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Atmen wird nicht geduldet

Trashig und künstlerisch zugleich: »Annette« von Leos Carax eröffnete dieses Jahr das Cannes-Filmfestival. Das ist ein Psycho-Musical, das letztendlich nicht von seiner Musik lebt, sondern von seiner Regie

Ann (Marion Cotillard) ist Opernsängerin, Henry (Adam Driver) ein Komiker – ein Star-Paar: Die Klatschmedien nennen die beiden »Beauty and the Bastard«.
Ann (Marion Cotillard) ist Opernsängerin, Henry (Adam Driver) ein Komiker – ein Star-Paar: Die Klatschmedien nennen die beiden »Beauty and the Bastard«.

Er steht jeden Abend in seinem Kostüm, einem dunkelgrünen Bademantel, vor dem Spiegel, isst eine Banane, raucht gleichzeitig, macht Schattenboxen und geht dann auf die Bühne. »Der Affe Gottes« heißt die Show. Darin erzählt Henry den Menschen irgendeinen Blödsinn, provoziert sie, fragt sie, warum er sie überhaupt zum Lachen bringen soll. Und die Menschen lachen. Lustig ist seine Performance nicht, eher merkwürdig, sogar abartig. Warum er Komiker geworden ist, möchte das Publikum wissen. Jetzt wird es ernst: »Um die Wahrheit zu sagen, ohne dafür getötet zu werden«, sagt Henry. Dann zeigt er noch seinen Po und verschwindet. Die Show ist zu Ende.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Währenddessen beendet auch Ann ihre Schau. Im weißen Seidenkleid singt die schöne Sopranistin: »Wo ist der Mond, wo ist das Licht der Sterne, ich habe Angst«. Jeden Abend stirbt sie auf der Opernbühne. Die Menschen klatschen, sie verbeugt sich, es regnet Blumen. Dann kommt Henry an, holt sie mit dem Motorrad ab und sie fahren los. Sie sind ein Star-Paar; »Beauty and the Bastard«, nennen sie die Klatschmedien.

Von der bizarren Liebesgeschichte von Henry und Ann handelt »Annette«, der erste englischsprachige Film des französischen Regisseurs Leos Carax. Und: Es ist ein Musical.

Die Geschichte und die Musik sind von den Brüdern Ron und Russell Mael, bekannt als US-Band Sparks. Die beiden hatten ursprünglich vor, »Annette« als ein erzählendes Konzeptalbum zu veröffentlichen, schickten die Geschichte trotzdem an Carax, der 2012 ein Lied von Sparks in seinem Film »Holy Motors« verwendet hatte. Carax zeigte sich interessiert. Mit ihm kamen jede Menge Überraschungen in den Stoff.

Die Rolle von Henry spielt Adam Driver, der im Gegensatz zu Leos Carax, der gefühlt alle zehn Jahre einen Spielfilm dreht, mittlerweile in jedem Genre, allein 2021 in drei Filmen, zu sehen ist. Und Marion Cotillard spielt Ann - obwohl früher von anderen Namen wie Rihanna oder Michelle Williams für die Rolle die Rede war.

Die erste halbe Stunde des Films verläuft so, wie man es von einem Musical erwartet: Ann und Henry singen und lieben sich. Doch irgendwann bekommen sie ein Kind, Annette, das, nun ja, eine Holzpuppe ist.

An diesem Punkt dreht sich alles um, es wird zu einer Mischung aus Horror, Thriller, Fantasie und Puppenspiel - mit Showbiz-News dazwischen. Das ist die Rolle von Carax, der aus einer Pop-Oper ein Psycho-Musical machte. Nach Lars von Triers »Dancer in the Dark« (2000), der dem Gute-Laune-Musical ein Ende gesetzt hat, dekonstruiert nun Carax dieses Genre in seiner Art.

