Schere im Kopf

Immer weniger Menschen vertrauen den Medien - warum das so ist, erklärt Birk Meinhardt

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 7 Min.

Sie war ein ständiger Begleiter des DDR-Journalisten, die Schere im Kopf. Durchaus unterwarf man sich selbst der Logik des Klassenkampfes: Die Fehler und Schwächen des eigenen Systems, des Landes zu offenbaren, das es heute nicht mehr gibt, hieß, sie dem Gegner vor die Füße werfen. Direkt zum Fraß, und klar war, der würde sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen.

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Birk Meinhardt: Wie ich meine Zeitung verlor. Ein Jahrebuch.
Das Neue Berlin, 144 S., geb. 15 €.

Manchmal freilich konnte man sich eine solche Wirkung der eigenen Sätze nicht vorstellen, wollte man vielmehr daran glauben, dass es notwendig war, sie genau so aufzuschreiben, wie man es für richtig hielt. Und wenn die Schere im Kopf eines Vorgesetzten dann ratterte, wo die eigene stillstand, konnte das auch Folgen haben. Meist nur für den Text. Entweder er wurde so geändert, dass er ins politische Bild passte, oder er durfte nicht erscheinen.

Wenn jemand wie Birk Meinhardt diese Erfahrung nicht vergessen kann, aus ihr eine Lebensregel gemacht hat, die ihn, ganz persönlich, vor Wiederholung bewahren soll, dann ist das für Menschen, die sich noch erinnern, überaus nachvollziehbar. Für Menschen ohne diese Erfahrung aber ist es eher eine Privatsache. Das zeigen auch die Reaktionen auf Meinhardts jüngstes Büchlein, das um dieses Thema kreist. Es beschreibt die Entfremdung des Reporters und heutigen Schriftstellers von der »Süddeutschen Zeitung«, bei der er nach der Wende Karriere machte.

Man ahnt, welch bittere Pille es gewesen sein muss, die er zu schlucken bekam. Bei jenem Blatt, das der Inbegriff eines über alle Zweifel erhabenen Journalismus war, gediegen und dazu noch elegant in seiner Sprache und großzügig genug, mit ihm, dem jungen Journalisten aus der DDR, einen von der anderen Seite hereinzuholen, quasi in der bekennenden Absicht, die Geschichten, die sich beide Teile Deutschlands nach der Vereinigung 1990 unbedingt zu erzählen hatten, im eigenen Blatt nicht zu versäumen.

1992 fing er dort an, das Ende hat kein so festes Datum, auch wenn es seine Kündigung gibt im Jahr 2012. Aber 2018 noch leidet er an seiner Zeitung, hat sie im Probeabo bestellt und wütet gegen die Beispiele ihrer Verzerrung der Wirklichkeit, wütet gegen ihren Verrat an seinem Vertrauen in den guten, den echten Journalismus. Bei Meinhardt klingt es so, als habe sich die Zeitung verändert, er aber sei bei sich geblieben. Er hatte sich anfangs in sein Reporterleben gestürzt, gute Geschichten geschrieben, zweimal den Egon-Erwin-Kisch-Preis erhalten und war mit sich und seiner Umgebung im Reinen.

Dass irgendwann die erste Reportage nicht erscheinen soll, das löst sein Déjà-vu aus, ruft das alte Selbstversprechen am Ende der DDR wach. Insgesamt dreimal Scheitern mit Geschichten, die dem gängigen Bild der Wirklichkeit seine gut recherchierte Wirklichkeit entgegensetzen. Meinhardt veröffentlicht sie wörtlich nun in seinem Buch. In einem Fall geht es um einen Rechtsextremen, der ins Gefängnis geriet wegen einer Tat, an der er nicht beteiligt war. Die folgenschwere Wirkung der öffentlichen, angesichts rechter Gewalttaten durchaus zu Recht alarmierten Meinung und ihrer Protagonisten spielt eine wichtige Rolle beim Zustandekommen des Urteils gegen den Mann und deshalb auch in der Geschichte. Doch die Chefredaktion begründet ihre Vorbehalte damit, die Reportage könnte »von Rechten als Testat dafür genommen werden, dass sie ungerechtfertigterweise verfolgt würden«.

Das erinnert Meinhardt frappierend an das Scherenklappern in den Redaktions-Oberstübchen der DDR. Beinahe verzweifelt hallt die Verabredung mit sich selbst im Briefwechsel wider, den er sich über seinen Text mit der Chefredaktion liefert: »Die Realität, wenn es denn eine harte ist, muss geschildert werden, und diese Schilderung soll nicht weichgespült und schon wieder halb zurückgezogen werden durch allseits opportune Relativierungen. Wenn es denn wehtut, diese Stücke zu lesen, liegt es nicht an den Stücken, sondern daran, was darin abgebildet ist.« Das Credo des vermeintlich objektiven Berichterstatters bäumt sich auf, stolz und ohnmächtig. Die Wirklichkeit ist der Gradmesser - und der Journalismus dafür da, sie zu zeigen.

