Stiller Rückzug aus lauten Klassenzimmern

Kinder und Jugendliche mit regelmäßigen Kopfschmerzen bekommen selten eine ärztliche Diagnose und noch zu wenig Therapien

Kopfschmerzen schon im jungen Alter sind nichts Ungewöhnliches. Eines von zehn Kindern entwickelt im Schnitt sogar eine Migräne (starke, meist einseitige Kopfschmerzen). In den USA sind nach Schätzungen schon bis zu drei Prozent der Drei- bis Siebenjährigen betroffen, ebenso bis zu 23 Prozent der 15-Jährigen.

Für Deutschland gibt es ähnliche Befunde: Eine Dresdner Studie befragte 2019 insgesamt 2700 Schülerinnen und Schüler aus allen Altersstufen. Von diesen hatten jeweils ein Drittel nie oder selten Kopfschmerzen, das letzte Drittel gab aber an, mindestens zwei Tage im Monat daran zu leiden. Durchgeführt wurde die Studie am Interdisziplinären Universitätsschmerzcentrum in Dresden. Studienautorin Gudrun Goßrau, die dort die Kopfschmerzambulanz leitet, verwies darauf, dass es für diese Kinder viele Alltagseinschränkungen gibt, zumal in der letzten Gruppe sieben Prozent mehr als 15 Tage im Monat Schmerzen haben, über zehn Prozent schon 10 bis 15 Tage. »Das Risiko der Chronifizierung ist groß.« Nach Wahrnehmung der Neurologin steigt die Zahl der Betroffenen.

Das Problem dieser Kinder: Ein kleiner Teil von ihnen fehlt wegen der Schmerzen eine Woche im Monat in der Schule. Hinzu kommt, so die Schmerztherapeutin Goßrau, dass sie häufig Analgetika einnehmen, manche an mindestens fünf Tagen im Monat. »Nicht immer wird das ärztlich kontrolliert.« Da einige der Schmerzmittel rezeptfrei erworben werden können, verursachen wohlmeinende Eltern im schlechtesten Fall beim Nachwuchs sogar einen Übergebrauchskopfschmerz, der durch die Medikamente selbst hervorgerufen wird.

Bei ihrer Untersuchung musste Goßrau auch feststellen, dass nur bei 20 Prozent der Kinder der Kopfschmerz ärztlich diagnostiziert war. Dafür gebe es mehrere Ursachen: Das Leiden wird auch bei Erwachsenen eher bagatellisiert. Hinzu kommen fehlende Versorgungsstrukturen: In ländlichen Bereichen ist mitunter nicht einmal ein Kinderarzt einfach zu erreichen. Wenn doch, wird von diesem eher eine unspezifische Diagnose gestellt. Aus Sicht von Goßrau ist es von der Facharztgruppe eher nicht zu leisten, auch eine spezielle Medikation zu verordnen.

Die erkrankten Kinder und Jugendlichen zögen sich häufig sozial zurück, aber in einer »stillen« Form. Das Fernbleiben von der Schule trägt dazu bei, weil sie zudem in den akuten Phasen auch unter lauten Klassenzimmern leiden.

Hierzu passen neue Erkenntnisse über die möglichen Zusammenhänge bei der Entstehung von Migräne: Ein Team um die Kinderneurologin Amy Gelfand von der University of California in San Francisco fand heraus, dass Mütter mit Migräne mehr als doppelt so häufig von Koliken bei ihren Babys berichteten wie diejenigen, die nicht daran erkrankt waren. Der Neurologin war aufgefallen, dass die Auslöser von Migräne bei Erwachsenen Ähnlichkeiten mit denen der Koliken von Kleinstkindern hatten. Sie vermutete eher als ein Verdauungsproblem, dass die Babys gegenüber einer hellen, lauten Umgebung empfindlich reagierten - so, wie Migränekranke auf Lichter und Geräusche überreagieren.

Was brauchen die jungen Patienten? Für Goßrau ist das an erster Stelle Zeit - für ein ausführliches Anamnesegespräch, was sich etwa auch um aktuelle Konflikte oder die tägliche Mediennutzung dreht. Therapeutisch stehen an erster Stelle Verhaltensänderungen, wie ausreichend zu trinken und zu schlafen und das Mobiltelefon nicht übermäßig zu nutzen. Zusätzlich können Entspannungstechniken gelernt werden. »Mehr Bewegung, im Sport aber außerhalb des Leistungsbereiches, ist sehr wichtig«.

Obwohl Medikamente gegen Kopfschmerzen bei Kindern nicht unumstritten sind, wollen Mediziner auf diese als wirksame Akuttherapie nicht grundsätzlich verzichten, Basis sei aber eine Verhaltenstherapie. Dem entsprechen Hinweise aus verschiedenen Studien, dass bei Kindern Placebos einer Migräne genauso gut vorbeugen wie verschreibungspflichtige Mittel. Laut dem Kopfschmerzreport der Techniker Krankenkasse von 2020 wurden Kindern mit einer entsprechenden Diagnose deutschlandweit höchstens in einem Viertel der Fälle Medikamente verordnet.

Seit 2016 läuft in Dresden ein interdisziplinäres ambulantes Programm, das bereits gute Ergebnisse erzielt habe, so die Medizinerin. »Für die Teilnehmenden ist das Gruppenerlebnis sehr wichtig, sie fühlen sich endlich ernst genommen.« Goßrau weist auf die Konsequenzen von nicht, zu spät oder falsch behandelten Kopfschmerzen: Viele der Kinder müssen ein Schuljahr wiederholen oder die Schulform wechseln, einigen wird so das Abitur unmöglich. Eltern und andere Personen im Umfeld sollten aufmerksam sein, da etwa zu den häufigeren gleichzeitig mit einer Migräne auftretenden Krankheitsbildern Asthma und Depressionen gehören.

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