er sie in seinem winzigen Tonstudio, das er im Erdgeschoss eines seiner Bordelle eingerichtet hat. Früher hat hier unten im Haus seine Mutter gelebt, die er bis zu ihrem Tod vor drei Jahren pflegte. Sie wusste, was ein Stockwerk über ihr passierte. »Ist doch ein ganz normales Geschäft«, sagt Eckardt, ein Tropfen vom Nebel in der Wüste.
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