»Eine Nasenlänge vor den Pinkertons«

Die Schriftstellerin und Aktivistin Marge Piercy über ihr Leben, ihr Werk und die Politik

Sie schreiben in Ihrer Autobiografie »Sleeping with Cats«, dass Ihr Vater statt einer Tochter eigentlich einen Sohn gewollt hatte.

Mein Vater hatte eine gewisse Verachtung für Frauen. Meine Mutter war zuvor verheiratet gewesen und hatte aus dieser früheren Ehe einen Sohn, meinen Bruder Grant. Meinem Vater zufolge war es irgendwie ihre Schuld, dass sie ihm keinen Sohn geboren hatte. Und ich hatte überhaupt von klein auf das Gefühl, dass Frauen ungerecht behandelt werden.

Interview

Marge Piercy wurde 1936 in Detroit geboren und lebt heute auf Cape Cod im US-Bundesstaat Massachusetts. Seit den 1950er Jahren ist sie politische Aktivistin und Schriftstellerin. Piercys Werk umfasst 17 Romane, 21 Lyrikbände, eine Sammlung von Kurzgeschichten, ein Theaterstück sowie drei Essaysammlungen und eine Autobiografie.


Kleines Glossar

Das Jane Collective war eine Untergrundorganisation, die zwischen 1969 und 1973 in Chicago Schwangerschaftsabbrüche organisierte. Einige der Aktivistinnen erlernten hierfür die operative Durchführung einer Abtreibung. Während des Bestehens des Kollektivs führten sie über 11 000 Schwangerschaftsabbrüche durch.

Die Pinkerton Agency ist eine private Sicherheitsfirma, die seit den 1850er Jahren von Kapitalisten in den USA für die Infiltration von Gewerkschaften und die Zerschlagung von Arbeitskämpfen bezahlt wird. Pinkerton-Angestellte schützten Streikbrecher und wurden immer wieder mit der Ermordung von Gewerkschaftlern in Verbindung gebracht.

Rekonstruktionismus ist eine progressive Strömung innerhalb des Judentums. Begründet in den 1920er Jahren, beinhaltet sie unter anderem die Ablehnung einer anthropomorphen Gottesvorstellung zugunsten zivilisatorischer Prinzipien.

Nehmen Sie zum Beispiel die Situation meiner Mutter. Sie konnte das zehnte Schuljahr nicht abschließen, weil sie als Zimmermädchen arbeiten musste. Der einzige Ausweg, den sie sah, war die Heirat. Ich fragte sie häufig, wenn sie so unglücklich mit meinem Vater war, wenn er sie so schlecht behandelte, warum sie ihn dann nicht verlasse? Sie erwiderte: »Wie würde ich überleben? Ich kann doch nichts, wofür ich bezahlt werden würde.« Sie hat natürlich immer sehr hart im Haushalt gearbeitet, und im Garten in unserem winzigen Hinterhof. Aber mein Vater brachte meiner Mutter keinen Respekt entgegen. Respektiert wurde sie von anderen Frauen in der Nachbarschaft, weil die mit ihren Problemen zu ihr kommen konnten. Sie war eine Handleserin, eine Empathin. Die Frauen kamen immer durch die Hintertür, nie durch die Haustür, und sie scheuchte sie immer raus, bevor mein Vater nach Hause kam, der wurde sonst böse.

Ihre Mutter war Jüdin. Wie passte denn das Handlesen dazu?

Das war einfach was ganz anderes. Bei ihr war immer viel los, verschiedene Schichten von Glauben. Meine Mutter konnte ihre Religion nicht praktizieren, wenn mein Vater zu Hause war. Es gab eine Radiostation, die jüdische Gottesdienste übertrug, die stellte sie an, sobald er zur Arbeit ging. Aber die Hälfte des Jahres lebte meine Großmutter bei uns, und sie war orthodox. Wenn sie da war, ließen wir es ein wenig aufleben in unserem kleinen Arbeiterhaus in Detroit. Wir waren arm, meine Großmutter und ich teilten uns ein Bett. Und sie erteilte mir meine jüdische Erziehung.

Wie hat das Frauenbild Ihres Vater Ihr Selbstbild beeinflusst?

