• Politik
  • »Marsch für das Leben«

Pöbeln für die Selbstbestimmung

Am Samstag gingen wieder Tausende Menschen gegen die Demonstration von Abtreibungsgegnern auf die Straße

  • Marie Frank
  • Lesedauer: 4 Min.

»Wir wollen selbst entscheiden, ob wir Kinder bekommen oder nicht«, tönt es vom Lautsprecherwagen vom Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung. Die rund 1500 Menschen, die sich am Samstagmittag unweit des Brandenburger Tors in Berlin-Mitte eingefunden haben, applaudieren begeistert. Nur wenige Hundert Meter entfernt sammeln sich zeitgleich Tausende Abtreibungsgegner*innen vor dem Hauptbahnhof, die in diesem Jahr zum 14. Mal mit dem sogenannten »Marsch für das Leben« durch Berlin ziehen. Die Demonstration des Bundesverbands für Lebensrecht ist die wichtigste Veranstaltung von christlichen Fundamentalist*innen und Abtreibungsgegner*innen im deutschsprachigen Raum.

»Wer den Schwangerschaftsabbruch verbieten will, nimmt den Tod von Menschen durch unsauber durchgeführte Abbrüche in Kauf«, erklärt Ines Scheibe, Koordinatorin im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung und selbst in der Schwangerenberatung tätig. Gemeinsam mit Vertreterinnen der Frauenbewegung, Parteien und Gewerkschaften hat sie zu dem Aktionstag für sexuelle Selbstbestimmung unter dem Motto »Leben schützen heißt Schwangerschaftsabbruch legalisieren« aufgerufen. Das Bündnis fordert die Streichung der gegen Abtreibungen gerichteten Paragrafen 218 und 219 des Strafgesetzbuchs.

Während die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack daran erinnert, dass die Gynäkologin Kristina Hänel im vergangenen Jahr dafür verurteilt wurde, dass sie auf ihrer Website über Schwangerschaftabbrüche informierte, halten auch die Abtreibungsgegner*innen ihre Auftaktkundgebung ab. Die Redebeiträge der selbst ernannten »Lebensschützer« gehen jedoch in den lauten Pfiffen und Sprechchören der Gegendemonstrant*innen unter, die sich am Rande der Demo versammelt haben. Das queerfeministische What-the-fuck Bündnis hatte zu Störaktionen und kreativem Protest aufgerufen, dem rund 700 Menschen gefolgt waren. Einige Aktivist*innen schafften es trotz der teils sehr aggressiven Bemühungen der Polizei, die beiden Gruppen voneinander zu trennen, sich unter die Abtreibungsgegner*innen zu mischen und einen lila Rauchtopf zu zünden.

Unter lautstarkem Protest der queerfeministischen Choraktion »Singen für das Leben« liefen die Abtreibungsgegner*innen schließlich los Richtung Innenstadt - ausgestattet mit weißen Holzkreuzen, Jesusbildern und Schildern mit Sprüchen wie »Echte Männer stehen zu ihrem Kind« oder rührseligen Babyfotos. Dabei stießen sie entlang der gesamten Route auf massiven Widerspruch: Im Abstand von wenigen Metern standen am Rand zahlreiche Gruppen von Gegendemonstrant*innen, die lautstark das Recht auf Selbstbestimmung einforderten. »My body, my choice, raise your voice!«-Sprechchöre waren zu hören, aber auch Pöbeleien oder Pfiffe gegen die Kreuzträger*innen. Immer wieder kam es zu Rangeleien zwischen Aktivist*innen und der Polizei.

Doch nicht nur am Rand wurde die Demonstration gestört. Einige Teilnehmer*innen des Marsches erwiesen sich nach einigen Hundert Metern als Gegendemonstrant*innen, die den Zug mit einer Sitzblockade mit etwa 60 Menschen zum Stocken brachten. Diese wurde im weiteren Verlauf von der Polizei jedoch geräumt. Zudem gelang es vereinzelt immer wieder Aktivist*innen unter großem Applaus, Kreuze oder Schilder der Abtreibungsgegner*innen zu erbeuten und diese mit Glitzer zu bewerfen.

Insgesamt blieben die Proteste jedoch friedlich. Laut einer Polizeisprecherin kam es lediglich zu »verbalen Störungen«. Entlang der Aufzugsroute sei es immer wieder zu Versuchen gekommen, in den Aufzug zu gelangen und diesen zu blockieren, was von den Einsatzkräften jedoch unterbunden worden sei. Dabei habe man unter anderem Platzverweise erteilt, insgesamt gab es 17 polizeiliche Festnahmen. Die Polizei war mit 500 Beamt*innen im Einsatz, darunter sehr viele Zivilpolizist*innen. Gegen 17.30 Uhr beendeten die Abtreibungsgegner*innen ihre Demonstration mit einem Abschlussgottesdienst.

An dem »Marsch für das Leben« nahmen laut Polizeiangaben mehrere Tausend Menschen teil, das What-the-fuck Bündnis sprach von 3500 Teilnehmer*innen. Angekündigt waren rund 7500 Demonstrant*innen. An den verschiedenen Aktionen für die Legalisierung von Abtreibungen haben sich laut Veranstalter*innen insgesamt über zweitausend Menschen beteiligt, die Polizei spricht von über tausend. Bereits am Vorabend hatten trotz Regen und Kälte über tausend Menschen an einer Pro-Choice-Demo für sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung und die Entkriminalisierung von Abtreibung teilgenommen.

»Wir freuen uns, dass so viele Menschen auf der Straße waren und das, obwohl das Wetter uns bei unserer Vorabenddemo einen ziemlichen Strich durch die Rechnung gemacht hat«, sagte Sarah Bach, Pressesprecherin des What-the-fuck-Bündnis. »Unsere Gegenproteste zeigen Wirkung. Schon das zweite Jahr in Folge liegen die Teilnahmezahlen des ›Marsch für das Leben‹ bei 3500, halb so wenig wie noch vor zwei Jahren.« Die Inhalte der Auftaktkundgebung hätten gezeigt, dass die Lebensschutzbewegung an den Antifeminismus der neuen Rechten anknüpfe. Auch sei in diesem Jahr erneut der bekennende Neonazi Ralf Löhrer an der Spitze mitgelaufen. Im nächsten Jahr werde man wieder auf der Straße sein »und lautstark ein Zeichen gegen christlichen Fundamentalismus setzen«.

Auch die Organisator*innen vom Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung zeigten sich zufrieden: »Unseren heutigen Aktionstag werten wir als vollen Erfolg und klares Signal an die Politik, dass das Thema Schwangerschaftsabbruch nichts im Strafgesetzbuch verloren hat«, sagte Sprecherin Ines Scheibe. »Wir sehen mit Erleichterung, dass die Fassade der vermeintlich lebensbejahenden Veranstaltung ›Marsch für das Leben‹ bröckelt, und dass diese Bewegung durch die jährlichen Gegenproteste und eine kritische öffentliche Auseinandersetzung nachhaltig geschwächt wurde.«

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