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Besetztes Terrain
Die Integration von oppositionellen Kämpfen ist eine Spezialität des Kapitalismus, das wussten schon die Rätekommunisten. Derzeit werden viele linke Themen öffentlich aufgegriffen – aber wie steht es mit wirklicher Veränderung?
Der Frust sitzt tief: So klagen die Aktivist*innen, es gebe zwar eine Mehrheit für linke Themen, aber das drücke sich nicht in Wahlergebnissen und, wichtiger noch, in realen Bewegungen auf der Straße aus. Die zunehmend unbezahlbaren Wohnungen in den Städten, die marode öffentliche Infrastruktur, vernachlässigter Klimaschutz, Polizeigewalt, die institutionelle Korruption, für die in diesen Tagen der mutmaßliche zukünftige Kanzler Laschet exemplarisch steht, endemisch sich ausbreitende Zonen prekarisierter Arbeit, das gnadenlose Bildungssystem, das zuverlässig die Abgehängten produziert: dass sich da überall was ändern muss, ist im aktivsten und dynamischsten Teil der Gesellschaft Konsens. Die anerkannte politische Kraft aber, die am ehesten für einen Wandel steht, die Partei Die Linke, muss bei den anstehenden Wahlen um den Wiedereinzug in den Bundestag kämpfen. Was heißt das?
Zunächst kann es nicht heißen, dass jetzt die Stunde kluger Strateginnen schlüge, die das gesellschaftliche Potenzial der Unzufriedenheit in einer pfiffigen Wahlkampagne zu entriegeln wüssten. Wäre dem so, wäre es längst passiert: An intellektueller Manpower mangelt es der Linken - der Partei wie der gesellschaftlichen Strömung - nicht. Angenommen, die liberal-konservativ-rechte Mär von der rot-grünen Hegemonie in den Medienhäusern, den Kulturinstitutionen und Akademien stimmte, was hinderte die dort versammelte geballte Phalanx linker Intelligenz, ihr Gewicht für eine gesellschaftliche Aufbruchsstimmung in die Waagschale zu werfen? Der Widerspruch zwischen der »Mehrheit für linke Themen« und der anhaltenden Schwäche tatsächlicher linker Bewegungen lässt sich kommunikativ-strategisch nicht auflösen.
Schwäche der Linken
Das ist nicht ausschließlich Problem einer linken Partei, die längst schon in der Mitte des Politbetriebs angekommen ist, in einigen Ländern Minister stellt und Ambitionen hätte, auch auf Bundesebene mitzuregieren - viele Aktivisten und Theoretikerinnen nehmen ja deshalb, wenn auch vordergründig, eine polemische Distanz zur Partei ein. Löst man den Widerspruch aus seiner parteipolitischen Fassung, erweist er sich als geradezu ubiquitär: Die Antifa, vor wenigen Jahren noch von der politischen Öffentlichkeit im günstigsten Fall ignoriert, in der Regel kriminalisiert, ist vom Mainstream als legitime Kraft der Zivilgesellschaft anerkannt; Klimaschützer, die auch mal ein bisschen frecher zur Sache gehen und Tagebaugruben symbolisch besetzen, werden bejubelt; als im Juni vergangenen Jahres die »Black Lives Matter«-Bewegung Zehntausende auf deutschen Straßen mobilisierte, wagte niemand, die Demonstrationen als »Superspreading Events« zu denunzieren. Die Beispiele lassen sich beliebig fortsetzen. Aber sie gehen mit einer fundamentalen Ernüchterung einher: Jede dieser Bewegungen bleibt auf den Bereich beschränkt, den ihr die herrschende Politik zugewiesen hat.