Es ist schwer zu sagen, wie ich mich gefühlt habe, als ich noch sehr klein war. Ich glaube, ich habe versucht, ihm zu gefallen. Und es gab eine Zeit, als ich zwischen 10 und 14 Jahre alt war, in der er versuchte, mich zu einem Jungen zu machen. Er wollte mich immer dazu zu bringen, gefährliche Dinge zu tun.

Das war sein Verständnis von Männlichkeit, bereit zu sein, gefährliche Dinge zu tun?

Genau. Und das hat er mir dann zugefügt. Aber zu diesem Zeitpunkt versuchte ich nicht mehr, ihm zu gefallen, sondern nur, von ihm wegzukommen und zu überleben. Ich war sehr rebellisch.

Hatten Sie als Mädchen aus einer proletarischen Familie mehr Freiheiten als ein Mädchen aus bürgerlichen Verhältnissen?

Viel mehr! Als ich zwölf Jahre alt war, ging ich bis zwei oder drei Uhr morgens babysitten. Wenn keine Schule war, verließ ich morgens das Haus und kam erst zum Abendessen zurück. Die Wirtschaftskrise hatte in Detroit viele Brachen hinterlassen, dort spielte ich mit den Jungs, als einziges Mädchen aus der Nachbarschaft. Ich mochte die Spiele der Jungs lieber als mit Puppen zu spielen.

In meiner Grundschulklasse gab es ein paar weiße Mittelschichts-Mädchen. Sie verachteten mich, weil ich schlecht gekleidet war. Einige meiner Kleider trug ich auf von meiner Tante Ruth. Diese Mädchen haben versucht, mir das Leben zur Hölle zu machen und das manchmal auch geschafft.

Aber sie waren letztlich eingeschränkter?

Sie hatten schöne Kleider, aber sie haben nie etwas aus ihrem Leben gemacht. Ich glaube nicht, dass auch nur eine von ihnen studiert hat. Sie haben geheiratet und Kinder bekommen.

Im Rahmen der Kampagne NoChoice erzählen Sie von einem Schwangerschaftsabbruch, den Sie an sich selbst vorgenommen haben. Wann haben Sie angefangen, öffentlich darüber zu sprechen?

Zunächst möchte ich betonen: Mein erstes Gefühl nach der Abtreibung war Stolz auf mich selbst, darauf, dass ich das hinbekommen hatte. Ich habe mich in keiner Weise schuldig gefühlt. Es kam einfach nicht infrage, ein Kind in das Leben zu setzen, das ich damals hätte führen müssen. Ich wusste doch, wie es Frauen aus dem Arbeitermilieu erging, entweder heirateten sie oder saßen mit einem Haufen Kinder alleine da, weil der Mann abgehauen war. Viele mussten von Sozialhilfe leben oder Sexarbeit machen. Also fing ich noch während meines Studiums an, daran zu arbeiten, Frauen Schwangerschaftsabbrüche zu ermöglichen. Ich erstellte zum Beispiel eine landesweite Liste von Ärzten, die Abtreibungen durchführten.

Das war zum Anfang der 1960er Jahre?

Nein, das war in den Fünfzigern. Ich bin 85, wissen Sie. Diese Untergrundarbeit habe ich jedenfalls weitergemacht, als ich nach dem Studium in Chicago lebte. Das war vor den Tagen des »Jane Collective«. Und als ich in den 1960er Jahren nach New York zog, gründeten wir dort die erste feministische Gruppe innerhalb der Students for a Democratic Society (SDS). Wir hatten nämlich viel Ärger mit den Männern.

Das kann ich mir vorstellen - haben wir immer noch.

Wir haben uns um Pro-Choice-Proteste herum organisiert. 1969 fingen wir an, Busse mit Aktivistinnen zur Landesregierung in Albany, der Hauptstadt des Bundesstaats New York, zu schicken. Da kamen alle möglichen Leute, auch viele Schülerinnen. Wir hatten riesige Kundgebungen, auf denen ich meistens auch gesprochen habe. Schon dabei habe ich sehr öffentlich gemacht, dass ich auch selbst abgetrieben hatte.

Seitdem habe ich immer für die Legalität von Abtreibung gekämpft. Zurzeit befinden wird uns wieder an einem sehr heiklen Punkt, denn der Oberste Gerichtshof, den Donald Trump und Mitch McConnell mit zwei neuen Richtern besetzt haben, ist Anti-Choice. Letztens habe ich mit einer Freundin, die ich seit den Tagen der Frauenbewegung in Boston kenne, überlegt, wie wir zukünftig Frauen, die nach Massachusetts kommen wollen um abzutreiben, eine sichere Unterkunft bieten können.

