Das richtige Leben im falschen

Erst Castingband, dann »Girl Power«-Projekt: Vor 25 Jahren erschien die erste Single der Spice Girls

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein Lachen. Ein dreckiges, siegessicheres Lachen. Damit beginnt eine der größten musikalischen Karrieren der 90er Jahre. Es ist der Anfang eines Liedes, in dem fünf junge Frauen ihr männliches Gegenüber, einen Möchtegern, offensiv angehen. Das hört sich zunächst ziemlich banal an: »Ich sag dir, was ich will, was ich wirklich, wirklich will. Also sag mir, was du willst, was du wirklich, wirklich willst. Ich will, (ha) ich will, (ha) ich will, (ha) ich will, (ha) ich will wirklich, wirklich, wirklich zig-a-zig-ah.« Noch Fragen?

Das ist nicht die Art von Versen, mit denen man Bob-Dylan-mäßig die Nobelpreisjury überzeugt. Aber es sind Zeilen, die Millionen von Mädchen und Frauen rund um den Erdball verstanden. An jenem 8. Juli 1996 traten die Spice Girls mit »Wannabe« eine Lawine los. Doch darüber ging die seriöse Fachpresse zunächst geflissentlich hinweg. Für sie war die Single Konfektionsware. Dass dieses Industrieprodukt in 37 Ländern der Welt auf Platz eins schoss, schien nur zu bestätigen, wie clever es gemacht war.

Wie viel mehr dahintersteckte, dazu hätte es genügt, sich das dazugehörige Video einmal anzuschauen. Die fünf Spice Girls platzen in ein Nobelhotel, mischen dort ein Zusammenkommen der oberen Zehntausend auf, bei dem - Achtung, Gesellschaftskritik! - auch ein Priester nicht fehlen darf, nur um danach ebenso schnell wieder zu verschwinden. Der Clip endet damit, dass die jungen Frauen mit dem Bus nach Hause fahren. Die Botschaft ist klar: Hier fordern selbstbewusste »Girls« ihr Recht auf Teilhabe ein. Sie verschaffen sich - auch wenn ihr Geld nur fürs ÖPNV-Ticket reicht - Zugang zur Welt des Glamours. Wer aber sind diese »Girls«?

Da ist Mel B, die furchteinflößend (»scary«) die Zähne fletscht, und ihr Gegenpart, das niedliche Nesthäkchen (»baby«) Emma Bunton. Es gibt die schicke (»posh«) Victoria Adams (später: Beckham) im kleinen Schwarzen und die sportliche (»sporty«) Melanie C, die mit Trainingshose Flickflacks schlägt. Nicht zu vergessen: der Rotschopf (»ginger«) Geri Halliwell, die sich betont aufreizend (»sexy«) gibt. So kamen die einzelnen Spice Girls zu ihren Namen: Scary Spice, Baby Spice, Posh Spice, Sporty Spice, Ginger/Sexy Spice.

Das wirkt, als habe man eine Castingband zusammengestellt, die möglichst viele unterschiedliche Zielgruppen - auch männliche - ansprechen soll. Und so war es ursprünglich auch gedacht. Die Talentsucher Bob und Chris Herbert hatten im Februar 1994 in einem Branchenmagazin eine Anzeige geschaltet, in der sie Mitglieder für eine Girl-Group suchten. 400 Frauen erschienen zum Vorsingen und Vortanzen. Die fünf erwähnten blieben nach einigem Hin und Her übrig.

Die große Karriere ließ erst mal auf sich warten. Vater und Sohn Herbert vertrauten ihren Kumpels aus der Musikbranche. Bloß war das, was diese an Songs ablieferten, dürftig - Popmusik, die eher Kindern als Teenagern gefiel. Als die Sängerinnen bei einem internen Probeauftritt die vorgegebenen Liedtexte um Rap-Einlagen ergänzten, stieß das auf wenig Gegenliebe. Die Frauen waren als Projektionsfläche für Fans verpflichtet worden. Sie sollten zu Musik vom Band rhythmisch ihre Körper bewegen. Dass sie mit eigenen Vorstellungen vorpreschten, war nicht vorgesehen. Doch genau das schwebte den gecasteten Sängerinnen vor. Ihnen fehlte vielleicht das Handwerkszeug, um professionell Stücke zu schreiben, aber dafür verfügten sie über das, wovon Pop seit jeher lebt: Ideen und Inspiration.