Das Verbindende der Kämpfe stellt sich nicht ein, lässt sich nur abstrakt und vage als »System Change« ausdrücken, wobei beides mehrdeutig bleibt - der Charakter des Systems wie die Bestimmung der Umwälzung. Die Bewegungen sind voneinander isoliert, der Maßstab ihrer öffentlichen Anerkennung ist die Systemkonformität: die stillschweigende Akzeptanz von Privateigentum, Akkumulationsprinzip und Parlamentarismus. Mehr noch, jede Anerkennung hat im Schlepptau eine Grausamkeit. Rigide Sprachpolitik ist okay, aber am Bildungssystem selbst wird nicht gerüttelt; für »Black Lives Matter« hat jeder Verständnis, aber die Flüchtlingspolitik der EU bleibt unangetastet; Klimaschutz muss sein, aber den Umbau des Systems übernimmt die Industrie bitteschön selbst; die Kommunen sollen mehr und erschwinglichen Wohnraum schaffen, aber über einen imperialen Lebensstil, der dazu führt, dass Einpersonenhaushalte immer mehr Wohnfläche für sich beanspruchen, bleibt unangetastet.
Zurück zur oben aufgeworfenen Frage: Wofür steht diese eigentümliche Lage? Die klassische linke Wette war, dass sich antagonistische Konflikte geradezu naturwüchsig ausweiten, gerade weil sie antagonistisch sind. Wären sie es nicht, ließen sie sich schnell isolieren und befrieden. Bricht auf einem gesellschaftlichen Feld ein unversöhnlicher Konflikt auf, verweist er immer auch auf einen gesamtgesellschaftlichen. Die Isolation ist aber Merkmal aller gegenwärtigen sozialen Kämpfe, egal, wie dringlich und unversöhnlich sich ihre Protagonisten artikulieren.
Widersprüche, Theorie, Praxis
Um die Isolation der Kämpfe zu begreifen, soll ein Umweg vorgeschlagen werden - über eine andere Frage, die, gemessen an den quälenden praktischen Problemen, akademisch steif klingt: Gibt es noch einen Fortschritt in der Theorie? Da die Linke ihr Handeln prinzipiell theoriegeleitet versteht, ist diese Frage nicht ohne Relevanz: ein Fortschritt in der Theorie würde, zumindest »in letzter Instanz«, auch einen in der Praxis bedeuten. Umgekehrt müsste sich das praktische Dilemma der Linken, wie es oben skizziert wurde, auch theoretisch ausdrücken, mithin von der Bewegung selbst reflektiert werden. Es fällt aber auf, dass die Linke als die gesellschaftliche Strömung, die ihrem Selbstverständnis nach am entschiedensten für Fortschritt eintritt und die politische und soziale Ereignisse danach bemisst, ob sie eine Verbesserung - gegenüber früheren Zuständen oder anderen politischen Vorschlägen - verkörpern, ihre Debatten nicht danach bemisst, ob sie für sich einen Fortschritt darstellen.
Dabei ließe sich doch ganz aktuell ein Fortschritt in der Theorie beobachten: Der Streit zwischen »Identitätspolitik« und »Klassenpolitik« kommt an sein Ende. In vermittelnden Debattenbeiträgen wurde in den letzten Monaten festgehalten, dass die Konstitution der Arbeiterklasse als politische Bewegung stets über eine kulturell vermittelte Selbstverständigung der Arbeiterinnen und Arbeiter lief - über Identitätsbildung. Jeder »Klassenpolitik« ist deshalb ein identitätspolitisches Moment eingeschrieben. Umgekehrt ist vielen Vertretern der Identitätspolitik klar geworden, dass der Kampf gegen gesellschaftliche und kulturelle Diskriminierung, der auf der stolzen Behauptung einer eigenen (meint: letztlich unzerstörbaren) Identität beruht, eine zentrale soziale Komponente hat.
