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Wie in einer anderen Welt

Das US-Filmfestival Sundance fand zum zweiten Mal digital statt. War es ein kollektives Erlebnis? Und wie!

Sobald das Sundance-Filmfestival in Utah beginnt, hat man das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein. Und das ist schön und traurig zugleich.

Am 20. Januar begann das Filmfestival für unabhängige US-amerikanische und internationale Produktionen als komplette Online-Veranstaltung. Einen Tag nachdem das Leitungsduo der Berlinale, Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian, auf der - live gestreamten - Pressekonferenz Programm und Konzept der diesjährigen Berliner Filmfestspiele vorgestellt hatte: Sie sollen als Präsenzveranstaltung stattfinden. Denn das kollektive Erlebnis stehe im Mittelpunkt eines Filmfestivals, betonte Chatrian.

Gewinner*innen des Sundance 2022

Bester US-Spielfilm: »Nanny« von Nikyatu Jusu
Beste US-Doku: »The Exiles« von Ben Klein und Violet Columbus
Beste Regie – US-Spielfilm: Jamie Dack für »Palm Trees and Power Lines«
Beste Regie – US-Doku: Reid Davenport für »I Didn’t See You There«
Publikumspreis – US-Spielfilm: »Cha Cha Real Smooth« von Cooper Raiff
Publikumspreis – US-Doku: »Navalny« von Daniel Roher

Bester Welt-Spielfilm: »Utama« (Bolivien) von Alejandro Loayza Grisi
Beste Welt-Doku: »All That Breathes« (Indien) von Shaunak Sen
Beste Regie – Welt-Spielfilm: Maryna Er Gorbach für »Klondike« (Ukraine)
Beste Regie – Welt-Doku: Simon Lereng Wilmont für »A House Made of Splinters« (Dänemark)
Publikumspreis – Welt-Spielfilm: »Girl Picture« (Finnland) von Alli Haapasalo
Publikumspreis – Welt-Doku: »The Territory« (Brasilien) von Alex Pritz

Festival Favorite Award: »Navalny« von Daniel Roher

Auf der Pressekonferenz des Sundance-Festivals wurde interessanterweise eine andere Definition von »kollektivem Erlebnis« präsentiert. Nachdem Sundance schon 2021 überwiegend als Online-Festival stattgefunden hatte und damit so viel Publikum erreichen konnte wie nie zuvor in seiner Geschichte, hatte sich das Leitungsteam entschieden, das Festival dieses Jahr als hybride Veranstaltung (Präsenz und online) zu organisieren. Dann kam Omikron, und die Veranstalter*innen wechselten wieder zu einem reinen Online-Festival.

Grundsätzlich hat das Sundance-Team vor, das Festival auch dann, wenn die Pandemie vorbei ist, hybrid zu veranstalten, damit die Interessierten, die wegen körperlicher Beeinträchtigungen oder aus finanziellen Gründen nicht nach Utah reisen können, eine Chance bekommen, es sich anzuschauen.

»Ich glaube, die Möglichkeit, unser Publikum noch expansiver auszuweiten, ist eine unschätzbar wertvolle Dimension unseres Festivals. Nachdem wir nun herausgefunden haben, dass wir das tun können, möchte ich persönlich das nicht mehr rückgängig machen«, sagte Tabitha Jackson, die Direktorin des Sundance-Festivals.

Hört man diese Sätze, fühlt man sich in einer anderen Welt. Denn wer interessiert sich schon sonst dafür, dass manche Menschen etwa aus finanziellen Gründen nicht reisen können? In dieser Welt, in der sich die sogenannten renommierten Festivals ihre angebliche Wichtigkeit und Besonderheit selbst verleihen, indem sie den Zugang für viele Menschen so einschränken, dass am Ende fast nur die Elitären und die Privilegierten mitmachen können (und man dort jährlich dieselben Gesichter aus denselben Medien sieht), da macht Sundance genau das Gegenteil.

Es ist interessant zu vergleichen: Für die einen ist ein kollektives Erlebnis nur dann möglich, wenn ein paar Menschen nebeneinander im Kinosaal husten. Die anderen hingegen verstehen unter »kollektiv« etwas ganz anderes: Je mehr Menschen Zugang zum Erlebnis haben, desto kollektiver ist das Erlebnis. Während manche sich also immer noch danach sehnen, das Format von gestern zurückzuhaben, denken die anderen an die Zukunft nach der Pandemie, an die neuen Formen, die beides ermöglichen: physischen und digitalen Austausch, damit das Festival, das Erlebnis, vielstimmiger, vielfältiger, noch inklusiver, ja kollektiver wird. Denn die Pandemie ist nur eines von vielen Hindernissen. Beispielsweise wäre es für die Autorin dieses Textes nahezu unmöglich gewesen, zur Festivalberichterstattung in die USA einzureisen, allein schon wegen ihres »schlechten« Passes - von den finanziellen Hürden ganz zu schweigen. So einfach kann man von dem kollektiven Erlebnis ausgeschlossen sein.

