Flaneur mit Festanstellung

Hans-Dieter Schütts biografische Skizzen über den Antifaschisten und Staatssekretär Klaus Gysi

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Es gibt einige Witze über Klaus Gysi, den merkwürdigen »Dandy«, der sich in den Parteiapparat der SED wie zufällig verlaufen zu haben schien. Der Mann mit der erstklassigen Karriere in der zweiten Reihe der Spitzenfunktionäre. Der Mann mit dem Überschuss an Charme unter lauter biederen Funktionären. In der zweiten Reihe ist so einer in bestimmten Zeiten gewiss besser aufgehoben als in der ersten. Über seine Zeit als erster Botschafter der DDR in Italien, Malta und beim Vatikan in den 70ern hören wir bei der Vorbeifahrt des Papstes im Cabriolet von am Straßenrand tuschelnden Römerinnen: »Wer ist denn der weiß gekleidete Mann neben Klaus Gysi?«

Nach Italien passte er gewiss besser als in die DDR. Nicht nur wegen der Römerinnen, auch wegen der Opulenz, mit der man dort Alltägliches zu inszenieren weiß. Er staunte immer wieder, wie unangestrengt die Italiener jenes Dauerchaos hervorzubringen vermögen, für das die Deutschen viele Pläne machen müssen. Und dann hat das Resultat hierzulande nicht halb so viel Aberwitz und Erotik wie in Rom.

Klaus Gysi, mit jüdischem Familienhintergrund, zeigte gewiss Affinitäten zum Katholizismus. Sinn für Rituale, wie sie in altgewordenen In-stitutionen überwintern, ohnehin. Aber vor allem Loyalität Institutionen gegenüber, die die Macht (ebenso wie die Ohnmacht) verwalten. Bejahung des Prinzips Sünde, Reue, Sündenvergebung, neuerliche Sünde. Unter den Kardinälen, die von ihrem Kollegium mit offener Verachtung als »Stall« sprachen, fiel er nicht weiter auf. Hatte er das Zeug zum Großinquisitor? Nur halb, denn es fehlte ihm an Konsequenz, an abstrakter Prinzipienstrenge. Daraus resultiert ein Mehr an Freigeist. Mit ihm habe man sich gut verschwören können, meint Tochter Gabriele Gysi, die Regisseurin und zeitweilige Lebensgefährtin Frank Castorfs.

Aber natürlich trug ein Intellektueller wie er auch schwer an der Last der kommunistischen Ideologie. Ideologie, das ist der Leichnam einer einst lebendigen Idee in den Händen von Funktionären und Bürokraten. Aus diesem Zwiespalt kam keiner heraus, der in der DDR das Denken lernte: Die Verwirklichung einer Idee wird zu ihrer Zerstörung. Also aufhören zu handeln und nur im geistigen Gegenreich der Utopien leben?

Das war Gysis Sache nicht, also wählte er jenes Leben im Widerspruch, zu seiner Partei, dem Staat, zu sich selbst - und hörte doch nicht auf dazuzugehören. Nein, ein Renegat, Dissident, Ketzer wollte er nicht sein. Nicht aus Feigheit, sondern weil es ihm sinnlos vorgekommen wäre - er glaubte, darin Machiavellist, an die Aufklärung der Mächtigen.

Aber die Schatten, die solcherart gehobene Diplomatie wirft, sind lang und tiefschwarz - darüber machte er sich keine Illusionen, und Hans-Dieter Schütt ebenso wenig, der für das von ihm in der Reihe »Hefte zur DDR-Geschichte« herausgegebene Themenheft »Klaus Gysi. Zwischen Buch und Botschaft« einen hellsichtigen Essay schrieb. Dazu versammelt er Interviews mit Sohn Gregor Gysi, mit Tochter Gabriele Gysi, mit Hans Modrow sowie Auszüge aus Berichten von denen, die ihn kannten oder auch nur einmal in all seiner schillernden Exzentrik erlebten, wie Emine Sevgi Özdamar, die 1976 den Besuch des DDR-Botschafters in Italien bei Tochter Gabriele daheim erlebte (eine eigene Wohnung in Berlin besaß er nicht mehr): »Die Art, wie er seinen Koffer allein zwei Treppen zu Gabis Wohnung hochtrug, erinnerte mich an den Murnau-Film ›Nosferatu‹, in dem der Hauptdarsteller seinen eigenen Sarg wie einen Koffer zu den Ruinen trägt.« Dort angekommen, holt er frische Feigen, Oliven, Parmesankäse, Trüffel, Wein und einen Schnaps namens Centerba hervor: »Für Gabi und Gregor hatte er Bluejeans mitgebracht. Ich bekam einen Kugelschreiber, auf dem sich ein junger Mann auszog, wenn man auf den Knopf drückte.«

Ein Lebenskünstler? Ja, aber eben auch ein Überlebenskämpfer aus Not - und das von Anfang an. Am Ende schließlich ein lebender Toter, der seine Seele an die Macht verkauft hat, ein trauriger Vampir, der andere mit in sein Unglück zieht? So ungefähr sieht es Andreas Goldstein in seinem ins Kino gekommenen Film über seinen Vater Klaus Gysi, der unmissverständlich aburteilend »Der Funktionär« heißt. Ein hadernder, traurig-böser Blick auf den abwesenden Vater. Der Mann, der die Frauen liebte und sie zurückließ, wenn er zur nächsten zog. Ein Casanova-Typ, egomaner Frauenzerstörer? Die Kinder Gregor und Gabriele Gysi sehen das nicht so, sie haben ihren Vater immer dennoch geliebt und sprechen heute gern über ihn. Auch, weil er wichtig für sie blieb.