Rassistische Einzeltaten mögen in ihrer jähen Willkür und Gewaltexplosion »klassenlos« und »asozial« erscheinen. Sobald aber der Zusammenhang dieser Einzeltaten in den Blick gerät und wir Rassismus als System zu begreifen lernen, zeigt sich, dass rassistischen Diskriminierungen meistens eine bestimmte Klassenposition vorangeht: Rassismus ist Legitimationsideologie wie handfeste Praxis, den Ausschluss weiter Teile der Bevölkerung vom Reichtum der Nation zu rechtfertigen, Armut und Rassismus verschränken sich. Identitätspolitik, die Anerkennung von zu Minderheiten und Außenseitern stigmatisierten Gruppen als gleichberechtigte Akteure der Gesellschaft, kann nicht erfolgreich sein, wenn sie nicht auch die sozialen Grundlagen jener Ideologien des Ausschlusses und der Herabsetzung attackiert. Die Spaltung der Arbeiterklasse durch eine hierarchisierende Produktionspolitik in den Betrieben, die die Arbeiter in Stammbelegschaften, Facharbeiter, Teilzeitkräfte, Ungelernte und so weiter sortiert, wie durch einen repressiv strukturierten Arbeitsmarkt ist ein wesentliches Moment in der optimalen Verwertung von Arbeitskraft. Die gesellschaftlichen Bilder dieser Spaltung, ihre Legitimationsfiguren, sind Sexismus und Rassismus.
Der Fortschritt in der Theorie besteht demnach darin, in jeweils unterschiedlichen Stoßrichtungen des sozialen, politischen und kulturellen Widerstandes das gemeinsame Element zu finden und es für eine verbindende Strategie stark zu machen. Aber der eben noch als unproblematisch angenommene Mechanismus - zunächst Klärung theoretischer Widersprüche, dann Schlussfolgerungen für eine angemessenere Praxis - funktioniert nicht mehr. Dieser Mechanismus war konstitutiv für die gesamte Organisationsgeschichte jener historischen Linken, die sich dem »wissenschaftlichen Sozialismus« verpflichtet hatte. Den Ausdruck nimmt zwar kaum noch einer in den Mund, aber der Sache nach ist er gültig geblieben, ein Zurück zum sogenannten »Frühsozialismus« oder »utopischen Sozialismus« fordert keiner. Das »Manifest der Kommunistischen Partei«, wie es richtig heißt (denn es ging den Autoren präzise um die Prinzipien eines politischen Organs und seiner Arbeitsweise), ist ein einziger Jubelgesang auf diesen Mechanismus: die Darlegung der Grundelemente kommunistischer Gesellschaftsanalyse und die strenge Folgerung politischer Leitsätze daraus. Vorbei.
Befriedung von Konflikten
Es hat Zeiten der Diffusion und der Reaktion geben, der Zerstreuung und Verwirrung, das waren die 90er und 00er Jahre. Die wenig standhaft gebliebenen Marxisten waren die Aluhut-Träger jener Jahre: belächelt, überhört, verspottet. Aber die Situation heute ist in Universitäten, im Kunst- und Medienbetrieb eine ganz andere, allein der Renaissance marxistischer und neokommunistischer Theorie entspricht keine wirksame Praxis. Das politische kommunistische Organ, das ernsthaft den Anspruch vertreten könnte, den Fortschritt in der Theorie zu einem der Praxis zu transformieren, indem sie verschiedenen Kämpfe auf ein Ziel hin orientiert, existiert nicht, woran einen die zahllosen Gruppen und Grüppchen, die von sich behaupten, genau dies zu leisten, nervtötend erinnern.
Der Grund dafür ist so einfach, dass er zu vereinfachenden Annahmen verführt, die wiederum so offensichtlich falsch sind, dass man den Grund gleich selbst nicht mehr erwähnt: Die Forderungen aus den sozialen Bewegungen sind längst vereinnahmt, sie sind Teil des Status quo, sind an das System delegiert. Wenn Rassismus, Sexismus, Ausbeutung in Arbeitsverhältnissen, rücksichtslose Vernutzung der Umwelt als soziale Tatbestände »von oben« anerkannt sind, wird damit bekundet, dass sie sich systemimmanent lösen lassen. Diese Systemimmanenz nennt sich paradoxerweise »System Change«, womit alles Mögliche gemeint sein kann, nur eines nicht: die Zerstörung des Privateigentums an Produktionsmitteln und des Zwangs zur erweiterten Akkumulation. Weil sich die Produktivkräfte in einer beständigen (Selbst-)Revolutionierung befinden, fällt es den Managern des Kapitals leicht, von »System Change« zu reden, sie haben den Anspruch, sein Ausmaß und seine Reichweite zu bestimmen.