Der Kampf um den Schwangerschaftsabbruch geht also weiter. Was sind die Unterschiede zwischen der heutigen Situation und der Frauenbewegung der 1960er und 1970er Jahre?

Dass Frauen seit so langer Zeit mit dem Recht auf Abtreibung leben. Die allermeisten waren noch gar nicht am Leben, als Abtreibungen illegal waren. Sie wissen nicht, wie schlimm das war. Damals starben jedes Jahr mehr Frauen an verpfuschten Abtreibungen als Soldaten im Vietnamkrieg.

Sind Sie eigentlich pessimistisch angesichts der aktuellen politischen Lage? Vielen erscheint es im Moment fast apokalyptisch ...

Ja, es ist schlimm. Was die Republikaner tun, ist so gefährlich. Hier fühlt es sich an wie in der Weimarer Republik 1934. Der Faschismus ist in den Vereinigten Staaten jetzt sehr real. Es ist beängstigend. Der Antisemitismus erlebt auch ein großes Comeback.

Das ist in Europa auch so. Waren Sie eigentlich schon mal in Deutschland?

Einmal. In München, auf dem Weg in die damalige Tschechoslowakei. Ich war auf der Rückreise von Kuba, wo man als amerikanische Staatsbürgerin nicht einreisen durfte. Trotzdem war ich war im Sommer 1968 hingeflogen, als Gast der kubanischen Regierung. Das lief in den USA über den »North American Congress on Latin America«, der immer noch existiert und immer noch eine hervorragende Quelle für alles Politische in Lateinamerika ist. In dem Zusammenhang habe ich mich auch mit dem Vorstand der kubanischen Mission in New York angefreundet. Als ich noch Raucherin war, haben die mir zu meinem Geburtstag immer eine Schachtel kubanische Zigarren geschenkt.

Wie auch immer, es war schon erschreckend genug gewesen, dass die CIA uns vor der Einreise nach Kuba terrorisiert hatte. Also sagten unsere Kontakte, »es gibt zwei Wege zurück, über Moskau oder über Prag. Wir empfehlen Prag.« Genau zu dem Zeitpunkt fand der Prager Frühling statt. Die Situation dort war so spannend! Ich reiste drei Tage, bevor die sowjetischen Panzer kamen, ab. Ein zweites Mal kehrte ich 1989, nach der Samtenen Revolution, in die Tschechoslowakei zurück, weil ich an meinem Roman »Er, Sie und Es« schrieb und dort recherchieren musste.

Glauben Sie, die Linke der 1960er und 1970er Jahre hatte mehr Optimismus?

Ja, schon allein wegen der ökonomischen Bedingungen. Damals konnten wir von Teilzeitjobs leben und hatten deshalb viel Zeit und Freiheit, politisch aktiv zu sein. Wir konnten auf die Straße gehen. Die vielen Leute, die letzten Sommer im Rahmen der Black-Lives-Matter-Bewegung protestiert haben, konnten das nur machen, weil alle arbeitslos waren, wegen Covid! Jetzt müssen alle wieder arbeiten. Und in den vergangenen Jahrzehnten sind die Reallöhne so stark gesunken, man bekommt viel weniger für sein Geld, und die Preise steigen und steigen. Menschen, die politisch aktiv sein könnten, müssen in zwei oder drei Jobs arbeiten.

Sind Sie selbst denn momentan politisch aktiv?

Hauptsächlich durch mein Schreiben. Bis vor Kurzem war ich aber auch aktiv im Kampf um die Schließung des Kernkraftwerks Pilgrim, in der Anti-Atom-Bewegung im Allgemeinen. Es gibt ja keine Möglichkeit auf dieser Erde, den Atommüll zu entsorgen! Und der Klimawandel ist so real. Da mein Partner und ich den größten Teil unserer Nahrung selbst anbauen, bin ich mir der Veränderungen der Jahreszeiten, der Insekten, der Pflanzen sehr bewusst.

Mich besorgt, dass gegenwärtige linke Proteste keine explizit antikapitalistische Perspektive mehr zu haben scheinen.