Es ist eine Biografie, in der sich die Katastrophen des 20. Jahrhunderts spiegeln. Vielleicht war der unter Kommunisten hedonistisch wirkende Lebenshunger von Klaus Gysi auch ein Reflex des Davongekommenen auf jene übermächtige Todesdrohung, unter der er jahrelang gelebt hatte. Mit sechzehn war Gysi, Sohn eines sozialdemokratischen Arztes, in die KPD eingetreten, wurde 1935 von der Berliner Universität relegiert, ging im Jahr darauf nach Cambridge, war 1939 Mitglied der Studentenleitung der KPD in Frankreich. Bei Kriegsausbruch als feindlicher Ausländer interniert, kommt er durch viel Glück frei. Denn statt ins berüchtigte Lager Le Vernet fährt ihn ein französischer Offizier in den nichtbesetzten Teil Frankreichs. Umgehend wird er auf Beschluss der KPD nach Deutschland zur politischen Untergrundarbeit geschickt. Das klingt nach Himmelfahrtskommando.

Wundersamerweise überlebt er - und wird sich dafür 1951 vor dem Parteikontrollausschuss der SED verantworten müssen. Man misstraut ihm, ermittelt gegen ihn. Ein Jahr lang hat er »Funktionsverbot«, dann darf er wieder in Reih und Glied mit seinen Genossen marschieren. Versteht man da noch Gysis Loyalität? Gabriele Gysi im Gespräch mit Hans-Dieter Schütt: »Druck gibt es immer. Von heute aus ist es leicht, Zensuren über Vergangenes zu verteilen. Nehmen Sie die Härte, die Gnadenlosigkeit dieses 20. Jahrhunderts!«

Nach der Verhaftung von Walter Janka wurde Klaus Gysi 1957 Verleger des Aufbau Verlages. Er leitete das Haus mit Geist und ideologischer Strenge. Ein Buchliebhaber als gelegentlicher Zensor, wie Hans Mayer erfahren musste. Ernst Bloch und Georg Lukács, anfangs von der SED hofiert, dann tabuisiert, sollten sich namentlich in Mayers Aufsätzen nicht mehr wiederfinden. Es seien doch nur einige kleine, unwichtige Streichungen, man bemerke sie kaum, so Mephisto Gysi mit falschen Engelszungen. Mayer reagierte prinzipiell: Völlig unmöglich sei es, etwas über Romantikrezeption zu schreiben, ohne Lukács zu erwähnen. 1963 verlässt auch Mayer die DDR, er hat genug vom Dirigismus der SED, er hat genug von Leuten wie Klaus Gysi. Stephan Hermlin wird in der DDR bleiben, aber seine Verachtung lässt er den allzu wendigen Gysi jederzeit spüren.

Kulturminister nach dem Kahlschlagplenum vom Dezember 1965 - intendiert von Erich Honecker - bis just zur endgültigen Machtübernahme desselben 1973, der ihn wieder absetzt und weit weg als Botschafter nach Rom schickt, wird er, zurückgeholt, 1979 zum Staatssekretär für Kirchenfragen. Für Schütt ein Flaneur mit Festanstellung. »Kirche im Sozialismus« lautete die neue salomonische Formel (nicht »für« oder »gegen«, sondern schlicht »im«), die seine Amtszeit prägte. Zweifellos eine Liberalisierung. Diese endete 1988, denn der Parteispitze war der Dialog Gysis mit der Kirche zu vertraut geworden. Man entließ den allzu erfolgreichen Staatssekretär stillschweigend. Der sarkastisch gewordene Gysi sagte daraufhin dem Staat den baldigen Untergang voraus.

All das gehört zur DDR-Historie, die sich im Nachhinein halb wie ein schlechter Kriminalroman, halb wie ein Drama von Schiller liest. Schütt: »Gysi war in allen Funktionen der Techniker, der zugleich Artist zu sein hatte - er wurde dorthin gerufen, wo es brannte, und seine Aufgabe bestand darin, das Feuer gleichsam in Papiertüten außer Reichweite zu schaffen.«

Hans-Dieter Schütt (Hg.): Klaus Gysi. Zwischen Buch und Botschaft. Hefte zur DDR-Geschichte, »Helle Panke« e. V., 74 S., br., 3 €.

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