Es ist daher schön, sich während des Sundance-Festivals in einer anderen Welt zu fühlen, die nicht nach dem Motto funktioniert: Körperliche Beeinträchtigung? Kein Geld? Kein guter Pass? Pech gehabt, selber schuld! Und das ist traurig, weil die reale Welt eben so funktioniert.

Doch dieses US-Festival hat seine ganz eigene, andere Normalität. Dass dort mehr als die Hälfte der Projekte von Frauen gemacht wird, ist genauso normal wie die Routine, dass bei jeder Gesprächsrunde auch ein*e Gebärdensprachenübersetzer*in dabei ist.

Sundance hat vor allem zwei Hauptwettbewerbe, einen für US-amerikanische und einen für internationale Produktionen. Jeder Wettbewerb wird jeweils in zwei Sektionen unterteilt: Spielfilm und Dokumentarfilm. Dieses Jahr wurden insgesamt 35 Dokumentationen und 46 Spielfilme aus 41 Ländern präsentiert. Davon konkurrierten jeweils zehn Titel im US-Spielfilm-, Welt-Spielfilm-, US-Doku- und Welt-Doku-Wettbewerb. Der Rest lief außer Konkurrenz.

Die Preisverleihung fand am vergangenen Freitag statt. Neben den Hauptauszeichnungen war auch der Publikums-Favoriten-Preis ein Highlight. Ausgewählt aus allen Festival-Sektionen, ging er an den US-Dokumentarfilm »Navalny« des kanadischen Regisseurs Daniel Roher, der vom Giftanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexei Navalny handelt. Auch die US-Dokumentation »Phoenix Rising« von Amy Berg aus der Sektion Special Screenings fand ein großes Echo: Die Schauspielerin Evan Rachel Wood erhebt erneut Vorwürfe gegen den Musiker Marilyn Manson. Sie erzählt, wie sie in einer Sex-Szene bei einem Videodreh unabgesprochen vor der Kamera tatsächlich von ihm penetriert wurde.

Generell war die große Zahl starker, oft politischer und gesellschaftskritischer Dokumentationen bemerkenswert. Der Dokumentarfilm »The Janes« der Regisseurinnen Tia Lessin und Emma Pildes, der im US-Doku-Wettbewerb Premiere hatte, erzählt die Geschichte des »Jane Collective«, einer Underground-Frauengruppe in Chicago, die in den Jahren von 1969 bis 1973, als in den USA Schwangerschaftsabbruch noch verboten war, Frauen sichere, bezahlbare oder auch kostenlose illegale Abtreibungen anbot.

In jener Zeit, in der sogar Verhütungsmittel oder Geburtskontrolle nur für verheiratete Frauen erlaubt waren, hatten die Frauen, die eine ungewollte Schwangerschaft abbrechen wollten, nicht so viele Möglichkeiten. Sie legten teilweise aus Verzweiflung selber an sich Hand an oder mussten zur Mafia gehen. Eine Frau erzählt in der Doku, wie sie in einem Motelzimmer eine Abtreibung erlebte - ohne Betäubung, damit sie danach noch bei Sinnen war, um schnell zu verschwinden. Im besten Fall verließen die Frauen solche Motelzimmer, ohne von der Mafia noch sexuell missbraucht zu werden. Viele probierten auch im Selbstversuch abzutreiben und verletzten sich dabei oder starben gar.

So gründeten einige Frauenrechtsaktivistinnen und Feministinnen ein Kollektiv, um Frauen sichere Abtreibungen zu ermöglichen. Sie nannten sich Janes. Ihre Anzeigen waren kurz und knapp gehalten und überall zu finden, etwa in Underground-Zeitschriften und an Busstationen: »Schwanger? Brauchst Hilfe? Ruf Jane an!« Auf einem Anrufbeantworter mussten Frauen ihren Namen und eine Rufnummer hinterlassen. Die Janes meldeten sich dann zurück und arrangierten einen Termin, um den Prozess mit den Schwangeren zu besprechen. Sie organisierten sichere Häuser, besorgten Medikamente und Ausrüstung. Sie änderten ständig ihre Treffpunkte, benutzten Pseudonyme, um ihre Aktivitäten vor der Chicagoer Polizei geheim zu halten. Circa 11 000 Abtreibungen wurden von den Janes durchgeführt, meist für Frauen aus ärmeren Schichten und Frauen of Color. In der Doku kommen einige Jane-Mitglieder zum Wort.