Der Film spielt stets mit Kontrasten; insbesondere mit Leben und Tod. Zudem haben wir es mit zwei unterschiedlichen Performer*innen zu tun - Spoiler: eigentlich drei, denn auch Annette aka Puppe performt. Nicht nur die Charaktere von Ann und Henry sind extrem gegensätzlich, sondern auch deren Performances: hohe Kunst vs. Unterhaltung. In einer Szene fragt Ann Henry, wie seine Show war. »Ich habe sie fertiggemacht, zerstört, getötet«, sagt er. Und ihr Auftritt? »Ich habe sie gerettet«, sagt sie.

Während die meisten Lieder von Sparks, die Driver und Cotillard singen, aus einfachen Sätzen bestehen (Wir lieben einander so sehr/Es widerspricht der Intuition, Baby/ Und doch bleiben wir), die ständig auch wiederholt werden, möchte Carax, der einst für die Zeitschrift »Cahiers du cinéma« Filmkritiken schrieb, gerne eine verwickelte Handlung haben - Absurdität und Verfremdungseffekte inklusive. Ob das wirklich geschah, ob das nur ein Albtraum war, ob das überhaupt Sinn ergibt - das alles braucht man sich bei diesem Werk nicht zu fragen.

»Annette« ist letztendlich ein Musical, das nicht von seiner Musik lebt (sorry, Sparks!), sondern von seiner Regie. Und nicht zuletzt von seiner Kinematografie. Und da ist auch die Kamera von Caroline Champetier hervorzuheben. Das Visuelle hat in diesem Werk mehr Kraft als das Gesungene. Wie Henrys Szenen oft mit grünen Farbtönen begleitet werden, Anns wiederum mit gelben, ist nur ein Beispiel für die hervorragende künstlerische Bildgestaltung. Für den Film, der dieses Jahr das 74. Filmfestival von Cannes eröffnete, gewann Carax den Preis für die Beste Regie.

In einem Interview sagte der Regisseur, dass »Annette« für ihn ein »experimenteller Film« sei. Er scheint lange auf ein solches Experiment gewartet zu haben. Denn er zeigt alle Widersprüche, die zu seinem Kino gehören, nun in einem einzigen Werk, mischt ruhig die Genres, zerlegt sie eher; es gelingt ihm, Pinocchio, Oper und MeToo zusammenzubringen, ein Werk daraus zu machen, das genauso trashig ist wie künstlerisch, kindisch wie obszön. Und noch dazu spricht er uns als Zuschauer*innen direkt an, veralbert uns, verbietet uns das Atmen - nicht im übertragenen Sinne und nicht, weil der Film so atemberaubend ist. Sondern er sagt uns klar im Vorspann, dass wir bitte nur in Gedanken lachen, klatschen, weinen, gähnen, buhen oder pupsen sollten. Und dass atmen auch nicht geduldet werde.

Wo die Künstlichkeit üblich ist, möchte Carax die Realität haben - und umgekehrt. Zum Beispiel will er echten Gesang vor der Kamera, anstatt die Songs vorher im Studio aufzunehmen. So muss Cotillard etwa während der Sexszene oder beim Schwimmen auch live singen. Aber ein reales Baby wiederum möchte Carax nicht zeigen; da nutzt er lieber eine Puppe und lässt die Puppenspieler*innen dann in der Postproduktion entfernen.

»Ein paar Filmemacher mag ich, die die nackte Realität abbilden. Ich bewege mich immer weiter davon weg, je künstlicher, desto besser. Ich hoffe indes, dass meine Filme real sind«, sagt der Regisseur, der in der Kino-Welt für beides bekannt ist: Wahnsinn und Genialität.

»Annette«: Frankreich, Belgien, Deutschland, USA 2021. Regie: Leos Carax. Buch: Leos Carax, Ron Mael, Russell Mael. Mit: Adam Driver, Marion Cotillard, Simon Helberg. 140 Min. Start: 16. Dezember.

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