Der Schere im Kopf ist das egal. Ihr ist jeder ausgesetzt, der denkt. Zuverlässig tut sie ihr Werk und sucht dabei sehnsüchtig den Klang von ihresgleichen. »Haltungsjournalismus« nennt das Meinhardt, der in Windeseile zu kollektiver Schuldzuweisung führe, wie im Falle des zu Unrecht verurteilten Rechtsextremisten. Oder zu kollektiver Amnesie, im Falle von Ramstein, der Luftwaffenbasis im Pfälzischen, über die die USA ihren Drohnenkrieg in Afrika und Asien führen. Ramstein ist das Thema des letzten, noch im Jahr 2017 gescheiterten Veröffentlichungsversuchs in der »Süddeutschen«.

Haltungsjournalismus braucht Orientierung statt Beobachtung. Und der folgsame Journalist wird automatisch Teil der »Leitmedien«. Meinhardt: »Moment, Haltung? Das nehme ich zurück. Es ist ja ganz falsch, von Haltung zu reden. Wenn’s eine Haltung wäre, was Selbstdurchdachtes und Selbsterarbeitetes, was vielleicht unter Mühen Erworbenes, was Eigenständiges, würden doch von den Individuen so große Teile der Realität nicht so gemeinschaftlich, so geschlossen, so uniform ausgeblendet werden; so identisch zeigen sich eigentlich nur Späne, die sich nach dem Magneten ausrichten, heiliger Journalismus, und wenn der Magnet, aus welchen Gründen auch immer, seine Lage verändert, folgen die Späne wieder, sie folgen.«

Es geht um die Polarisierung zwischen Schreibern und Lesern, die ja seit Jahren vor allem die Schreiber beschäftigt und quält, und zwar die Schreiber links wie rechts. Meinhardt stößt auf, dass seine Zeitung die Welt nicht so darstellt, wie sie sich den meisten, jedenfalls vielen Menschen darstellt. »Und weil das so ist, weil sich viele Menschen nicht wahrgenommen fühlen von der Politik und von dieser Zeitung, und von jener, und von der da, und von der, werden sie sich in Zukunft woanders mehr und lauter Gehör verschaffen als bislang schon. Gehässiger werden sie werden. Radikaler, wie viele unerhörte Massen in der Geschichte.«

Birk Meinhardt ist erstaunt über die Blindheit, mit der die Medien ihren Beitrag leisten zu dieser Radikalisierung, nicht merken, »dass sie ohne Unterlass mit erzeugen, was sie so dröhnend verdammen«. Je weiter die Zeit auf den 144 Seiten voranschreitet, desto mehr Beispiele einer »verdrehten Welt« finden sich darin, und zwar auch schon aus der glücklichen Zeit des Reporters, als sie noch im Lot schien. Erst nach seinem Ausscheiden stört ihn, worüber er zuvor hinwegsah oder was er zuvor übersah, was nun aber zu einem Dauerzustand geworden sei - »die Wirklichkeit um die Teile zu reduzieren, die nicht zur Haltung passen, und dafür die Teile überzubetonen, die sich mit der Haltung decken«.

Meinhardt hat ein selbstreflektierendes, kein eiferndes Buch geschrieben, keine Abrechnung, sondern eine Aufrechnung. Er spart den Schrecken nicht aus, den er zuweilen über sich selbst empfindet, wenn er sich an einige seltene Fälle erinnert, in denen er dem Hang erlag, einen Beweis der eigenen lauteren Gesinnung zu liefern.

Eine lautere Gesinnung ist noch keine Schere im Kopf. Aber die Gewissheit, einer lauteren Gesinnung zu folgen, legt die Gewissheit nahe, andere Argumente könnten unlautere Argumente sein. In den inzwischen erschienenen Berichten und Kommentaren zum Buch ist viel von Eitelkeiten und anderen Befindlichkeiten des Reporters die Rede, von einer Privatsache Meinhardts also und weniger von einem Problem, mit dem die Gesellschaft es zu tun hat. Und natürlich vom Verdacht, auch der ach so brillante Autor drifte nun also leider ins Lager der Rechten, wie schade, aber eine Träne, nein, die hat er nicht verdient. Die Schere klappert.

Realität schert sich nicht um Moral. Moral hilft nicht die Welt zu erkennen. Zu erkennen, warum sich etwas so und nicht anders abspielt, ist eine andere Frage als die, ob etwas gut oder böse ist. Zuverlässig tut die Schere ihr Werk auch dort, wo linke Meinungsplattformen wie Trutztürme in der veröffentlichten Meinung stehen. Wo sie sich darauf verlegt haben, Meinung zum Sortieren der Informationsflut zu bieten, weil ja die Welt für jeden scheunentoroffen stehe und die Realitäten kübelweise aus den unzähligen Medien stürzen. Immer ähnlicher werden sie dabei den Leitmedien im Weglassen und Hervorheben. Und manchen will es scheinen, als sei dies ein Erfolg des eigenen Wirkens, als folgten die Leitmedien. Ihnen, den linken.

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