Der libanesische Dokumentarfilm »Sirens« von Rita Baghdadi aus der Sektion Welt-Doku-Wettbewerb handelt von der einzigen Thrash-Metal-Frauen-Band im Nahen Osten: Slave to Sirens. Sie besteht aus fünf jungen Frauen, die in Beirut leben. Vor allem wird die Leadgitarristin Lilas begleitet, die in einem Beiruter Vorort mit ihrer Mutter und ihrem Bruder wohnt. Neben den Proben und Auftritten mit der Band unterrichtet sie Musik in einer Schule. Slave to Sirens werden von einem Musik-Magazin entdeckt und daraufhin eingeladen, in England auf dem Glastonbury Festival zu spielen. Während der Dreharbeiten ändert sich die politische Lage in Beirut. Die Massenproteste von 2019 und 2020 und die Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut 2020 sind nicht nur der reale Hintergrund des Films, sondern werden auch Teil des Entwicklungsprozesses dieser jungen Frauen.

Die marokkanisch-amerikanische Regisseurin Baghdadi ist in der sogenannten Post-9/11-Ära in den USA aufgewachsen. Sie war sehr betroffen, als sie erkannte, wie arabische Charaktere in Spielfilmen dargestellt werden: dämonisierend und herabsetzend. In keinem Film konnte sie eine Frau finden, die ist wie sie selbst. Dann lernte sie die Frauen-Metal-Band aus Beirut kennen. Für sie sei das die Gelegenheit gewesen, endlich den Film zu machen, nach dem sie sich all die Jahre gesehnt hatte: »Einen Film, in dem arabische Frauen die Stars ihrer eigenen Geschichte sein können«, so Baghdadi. Einen Film, in dem Araberinnen fluchen, schreien, toben und offen über Sexualität reden könnten, ohne sexualisiert zu werden.

Auf ihre Art besonders war auch die britische Dokumentation »We Met in Virtual Reality« von Joe Hunting. Sie wurde komplett in der virtuellen Realität (VR) aufgenommen. Während der Pandemie hat Hunting verschiedene Menschen in den VR-Communitys, VR-Chats und sozialen VR-Plattformen verfolgt und sie mit einer speziellen Kamera gefilmt. »In dieser Doku geht es nicht um die VR-Technologie«, meint Hunting, »Das ist ein Film über zeitgenössische Online-Beziehungen, -Identitäten und -Communitys.« Zu sehen sind Ganzkörper-Avatare. Mal als sexy Manga-Figuren, mal als fantastische Kreaturen; Menschenkörper mit Hörnern und Schwänzen, mit Vogelköpfen, als sonderbare Tiergestalten.

Wir betreten unterschiedliche Orte, die mal zum Spielen da sind, mal zum Tanzen, für Sport oder für andere soziale Tätigkeiten. Jenny ist eine der Protagonist*innen, ihr Avatar ist ein Manga-Mädchen mit Brille und sehr langen rosa Haaren. Als Lehrerin bringt sie innerhalb der VR-Community gehörlosen Menschen die US-amerikanische Gebärdensprache bei. Ein Paar hat sich in einem exotischen VR-Tanzclub kennengelernt. Eine Person erzählt, dass sie schon einen Selbstmordversuch hinter sich hat. In der VR habe sie nun eine Community gefunden, die für sie da sei. Diese Menschen in der VR zu treffen, sei für sie ein Grund, jeden Tag aufzustehen.

In der Live-Gesprächsrunde nach der Premiere konnte man sehen, dass Jenny, deren Haare im unteren Teil rosa sind, ihrer Manga-Figur ziemlich ähnlich ist. Neben ihr und Regisseur Hunting waren noch zwei weitere Protagonist*innen anwesend - als Avatare, also genauso, wie sie in der VR-Welt zu erleben sind. »Das ist eine verwirrende Welt und verständlicherweise auch gruselig, wenn man keine Idee hat, was das ist«, sagt Jenny. »VR kann man aber als ein Tool benutzen, um sich zu verbinden, zu lernen, zu wachsen, zu trauern und um Sachen auszudrücken, die vielleicht in der eigentlichen Welt unmöglich sind.«

Verblüffenderweise ist es ein befreiender Moment, etwa mit einem fantastischen Hasen zu kommunizieren - jenseits der Erwartungen, die die Gesellschaft von den Individuen hat. In einer VR-Welt, wo Gender, Sexualität, körperliche Beeinträchtigungen und sogar Traumata nicht in erster Linie eine Rolle spielen, finden manche Menschen, dass sie hinter ihren Avataren sie selbst sein können. Ob man selber das erleben will oder nicht, kann jede*r für sich entscheiden. Aber dass die eigentliche Welt mit ihrer sogenannten Normalität für etliche unerträglich scheint, ist leicht zu verstehen.

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