Sie würden sich wundern. Viele junge Leute nennen sich heute Sozialisten. Aber in den 1960er Jahren dachten wir, wir könnten tatsächlich gewinnen. Jetzt haben die Reichen so viel mehr Macht als damals, Konzerne sind so viel mächtiger. Im Grunde scheint die Idee, das System zu stürzen, nur noch wie ein Wunschtraum. Was bleibt, ist eine kleinteilige Wühlarbeit, ein langsames Voranschreiten. Der Versuch, Leben zu retten, die Menschen dazu zu bringen zu verstehen, dass ein schrittweiser Veränderungsprozess notwendig ist.

Cover der deutschsprachigen Erstausgabe 1993
Cover der deutschsprachigen Erstausgabe 1993

Was ist mit Militanz?

Die Frage ist Blödsinn! Unsere Polizei agiert mittlerweile wie eine Armee, mit militärischen Waffen. Und ich selbst habe nur eine einzige Pistole.

Welche politischen Themen bearbeiten Sie denn in Ihrer Literatur?

1993 habe ich einen Roman über den Klimawandel geschrieben, er heißt »Er, Sie und Es«. Andere meiner Romane behandeln die Misshandlung älterer Menschen oder das Thema Landnutzung. Ich interessiere mich für Wasser und Land und dafür, was in den Städten passiert. Aber Romane zu schreiben lohnt sich finanziell eigentlich gar nicht mehr.

Stimmt es, dass Teile Ihrer Arbeit von Donna Haraway beeinflusst sind?

Ja, eines von Haraways Büchern hat damals meine Vorstellungen von Künstlicher Intelligenz beeinflusst. Aber ich kenne sie nicht persönlich.

Wie sieht es mit weiblichen Vorbildern aus?

Meine Tante Ruth habe ich bewundert. Ihr Leben war ganz anders als das meiner Mutter, sie hatte keine Kinder, war berufstätig. Sie war die erste Frau, die ich kannte, die Hosen trug. Sie las viel, andere Bücher als meine Mutter. Meine Mutter, meine Großmutter und meine Tante Ruth erzählten alle sehr gern Geschichten. Von ihnen habe ich viel über Erzählperspektiven gelernt, denn sie erzählten alle dieselben Geschichten, aber jede Version war völlig anders. Bei meiner Großmutter ging es immer irgendwie um Rabbiner, da waren all diese mystischen Aspekte drin. Meine Mutter machte eine Romanze aus jeder Geschichte. Und die Erzählungen meiner Tante Ruth glichen Detektivgeschichten. Das einzige andere weibliche Vorbild, das ich erinnere, war Simone de Beauvoir.

Ihre Großmutter stammte aus einem Dorf in Osteuropa, habe ich gelesen.

Sie kam aus einem Schtetl an der Grenze zwischen Litauen und Russland. Das durften die Bewohner*innen nicht verlassen, es sei denn, um zur Armee zu gehen oder als Prostituierte zu arbeiten. Also ging meine Großmutter illegal, mein Großvater schmuggelte sie unter einer Ladung Stroh heraus.

Und Ihr Großvater hatte einen anderen jüdischen Hintergrund?

Ja, vollkommen. Seine Familie kam ursprünglich aus Kasan in Russland. Er hatte an der gescheiterten Russischen Revolution von 1905 teilgenommen und war abgehauen, weil ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt war. Meine Großmutter ging ins Grab, ohne jemals seinen richtigen Namen preiszugeben. Ich kenne nur die beiden Decknamen, die er verwendet hat. Er flirtete mit dem Kommunismus und dem Anarchismus.

Wann sind Ihre Großeltern in die USA emigriert?

Ich werde es nie genau erfahren, weil sie wohl illegal eingereist sind. Meine Mutter hatte keine Geburtsurkunde, wir wissen nicht, wie alt sie war. Die Familie lebte zuerst in Philadelphia, dann gingen sie nach Pittsburgh, dann nach Cleveland. Meine Großmutter hatte elf Kinder, und von diesen elf Kindern bekamen später nur meine Mutter und der jüngste Bruder eigene Kinder. Sie selbst wuchsen in Armut auf, die Familie war der »Pinkerton Agency« immer bloß eine Nasenlänge voraus. Mein Großvater war ein Radikaler, ein Gewerkschaftsführer. Er wurde schließlich von den Pinkertons in Cleveland ermordet.

