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Lob des Dionysos
Vor zwanzig Jahren starb der Künstler Einar Schleef
Zwanzig Jahre liegt der Tod des großen Universalkünstlers Einar Schleef zurück. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit - nicht nur in der Kunstwelt. Und dennoch geistert Schleef quicklebendig durch die Theater: als feste Bezugsgröße für Künstler heute, als Kantinendauergesprächsthema und als Held zahlreicher Anekdoten. Schleef scheint, spricht man mit Theatermachern, omnipräsent. Und sein avanciertes Chortheater hat auch den einen oder anderen Epigonen auf den Plan und auf den Regiestuhl gerufen, bei erheblich nachgelassenem künstlerischem Niveau.
Wer war dieser Mann mit dem eigenwilligen Namen? Einar Schleef wurde 1944 im provinziellen Sangerhausen in Sachsen-Anhalt geboren. Seine konfliktuöse kleinbürgerliche Herkunft wurde zu einem der bestimmenden Themen für eine lebenslange künstlerische Auseinandersetzung. Sein Vater, ein Architekt, kehrte versehrt aus dem Krieg zurück. Die dominante Mutter hatte im Haushalt Schleef das Sagen. Davon geben vor allem das Opus magnum »Gertrud«, ein zweibändiger Roman, der den Namen von Schleefs Mutter trägt, aber auch der Briefwechsel zwischen Mutter und Sohn und die umfangreichen Tagebucheditionen - alles zusammen viele Tausend Seiten Material - schonungslos Aufschluss. Die schwierige Beziehung von Mutter und Kind, das ist kein Spezifikum einer Künstlerbiografie, sondern es ist der Grundkonflikt, der uns alle beschäftigt - Herr Doktor Freud aus der Berggasse in Wien sendet einen Gruß -, aber kaum jemand konnte daraus so reiche Kunst erwachsen lassen wie Schleef.
Von Kindheit an in der Außenseiterrolle gefangen, war der Sangerhausener oft krank. Prägend war auch sein Sturz aus einem fahrenden Zug im Alter von 16 Jahren, der einen sehr langen Krankhausaufenthalt nach sich zog. Schleef, der zur Selbstmythisierung neigte, führte sein Stottern auf diesen Unfall zurück. Dieser Sprachfehler hat sich in sein Schaffen eingeschrieben: All seine Werke sind ein Ringen mit der Sprache, ein Vorpreschen bis zur Grenze des Sagbaren, und jeder Satz ist Arbeit, nichts unbedacht dahingeschrieben.
Das früh sich abzeichnende künstlerische Talent, das Interesse am Malen, wurde von einem Lehrer erkannt und gefördert. Schleefs Mutter pflegte ein ambivalentes Verhältnis zu der Entwicklung ihres Sohnes, sein Vater beargwöhnte jegliche künstlerischen Ambitionen, was in der Vernichtung der frühen Werke durch ihn mündete.
Einar Schleefs älterer Bruder verließ die DDR Ende der 50er Jahre. Seine Eltern wollten es ihm gleichtun und den jüngeren Sohn mitnehmen, der aber vor allem an die Möglichkeiten einer Künstlerlaufbahn im Osten dachte. Seine Eltern zögerten, kurze Zeit später stand die Mauer - und Schleef war einer dauerhaften Anklage ausgesetzt. Der Umzug nach Ostberlin sowie das aufgenommene Studium der Malerei und des Bühnenbilds an der Kunsthochschule in Weißensee kamen einem Befreiungsschlag gleich.
Erste Schritte als Assistent und als Bühnenbildner führten ans Maxim-Gorki-Theater und die Volksbühne in Berlin. Aber erst die Übernahme der künstlerischen Leitung des Berliner Ensembles durch Ruth Berghaus, was einem Dornröschenkuss gleichkam, machten schon in Ansätzen möglich, wovon Schleef träumte: weit mehr Einfluss und Kontrolle auf das künstlerische Werk, als nur durch die Ausstattung von Theaterproduktionen gegeben gewesen wäre.
Brechts letztem Meisterschüler, dem Regisseur B. K. Tragelehn, wurde Schleef als Bühnenbildner vorgeschlagen. Aus dieser Position emanzipierte er sich bald und wurde zum Co-Regisseur. »Katzgraben«, »Frühlings Erwachen« und »Fräulein Julie« sind die Stücke, die sie gemeinsam auf die Bühne des Berliner Ensembles brachten - mit lang anhaltender Nachwirkung.
Dem störrischen und unangepassten Solitär schien die DDR bald zu eng. Eine Einladung zu einem Gespräch über eine mögliche Inszenierung von Frank Wedekinds »Schloss Wetterstein« am Wiener Burgtheater, die er wieder gemeinsam mit Tragelehn erarbeiten sollte, nutzte er zur Flucht in den Westen.