Um auf diesen Gedanken zu kommen, bedarf es keiner elaborierten Ableitung. Die Falle besteht darin, Vereinnahmung und Kooptierung mit Verrat und Ausverkauf zu assoziieren und den Vorgang moralisch zu verurteilen. Mit Verrat lässt sich aber das Scheitern der Arbeiterbewegungen - oder aktuell: das Versickern der Klimabewegung in die Kanäle zur Unterstützung offiziöser Klimaschutzziele - nicht erklären. Und weil sie nicht moralisierend über den Kapitalismus urteilen will, verfolgt die intellektuelle Linke die Spur der Vereinnahmung gar nicht erst weiter. Vereinnahmung ist aber politisch-ökonomisch zu begreifen. Die Befriedung sozialer Konflikte ist nichts mehr, was außerhalb des Kapitalverhältnisses liegt und an den Staat delegiert wird. Das war der Standpunkt der politischen Ökonomie - auch der sozialistischen - des 18. und 19. Jahrhunderts.
Für Adam Smith war der Staat eine Kriegsmaschine und eine rücksichtslose Erziehungsanstalt zur Niederhaltung der armen Klassen. Er betrachtete ungeniert Gesetze und Regierungen als Ausdruck der Klassenmacht der Reichen, um, wie es in seinen staatsphilosophischen Vorlesungen aus den 1760er Jahren heißt, die Armen zu unterdrücken (das sagte er wörtlich: »to oppress the poor«) und die Ungleichheit der Güterverteilung zu bewahren. Denn die Armen wüssten mit ihrem Aufstand nichts Besseres anzufangen, als die Reichen durch offene Gewalt auf eine Gleichheit mit sich selbst zu reduzieren. Damit wäre der Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaft zerstört. Stattdessen müsste, so Smith, der Staat den Armen bescheiden, dass sie entweder arm bleiben müssen oder Reichtum auf dieselbe Weise erwerben, wie es die Reichen getan haben. Wenn man so will, brauchte Marx den Smith bloß umpolen, um die Wahrheit über die bürgerliche Gesellschaft zu erfahren.
Zeitalter der Extreme
Die Erfahrung des 20. Jahrhundert ist eine andere. Politische und ökonomische Elemente der Herrschaft über die zur (Lohn-) Arbeit Gezwungenen verschmolzen zu einer Einheit und integrierten den Klassenstandpunkt der Arbeiter. Das klingt hochgestochen, fußt aber auf realen (Gewalt-)Erfahrungen. So betonte 1934 Ignazio Silone in seiner immer noch lesenswerten Analyse des Faschismus, dass die Machtergreifung Mussolinis mehr als nur ein Staatsstreich zur langfristigen Abwendung einer proletarischen Revolution war, sondern diese Revolution, den Sozialismus, die Demokratie und vieles andere in der Form einer »Ersatzrevolution« initiiert. Der Kapitalismus imitierte Elemente des Sozialismus, verwirklichte sie sogar auf perverse Weise, indem Produktion und Distribution verstaatlicht wurden. Der Kapitalismus konnte sich seiner tradierten europäischen Form - Privateigentum, der Kapitalist als relevante gesellschaftliche Figur, Repräsentativsystem der bürgerlichen Demokratie, notorischer Hang zum Bonapartismus in Krisenzeiten - entledigen.