Der Bruder meines Großvaters war zusammen mit meinen Großeltern in die USA gekommen. Er wohnte bei ihnen in Philadelphia, bis er der Internationalen Brigade im Spanischen Bürgerkrieg beitrat. Er war der Älteste in der gesamten Brigade, aber sehr talentiert darin, Dinge in die Luft zu jagen. Was für eine Ironie: Mein Großonkel überlebte den Spanischen Bürgerkrieg, kehrte in die Vereinigten Staaten zurück und starb dann während des Zweiten Weltkriegs hier zu Hause an einer Lungenentzündung.

Wurde politischer Aktivismus in Ihrer Familie diskutiert?

Nie mit meinem Vater! Man sprach mit ihm gar nicht über die Familie meiner Mutter. Aber meine Mutter sprach darüber, sie hatte eine radikale politische Haltung.

Und wo stand Ihr Vater politisch?

Er war ein Roosevelt-Demokrat, aber total rassistisch und sexistisch. Später wurde er Anhänger von Ronald Reagan. Also stritten meine Eltern ständig. Meine Mutter musste die Dinge für meinen Vater aber extrem vereinfachen, wenn sie mit ihm diskutierte.

Aber sie muss sich ja irgendwann vielleicht mal in ihn verliebt haben ...

Ja, sie waren leidenschaftlich verliebt, am Anfang. Und sie liebte ihn, aber seit ich etwa sechs Jahre alt war, war er nicht mehr in sie verliebt. Er blieb nur aufgrund von Pflichtgefühl und Moral.

Mein Vater war sehr kalt. Er hat mich nicht geliebt, das hat er sehr deutlich gemacht. Er hat mich immer höllisch verprügelt. Ich hatte kaum eine Beziehung zu ihm. Meinem Bruder war ich viel näher, der war zu diesem Zeitpunkt ein sehr warmherziger Mensch. Aber das änderte sich, als er 1943 zur Marine eingezogen wurde. Er hat im Pazifik gekämpft.

Und dadurch veränderte sich seine Persönlichkeit?

Alles an ihm hatte sich verändert. Als er aus dem Krieg zurückkam, war er auf einem Malaria-Medikament, das ihn schlaflos machte. Er ging auf lange Spaziergänge und bat mich, ihn zu begleiten. Da war ich vermutlich zwölf Jahre alt. Er sprach dann über den Krieg, erzählte mir alles Mögliche, über harte Realitäten wie den Scheißegestank in den Schützengräben und dergleichen.

Aber nachdem er das Medikament abgesetzt hatte, ging er nach Kalifornien und brach jahrelang den Kontakt zu unserer Familie ab. Zuerst hatte er Arbeiterjobs, dann fälschte er irgendwie, dass er auf die Uni gegangen sei, in St. Paul. Er erfand sich vollkommen neu, war kein Jude mehr, kam nicht aus Detroit. Er wurde eine mittlere Führungskraft in einem Unternehmen. Dabei musste er immer lange Ärmel tragen, weil er aus der Zeit bei der Marine viele Tätowierungen hatte. Er wurde ein begeisterter Marine-Veteran, ging zu allen Ehemaligentreffen, obwohl er in Wirklichkeit dafür bestraft worden war, einen Oberoffizier geschlagen zu haben, der eine antisemitische Bemerkung gemacht hatte.

Wie haben Sie all das erfahren, obwohl er den Kontakt abgebrochen hatte?

Ich reise schon immer im ganzen Land herum, für Lesungen und Vorträge. Und einmal, in Kalifornien, kam mein Bruder zu einer meiner Veranstaltungen. Er war neugierig, weil ich zu dem Zeitpunkt bereits mehrere Bücher veröffentlicht hatte. An dem Punkt war er das vierte Mal verheiratet. Er hatte seine Kinder aus früheren Ehen verlassen und die Kinder seiner vierten Frau adoptiert. Sie war Chicana, gab aber vor, spanischer Herkunft zu sein. Sie war auch eine große Täuscherin. Über die beiden, über den Verlust meines Bruders habe ich auch in einigen Gedichten geschrieben.

Ein anderes Mal kam mein Bruder zu einer Lesung von mir in Scottsboro, einem wohlhabenden Vorort von Phoenix, Arizona, wo er damals lebte. Nach der Lesung fragte er mich: »Warum schreibst du über all das Zeug?«

Was meinte er damit?

