Zimtig-sanft und sinnlich

Die große Brecht-Interpretin Gina Pietsch hat ihre Erinnerungen verfasst

Warum Brecht? »Von seiner Weltgeltung muss ich hier nicht reden, die kennt jeder, der nicht allzu dumm ist«, schreibt Gina Pietsch und offenbart sodann ihr Verhältnis zum großen Dichter aus Augsburg: »Mit Brecht ist es wie mit meinem Lieblingsparfüm: Kommt eine neue gute Sorte auf den Markt, probier ich sie aus und lande am nächsten Tag wieder bei meiner.« Nun möchten die Leser sicher wissen, wie das Lieblingsparfüm der großen Brecht-Interpretin duftet: »zimtig-sanft, aber schwer und sinnlich.« Das also ist ihr Brecht. Und: »Ich finde ihn lustig, listig, leidenschaftlich. Ein Genius, der keinen Sockel verträgt, ein Genius, der um Genüsse weiß und weiß, wie man sie erobert.«

Gina Pietsch: Mein Dörfchen Welt.
Verlag Neues Leben, 271 S. br., 19,99 €.

Da Gina Pietsch kein Tagebuch führte, sind ihre Erinnerungsstützen Terminkalender, Briefe, Kritiken und Freunde. Ihre Reise in die eigene Vergangenheit bescherte ihr vornehmlich Freude, mitunter erwachten auch Verletzungen, die sie nicht ausschmückt, sowie Trauer und Schmerz. »Was erzählt man, was sollte man verschweigen um des anderen willen?« Gina Pietsch hat eine gute Balance gefunden.

In Querfurt im Harzvorland geboren, verlebte sie eine behütete Kindheit, in der bereits Weichen für ihre spätere Laufbahn gestellt werden. Vater Erich-Otto Busch, Leiter des Kulturhauses des Chemiefaser-Kombinats »Wilhelm Pieck« in Schwarza, und Mutter Anneliese gehören zum Ensemble eines Arbeitertheaters. Überschattet ist die Kindheit vom frühen Tod der Mutter, die nicht mehr den Weg der jüngsten Tochter vom Kinderballett auf die großen Bühnen der kleinen DDR und weltweit miterlebte. Auch Schwester Mara, »so schön wie meine Mama«, stirbt wie diese mit 53. Dieses zweifache Trauma hat Gina Pietsch nie verwunden.

Mara, »begabt, talentiert«, wollte Opernsängerin werden, musste aber auf Vaters Druck hin Chemiefaserfacharbeiterin lernen. Die zweite Tochter wurde vom Patriarch ebenfalls nicht in ihrem Berufswunsch bestärkt, absolvierte daher nach dem Fachabitur zum Lokschlosser, auf das Gina Pietsch noch heute stolz ist, ein Pädagogikstudium an der Karl-Marx-Universität Leipzig, nahm aber nebenher weiter Klavierstunden und glänzte auf der Studentenbühne, u. a. an der Seite von Christoph Hein im Stück »Bessie Smith«, einer Hommage auf die große afro-amerikanische Jazz-Sängerin. An »heiße Debatten« während des Studiums kann Gina Pietsch sich nicht erinnern, obwohl damals der »Formalismus«-Streit tobte. Rückblickend kann sie nachempfinden, wie sich Brecht fühlte, dass ausgerechnet seine »Mutter Courage« als »volksfremde Dekadenz« diskreditiert wurde. Und Gerhard Eisler ging »an den unglaublichen Kritiken« an seinem Libretto zur Oper »Doktor Faustus« fast kaputt, schreibt Gina Pietsch. Später liest man bei ihr noch vom unglaublichen Verbot eines Liedes »Vom Brot«, nur weil dieses das Verfüttern des subventionierten Grundnahrungsmittels an Schweine problematisierte.

Das ostdeutsche ’68er Jahr erlebte sie als Protest gegen den Abriss der Leipziger Universitätskirche, das westdeutsche ’68 auf Tournee durch Marburg, Essen, Dortmund. Sowohl den Kulturfrevel wie auch den Kulturaustausch verantwortete der 1. Sekretär der Leipziger SED-Bezirksleitung, Paul Fröhlich. Nichts ist schwarz-weiß. Über die gespaltenen Publikumsreaktionen im Westen zu dem von ihr intonierten »Lob des Kommunismus« vermerkt die Autorin: »›Er ist vernünftig‹ - Buh, Klatschen. ›Jeder versteht ihn‹ - Buh, Klatschen. ›Er ist leicht.‹ - Buh, Klatschen und so weiter.«

Gina Pietsch studierte dann doch noch noch Musik an der KMU, Chanson an der Hochschule »Hanns Eisler« bei Gisela May sowie Schauspiel an der Hochschule »Ernst Busch«. Das meiste aber habe sie bei Ekkehard Schall gelernt. Mit ihm, der sich nicht von Brechts Tochter scheiden ließ, war sie Jahre in einer Ménage à trois liiert. Glück mit den Männern hatte sie nicht immer. Erst mit Gerd, Musikwissenschaftler, erfreut sie sich jetzt »einer gelebten Liebe«. Gewiss, es ist nicht einfach für die Partner, wenn der andere jahraus jahrein auf Autobahnen, Flughäfen und in fremden Städten verbringt. Gina Pietsch sah die Welt schon in jungen Jahren und weiß, dass dies ein Privileg war in »meinem Dörfchen DDR«, wie sie Peter Hacks zitiert.

Auf viele große Namen trifft man hier, von Reinhold Andert über Kurt Demmler, der ihr nicht uneigennützig ein Lied widmete (»Gina und die Elektrizität des Fahrstuhls«), den liebenswerten Baggerfahrer und Liedermacher Gerhard Gundermann, Barbara Thalheim, Franz Josef Degenhardt, Miriam Makeba, Pete Seeger, Mikis Theodorakis ( »Es gibt kein Land, das so viel für meine Musik getan hat, wie die DDR«), Harry Belafonte und vielen weiteren Menschen, mit denen sie entweder mit »Jahrgang 49«, beim Festival des Politischen Liedes oder anderswo und anderweitig auf der Bühne stand. Sie beschreibt sie alle, selbst jene mit »Macken«, sympathisch.

Man gerät bei der Lektüre ins Schwärmen: An Quilapayún und Inti-Ilimani konnten wir uns nicht satt hören. Und unsere kleine EOS-Singegruppe studierte gar das zungenbrecherische Liebeslied »Kalliolle kukkulalle« der Gruppe »Agit Prop« aus Helsinki ein. Danke Gina, für die Erweckung solcher Erlebnisse. Und, weil wir schon dabei sind, Dank für deine grandiosen Liederabende.

Den Mauerfall verschlief die Sängerin nach einer Probe in Halle für »Miss DDR«. Schlagartig änderte sich alles. »Wir hatten in rasanter Weise unabdingbar Wichtiges für das neue Leben im Kapitalismus zu lernen.« Es folgt eine Würdigung von Ost-Frauen, die in der Not zusammenhielten, darunter Frauke, »meine tolle Tochter« (mit der sie heute oft auftritt), und Jalda Rebling, ihrer Mutter Lin gleich Sängerin jiddischer Lieder. Abschließend artikuliert Gina Pietsch ihre Hoffnungen: auf Frieden, den Sieg der Vernunft und »Nie wieder Faschismus«.

Ein schönes, zimtig-sanftes, sinnliches Buch.

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