Der Rätekommunist Paul Mattick spitzte die Faschismus- und später auch Stalinismus-Analysen der unabhängigen Linken zu einer Theorie des kapitalistischen Totalitarismus zu: »Die Weiterentwicklung des Kapitalismus implizierte die Kapitalisierung des Staates«, schrieb er rückblickend 1949. »Was der Staat an Unabhängigkeit verlor, gewann er an Macht; was die Kapitalisten an den Staat verloren, gewannen sie an zunehmender gesellschaftlicher Kontrolle.« Die Folge: »Die Verschmelzung von Staat und Kapital bedeutete gleichzeitig die Verschmelzung beider mit der organisierten Arbeiterbewegung. (…) Dass die Kapitalisierung der Arbeiterbewegung bereits vollzogen war, wurde deutlich in ihrem steigenden Interesse am Staat als einem Instrument zur Emanzipation. ›Revolutionär‹ sein hieß, dem engen Gewerkschaftsbewusstsein der Periode des Manchester-Kapitalismus entkommen, um die Staatsmacht kämpfen und deren Wichtigkeit durch Ausdehnung der Macht auf immer weitere gesellschaftliche Bereiche vergrößern.« Kurzum: Der vollständig vergesellschaftete Kapitalismus ist die vollständig kapitalisierte Gesellschaft.
Die Arbeiterbewegung, in den 1840er Jahren von den ersten Kommunisten als Negation des Kapitals verstanden, als Revolte der moralischen Ökonomie gegen ihre Zersetzung im Tausch von Arbeitskraft gegen Geld, wandelte sich zur Gegenmacht. Sie wuchs zur von Staat, Militär und Kapital anerkannten Größe im Ringen um gesellschaftliche Gestaltung. Das organisierte Auftreten von Arbeitern war nicht mehr gleichbedeutend mit dem Sturz der Kapitalherrschaft und der noch von Lenin erträumten Zertrümmerung der Staatsmaschinerie, sondern konnte auch die Steigerung der Produktivkraft »Arbeit« bedeuten.
Faschismus und Arbeiterbewegung
Akzeptiert man diese These, dann stellt sich der Faschismus nicht nur als besonders brutale Version der reaktionären Konterrevolution des 19. Jahrhunderts dar, die die Demokratie abschaffen muss, weil die Proleten eigensinnig von ihr Gebrauch machen. Die bürgerliche Demokratie war bereits die abgeschlossene Form der (auch selbst vollzogenen) Abhängigkeit des Proletariats von Staat und Kapital, so Heinz Langerhans in seinen Faschismus-Analysen der 1930er und -40er Jahre. »Nichts bringt die Proletarier in vollständigere Abhängigkeit, als ihre möglichst weitgehende Einbeziehung in die bürgerliche Freiheit, als der maximale Genuss bürgerlicher Rechte«, schrieb er 1942 im US-amerikanischen Exil, in das sich der ehemalige KZ-Häftling nach einer abenteuerlichen Flucht durch das von der Wehrmacht besetzte Europa in buchstäblich letzter Sekunde retten konnte.
»Organisiert sie alle gewerkschaftlich, lasst sie um ihren Lohn kämpfen, gebt ihnen Arbeiterbildung, Teilnahme an den Kulturgütern, eine Badewanne, ein Auto vielleicht, ein Klassenbewusstsein, und vergesst nicht Parlamentssitze, lasst sie wählen - es ist dies alles der sichere Weg in immer vollständigere Abhängigkeit«, so Langerhans. Warum dann Faschismus? »Die bürgerlichen Freiheiten wurden durch die faschistische Konterrevolution aufgehoben, nicht weil die demokratischen Rechte der Arbeiter untragbar geworden waren für die bürgerliche Herrschaft, sondern weil privates Kapital und konkurrierende Einzelunternehmen nicht imstande waren, die Umstülpung der totalen Industrialisierung in das totalitäre System zu vollziehen.« Der Schlüssel zum Begreifen dieser neuartigen Konterrevolution liegt in der chronischen Verwertungskrise des Kapitals, die eine Anspannung der gesamten Gesellschaft verlangt, um die jeweiligen nationalen Produktionsverhältnisse für die eskalierende imperialistische Staatenkonkurrenz fit zu kriegen.