Der erforderliche Neuanfang glückte nicht sofort. Schleef suchte die Nähe zum Film und probierte sich auch als Fotograf. Prosawerke und Theaterstücke wurden bald gedruckt und gespielt. Wie erst kürzlich bekannt wurde, hat Schleef auch nennenswerte lyrische Arbeiten hinterlassen, die zu seinen Lebzeiten nicht publiziert wurden. Bereits in der DDR waren neben den Bühnenarbeiten immer auch bildnerische Werke entstanden. Zu den freien Grafiken und Malereien gesellten sich auch Auftragsarbeiten, vorrangig Buchgestaltungen, die bisher nur ungenügend Aufmerksamkeit erlangt haben. Es blieb ein schwerer Weg zur Anerkennung und zurück zum Theater. Das Wesen der deutsch-deutschen Existenz wusste er in seinem Tagebuch pointiert wiederzugeben: »Dort die Mauer um alle. Hier die Mauer in jedem.«
Als man Schleef auch wieder auf den großen Bühnen - das Schauspiel Frankfurt, das Düsseldorfer Schauspielhaus und das Burgtheater in Wien gehörten zu seinen Wirkstätten - arbeiten ließ, sorgte er für Furore. Er war derjenige, der allen Moden und jeglichem Zeitgeist zum Trotz, den Chor im Theater rehabilitierte und ihn direkt von der antiken Tradition in die Gegenwart rettete. Er wusste, dass das Theater sich nicht vom Dionysischen, vom Ritus und von der strengen Form verabschieden darf, wenn es als relevante Kunst überleben will. Das gilt heute, in Zeiten digitaler Begegnungen, eingeschränkter Öffentlichkeit und fortschreitender Singularisierung, umso mehr - jedoch, ein Künstler wie Schleef fehlt.
»Mein Lieblingsautor bin ich selber«, sagte Schleef einmal in einem der vielen Gespräche mit Alexander Kluge. Die hochintelligenten Dialoge der beiden ersetzen jedes kulturwissenschaftliche Seminar an einer deutschen Hochschule. Man ahnt aber auch, dass der narzisstische Künstler eine schwierige Persönlichkeit war.
Kraftstrotzende Chöre, tragische Geschichten, Nacktheit auf der Bühne, drastische Bilder, das stieß selbstverständlich nicht nur auf Gegenliebe. Kleingeistig wurde seine Ästhetik als »faschistoid« gebrandmarkt. Gerade so, als wäre Faschismus vor allem eine Frage der Form und nicht seiner brutalen und mörderischen inhaltlichen Implikationen.
Seine Frankfurter »Faust«-Inszenierung 1990 war eine Auseinandersetzung mit dem deutschen Nationalmythos. Das »deutsche Wesen«, die deutsch-deutsche Misere waren für Schleef ein zentraler Gegenstand. Als Regisseur wirkte er in Bayreuth und setzte sich mit Wagner und deutscher Mythologie auseinander, seine Uraufführungen von »Wessis in Weimar« und »Verratenes Volk« in Berlin waren große Verhandlungen deutscher Geschichte.
Wer kann schon behaupten, das Schleef’sche Werk zu kennen. Viele Schätze sind erst noch zu heben. Und allein die umfangreichen Tagebücher, von dem Autor immer wieder bis zur Veröffentlichungsreife überarbeitet, sind monumental. Wer Schleefs Theaterarbeiten in der DDR gesehen hat - und es wurden nur wenige Vorstellungen angesetzt -, dem dürften jene in der BRD entgangen sein und umgekehrt.
Wer heute über Einar Schleef spricht, hat vielleicht gar keine seiner Inszenierungen gesehen. Und doch gibt es eine Ahnung, dass sich unter Anleitung dieses Mannes große Kunst ereignet hat. Aufführungsmitschnitte, die überaus unterhaltsamen Interviews mit der Ausnahmegestalt, Theaterkritiken und -fotos machen als Rarissima unter Eingeweihten die Runde.
Und überhaupt sind es gerade bei Schleef die ungesehenen Arbeiten, die einen besonderen Reiz ausmachen. Es dürfte wenige Theatermacher geben, bei denen derartig viele Inszenierungen niemals zur Premiere gekommen sind. Vertragsbrüche und Verwerfungen, Verschiebungen und Krankheitsfälle, Theaterschließungen und Zerwürfnisse: Es scheint, als wären auf jeden zustande gekommenen Theaterabend zwei gescheiterte gefolgt. Auch so hat Schleef sich schon zu Lebzeiten ein Denkmal geschaffen, das bleiben wird.
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