Er meinte, wen interessiert das schon? »Warum erklärst du öffentlich, dass du in Armut aufgewachsen bist?« Wir waren uns nie wieder nah, hatten nichts mehr gemeinsam. Er hatte kein Verständnis für das Judentum, ist auch davor geflohen und gab vor, katholisch zu sein.

Der Schutz vor Antisemitismus war also auch ein Grund für seinen Identitätswechsel.

Ja. Wir alle haben viel Antisemitismus erfahren, während unseres Aufwachsens in Detroit. Mein Vater war mit uns von einem schwarzen und jüdischen Viertel in eine eher weiße - protestantische, polnische, irische - Gegend umgezogen. In meiner Grundschule gab es nur eine andere Jüdin, und sie war schwarz. Wir wurden immer zusammen für den Schulhofdienst eingeteilt. Und an jeder Straßenecke in Detroit standen Silver Shirts, die rassistische und antisemitische Literatur verteilten.

Silver Shirts?

Das waren Faschisten. Und wenn man im Sommer durch die Nachbarschaft ging, hörte man Pater Coughlin, auch ein ausgesprochener Faschist und Rassist, diesen Müll ausspeien. Jeder katholische Radiosender, wo immer man einen hörte, hetzte so herum.

Hat sich die Rolle, die das Judentum in Ihrem Leben spielt, über die Jahre verändert?

Als ich 15 war, starb meine Großmutter, und der Rabbiner hielt eine Grabrede, die absolut nichts mit ihr und ihrem Leben zu tun hatte. Damals konnte ich Heuchelei nicht ertragen, ich war wütend, weil er sie zu einer »jiddischen Mama« gemacht hatte. Und ich revoltierte gegen die Geschlechtertrennung während des Gottesdienstes. Die hatte mir als kleines Kind wiederum gefallen - du warst außer Reichweite der Männer, unter Frauen. Sie machten alle großes Aufhebens um mich und die Gebete waren auf Jiddisch, nicht auf Hebräisch. Denn ich konnte zwar etwas Jiddisch, aber kein Hebräisch. Ich hatte meine Bat Mizwa erst mit 50 Jahren!

Als meine Mutter 1981 starb und mein Bruder kein Interesse daran hatte, die Gebete für sie zu sprechen, habe ich das übernommen. Aber ich wusste nicht, was ich da eigentlich sagte. Also fing ich an, mich dem Judentum wieder zuzuwenden, ich studierte es, um mehr zu verstehen. Zu diesem Zeitpunkt war das US-amerikanische Judentum allerdings sehr konservativ, das fand ich nicht ansprechend. Also gründeten wir eine Havurah, eine jüdische Laienschule. Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott, im Rekonstruktionismus muss man das nicht. Aber ich halte die Feiertage ein.

Was tritt denn an die Stelle des persönlichen Gottes?

Ein Gefühl für Geschichte und für das, was das Judentum von mir als handelnde Person verlangt: Die Aufmerksamkeit im Umgang mit anderen Menschen, das Bestehen darauf, an Jom Kippur Wiedergutmachung zu leisten, falls man im Laufe des Jahres jemandem Unrecht getan hat. Man muss die Dinge wieder in Ordnung bringen. Die ganze Idee von Tikkun Olam, der Reparatur der Welt, die zu unseren Aufgaben gehört, ist mir sehr wichtig.

Sie sehen hier also durchaus eine Schnittstelle zum Politischen?

Zum Politischen und Moralischen, zur Art und Weise, wie man andere Menschen behandeln sollte. Das ist ein ständiger Anspruch. Ein ungemein bedeutungsvoller Feiertag ist für mich auch Pessach. Dabei geht es um Befreiung.

Ich begehe jedes Jahr den Seder-Abend bei mir zu Hause und fordere bei dieser Gelegenheit die Leute auf, sich zu erneuern, herauszufinden, was sie im nächsten Jahr tun werden, um die Verhältnisse zu ändern. In welche politischen Aktivitäten wollen sie sich einbringen, was sind sie wirklich bereit zu tun, um die Dinge voranzutreiben? Und ich fordere sie auf zu untersuchen, warum sie im vergangenen Jahr nicht zu den Unternehmungen gekommen sind, die sie sich vorgenommen hatten. Kavanah, Absicht, ist sehr wichtig - aber nur, wenn sie auch zur Handlung führt.

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