Da die Herberts dies nicht erkannten, nahmen die Spice Girls ihr Schicksal selber in die Hand. Sie trafen sich mit Produzenten und Musikern, die ihren Einfällen - eine eingängige Melodiephrase, ein paar rausgehauene Textzeilen - Form und Kontur gaben. Das konnte den Charakter einer Jamsession annehmen. Während im Hintergrund ein paar Beats liefen, fing eine an, eine Melodie zu summen, die Nächste sang eine Zeile darauf, die Übernächste spann sie weiter, und ehe der Produzent sich versah, war ein Song entstanden. Für das Grundgerüst von »Wannabe« benötigten die Spice Girls eine halbe Stunde. Natürlich ging es dabei drunter und drüber. Melanie C beschrieb es so: »Du bist in einer Clique, amüsierst dich, und dir kommen affige Wörter in den Sinn. Wir waren also im Studio, kicherten rum und erfanden dieses alberne Wort zig-a-zig-ah« - über das sich später die halbe Welt den Kopf zerbrach.

Dabei hat der Song textlich viel mehr zu bieten. Denn wenn die Mädchen spontan rausließen, was ihnen gerade durch den Kopf ging, brachte dies nicht nur neue Ausdrücke und Wortspiele hervor (wie in ihrem zweiten Hit »Say you’ll be«: »If you put 2 and 2 together, you will see what our friendship is 4«). Vielmehr gaben die Spice Girls preis, was sie seelisch bewegte, was sie für ihre Mutter empfanden oder von einem Partner erwarteten. Und da entpuppt sich »Wannabe« plötzlich als feministisch inspirierter Song: »Wenn du meine Zukunft willst, vergiss meine Vergangenheit. (…) Wenn du meine Liebe sein willst, musst du geben, nur nehmen ist zu einfach. (…) Wenn du meine Liebe sein willst, musst du mit meinen Freundinnen klarkommen.«

Die Girl Power, die sich darin ausdrückt, hatte - auch wenn zynische Zeitgenossen damals das Gegenteil behaupteten - nichts mit Marketing zu tun. Vielmehr praktizierten die Spice Girls sogar in geschäftlicher Hinsicht solidarische Schwesterlichkeit. Da sich bei vielen Liedern ohnehin nicht rekonstruieren ließ, wer wie viel Prozent zum Ergebnis beigetragen hatte, beschlossen die Mädchen kurzerhand, die Anteile an den Songrechten gleichberechtigt aufzuteilen. Das war 1996 in der Popbranche ein Novum.

Die Spice Girls wussten - nicht nur in »Wannabe« - was sie wirklich, wirklich wollten. Songwriter Andy Watkins, der auf den ersten beiden Alben, an etwa der Hälfte der Lieder beteiligt war, erinnert sich: »Sie taten, was sie für richtig hielten. Sie wussten, worüber sie schreiben wollten, gleich vom ersten Tag an. Man konnte ihnen nicht seine musikalischen Ideen aufzwingen.«

Deshalb haben die Songs der Spice Girls jene magische Zutat, die großen Pop auszeichnet: Wahrhaftigkeit. Diese Authentizität spürten die Mädchen, die »Wannabe« an den unterschiedlichsten Orten der Welt - an Bushaltestellen, in Großraumdiscos, in Freibädern - inbrünstig mitsangen; sogar dann, wenn sie die englischen Worte nicht verstanden. Denn wichtiger als die konkreten Zeilen war das Selbstbewusstsein, das sich in diesen Zeilen ausdrückte.

Geri Halliwell (»Ginger Spice«) erläutert das Konzept, das dahintersteckte: »Wir nennen es Girl Power, aber eigentlich geht es darum, genügend Selbstvertrauen zu haben, um seine Träume zu verwirklichen.« Und Mel B (»Scary Spice«) fügt hinzu: »Es geht um Gleichheit, darum, Spaß zu haben und zu versuchen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.«

So weit der theoretische Überbau. Doch erst ihre mitreißenden Singles und die dazugehörigen herrlich überdrehten, vor Lebenslust überschäumenden Videos sorgten dafür, dass dieses Konzept auch in der Praxis aufging. Die Girl Power war hörbar, sichtbar, fühlbar. Der Gegenentwurf zur grauen, tristen Männerwelt.

Inwiefern die Spice Girls dadurch den Feminismus vorangebracht haben, darüber müsste man noch mal in aller Ruhe reden. In puncto Spaß jedoch waren sie allen, restlos allen Nachahmerinnen uneinholbar voraus. Andere mochten das Partyleben zelebrieren, die Spice Girls hingegen machten aus dem Leben selbst eine Party. Nicht die schlechteste Grundeinstellung.

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