Selektierte Wahrheiten

Oliver Kern wirft bei der Basketball-WM in China einen Blick über das Parkett hinaus

Man muss ein Land schon bereisen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es ist, hier zu leben. Was man vorher liest und hört, ist maximal ein Ausschnitt, wenn nicht sogar die Verdrehung der Wahrheit. Das gilt für China ganz besonders, denn in einer knappen Woche in Shenzhen fiel es mir ziemlich schwer, die vorherigen Informationen mit den realen Verhältnissen zu vereinen.

Ja, die Grundschulkinder, die mir täglich aus der Shekou School gleich neben meiner Unterkunft entgegenkommen, tragen alle weiße Hemden und ein rotes Halstuch. Na und? Auch ich war mal ein junger Pionier in der DDR, trug solche Kleidung und musste mit allen anderen auf den Schulhof zum Appell. Ich denke, bleibende Schäden hat die Konformität bei mir nicht hinterlassen. Und Schuluniformen gibt’s auch in England. Auch wenn ich nicht in den Unterricht hineinsehen kann, kommen mir die Schreckensberichte von Kontrolle, Disziplin und körperlichen Strafen doch - nun ja - mindestens selektiv vor. Weinend kommen hier jedenfalls keine Kinder aus der Schule. Die gehen genauso wie bei uns zum nächsten Kiosk und kaufen sich ein Comic oder ein Eis vom Taschengeld.

Nächster Punkt: Überall hängen hier Kameras - an der Straßenecke, auf Bahnsteigen, in Fahrstühlen. Das Gefühl, überall und immerzu kontrolliert zu werden, hat hier dennoch anscheinend niemand. Von wegen, der Sozialkredit fällt, wenn du bei Rot über die Straße läufst. Das machen die Leute auch hier, Kamera hin oder her. Erst wenn sie einen Polizisten sehen, warten sie auf Grün. Das kommt mir als Berliner ziemlich bekannt vor.

Eins hat sich nun aber leider doch bestätigt. Shenzhen wird nur durch einen Fluss von Hongkong getrennt, und schon vor meiner Ankunft wurden vom chinesischen Fernsehen Bilder aus einem Stadion am Rand der Stadt gezeigt, in dem Soldaten zusammengezogen und im Antidemonstrationskampf trainiert wurden. Das war mindestens eine Drohung in Richtung der Protestierenden in Hongkong, vielleicht aber tatsächlich auch die Vorbereitung auf einen dortigen Einsatz.

Als ich am spielfreien Mittwochnachmittag aus der Basketballhalle des Bay Sports Centers trat, hörte ich plötzlich ein unheimliches Gebrüll, gemischt mit einem wilden metallischen Trommeln. Es kam aus dem Fußballstadion direkt nebenan. Trainieren die Soldaten jetzt auch hier im Stadtzentrum, war mein erster Gedanke. Der Journalist in mir war geweckt: Ran! Recherche! Und tatsächlich konnte ich an einem Tor durch schmale Schlitze Uniformen sehen. Was genau die Soldaten da taten, woher das Getrommel kam, war nicht zu erkennen.

Ich lief ums Stadion herum, um noch mehr zu erspähen, doch am nächsten Tor standen plötzlich Wächter in Uniform. Als ich ihnen offenbar zu nahe kam, liefen sie mir plötzlich entgegen. Da verkroch sich der Journalist in mir ganz schnell. Ich tat, als hätte ich mich verlaufen, machte kehrt und ging davon. Bloß nicht umdrehen! Einfach immer weiter laufen!

Dass die Armee jetzt auch hier trainiert, in einem Stadion, das mit bunten Bannern des Basketballweltverbands verziert ist, macht mich wütend. Auf meine Nachfrage beim Weltverband, ob die FIBA davon wusste, antwortete Sprecherin Liz Fulton am Freitag, an dem die Armee erneut hier trainierte, ziemlich ausweichend: »Die FIBA beobachtet die Entwicklungen in Hongkong sehr genau. Wir bleiben in täglichem Kontakt mit dem Lokalen Organisationskomitee und haben keinen Zweifel daran, dass es weiterhin an allen acht WM-Standorten für ein sicheres Event sorgen wird.«

Schon zuvor hat die FIBA hier politisch nicht den besten Eindruck hinterlassen. Im Gegensatz zum IOC bei den Olympischen Sommerspielen 2008 in Peking hat sie es zum Beispiel in den Verhandlungen mit der Staatsführung nicht geschafft, den akkreditierten Journalisten vor Ort freien Internetzugang zu ermöglichen. Die Seite von Amnesty International beispielsweise ist offiziell nicht zu erreichen. Und nun auch noch geheime militärische Übungen, keine 100 Meter von der WM-Arena entfernt, quasi hinter dem Sichtschutz der FIBA.

Das moderne China bleibt auch für mich komplex und kompliziert. Es ist kein Orwellscher Staat, das steht für mich fest. Ein freier ist er aber auch nicht. Doch auch das ist am Ende nur meine Selektion der Wahrheit.

Alle Tagebücher von der WM in China: dasND.de/BasketballWM

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.