Es ist klar, dass jeder direkte Vergleich der Situation, in der Silone, Langerhans oder Mattick steckten, mit unserer unangemessen ist; die Erfahrungen sind zu verschieden. Aber in ihrer damaligen Isolation schrieb die kommunistische Linke nicht nur für sich und den kleinen Kreis von Überlebenden unter ihren Genossen, sondern notgedrungen auch für die Zukunft. So prophezeite Langerhans, als Hitler noch längst nicht aufgehört hatte zu siegen: »Auch wenn der letzte Tote dieses Krieges eingegraben sein wird, wird das totalitäre System noch nicht zerschlagen sein. In allen Teilen der Welt, bis zur letzten Südseeinsel, wird man die totalitäre Methode erlernt haben und anwenden.« Nationalsozialismus und Faschismus werden besiegt - der Totalitarismus des Kapitals aber wird bleiben als Grundlage der Produktivkraftentwicklung wie als Möglichkeitsraum staatlicher Gewalt.
Totalitarismus des Kapitals
Nun verlief die Geschichte von Kapitalismus und Sozialismus nach 1945 weder linear noch konfliktfrei, dagegen schien der Anteil des offenen Staatsterrorismus in der Politik in Europa kontinuierlich zurückzugehen (nur um sich dann doch, wie zum Beispiel in Genua 2001 - der Jahrestag der Prügelorgien gegen die Antiglobalisierungsbewegung wurde kürzlich begangen -, quicklebendig zu zeigen). Für alle sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit galt aber als mal bewusste, mal implizite Leitlinie das, was der holländische Kommunist Anton Pannekoek ebenfalls in Europas dunkelster Stunde, 1940, festhielt: »Die Arbeiter haben für ihre Befreiung nicht nur gegen die Bourgeoisie, sondern auch gegen die Feinde der Bourgeoisie zu kämpfen. Das ist kein Kampf nur zwischen zwei Klassen, sondern zwischen drei: den Arbeitern, ihren alten Ausbeutern und denjenigen, die ihre neue werden wollen.«
Der Totalitarismus des Kapitals heute bedeutet, dass die Gegenstandpunkte ganz offen ein Teil des Systems selber sind: Der »System Change« wird von den fortschrittlichsten Teilen des Kapitals betrieben. Die Linke ist dabei eine abhängige Variable. Auch deshalb haben weder ein Erfolg noch eine Niederlage der Linkspartei bei den anstehenden Wahlen viel zu bedeuten. Denn das »Anti-« ist Teil des Systemstandpunktes: So wie einst der Antichrist eben nicht die einfache Negation des Erlösers bedeutete, gar seine Abschaffung, sondern vor dem Erscheinen des Erlösers die Bühne betrat, um von diesem schließlich besiegt zu werden, damit dadurch erst die Erlösung vollständig würde.
Die beschworene Mehrheit für linke Themen existiert nur in systemkonformer Gestalt. Das Terrain, auf dem diese Mehrheiten beständig gesichtet werden, ist bereits vom Kapital bestellt. Das heißt nicht, dass man dieses Terrain aufgeben könnte. Wohin sollte man auch wechseln? Es gibt kein Feld unschuldigen gesellschaftlichen Handelns. Man sollte sich nur nicht der Illusion hingeben, auf jene vermeintlichen Mehrheiten zu setzen. Die Übermacht des Kapitals wird von vielen Linken häufig mit dem Ende des sozialen Antagonismus - andere Fassungen: das Ende der Dialektik, das Ende der Arbeit oder der Arbeiterbewegung, das Ende der westlichen Zivilisation, das Ende der Menschheit … - verwechselt. Das Gegenteil ist der Fall: Die Widersprüche werden sich zuspitzen, fast alles spricht dafür, dass der kapitalinduzierte »System Change« im Anschluss an die Coronakrise wieder offen totalitäre Züge annimmt und der linksliberale Zeitgeist sang- und klanglos verschwinden wird. Dann sollte Die Linke gewappnet sein.
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