Lumpensammler in Walhall

Alexander Kluge wird 90. Der Medienguerillero hat banale Sprechblasen zum Platzen gebracht

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 6 Min.
Ob Filmer, Schriftsteller, Fernsehguerillero: immer raus aus der Nische - das Motto des Alexander Kluge
Ob Filmer, Schriftsteller, Fernsehguerillero: immer raus aus der Nische - das Motto des Alexander Kluge

Am Anfang waren die Bomben. Feuersturm am Himmel und schreiende Kinder im Keller, stürzende Straßen und platzende Lungen. Immer wieder lässt Alexander Kluge dieses eine Bild nachflackern. Die alliierten Flächenbombardements von Halberstadt, die das Beinah-noch-Kind im letzten Kriegsfrühling 1945 erlebte, wurden für den Erwachsenen zur Mutter aller Erfahrungen. »Ohne die Schilderung des Luftangriffs«, hat er einmal gesagt, »hätte ich viele andere, kleinere Geschichten nicht erzählen können«. Weit über die frühe persönliche Erinnerung hinaus ist der Ausnahmezustand für den Autor und Filmemacher zum Lebensthema geworden. Von der Studentenrevolte über den RAF-Terrorismus bis zur Pandemie: Kluge kommentiert stets im Bewusstsein der Extremsituation.

Beneidenswert geisteswach geblieben, feiert der Arztsohn aus dem Harz-Vorland heute seinen 90. Geburtstag. Sein noch lange nicht abgeschlossenes Oeuvre bildet den diskursiven Verkehrsknotenpunkt, der traditionellen Marxismus, neulinke Frankfurter Schule und Niklas Luhmanns Systemtheorie verklammert. Obwohl Kluge den Büchner-Preis und einen Silberlöwen aus Venedig bekam und prominente TV-Fernsehgesichter wie Hannelore Hoger oder Barbara Auer für ihn spielten, gilt er aus medienökonomischer Perspektive als »Quotenkiller«, wie ein ehemaliger RTL-Chef urteilte. Den Geschmähten dürfte das nicht getroffen haben: Echten Kultstatus erlangt man nur aus der Nische heraus.

Sein Studienfach hatte dem gelernten Juristen eigentlich einen anderen Berufsweg gewiesen. Doch dann führt das Referendariat den frisch promovierten Dr. jur. nach Frankfurt am Main, wo er dem Justiziar des Instituts für Sozialforschung zuarbeitet. Plötzlich steht Kluge im Epizentrum der sich formierenden 68er-Bewegung. Er legt die bisherigen Karrierepläne zu den Akten und macht sich das Prinzip der Ideologiekritik zu eigen. Keine Wissenschaft, keine Rechtsprechung und auch keine Kunst funktioniert frei von Herrschaftsinteressen. Vor diesem Horizont bewegen sich seine frühen Kurzfilme und Prosatexte ebenso wie die 2008 entstandene Verfilmung des »Kapitals« von Karl Marx. »Nachrichten aus der ideologischen Antike: Marx - Eisenstein - Das Kapital«, betitelt der Liebhaber des Mehrdimensionalen die neunstündige Theorieoper mit Helge Schneider als Karl Marx. Kaleidoskopartig wird das Hauptwerk des Kommunismus in ironischen Spielszenen belebt und im Kontext der neoliberalen Finanzmarkthegemonie des 21. Jahrhunderts neu bewertet.

Ob schreibend, filmend oder lehrend - fast sein ganzes Leben hat Kluge den Lauf der politischen Welt durch die Jahrzehnte begleitet, weshalb feuilletonistische Porträts ihm gern das Etikett »Chronist der Zeitgeschichte« anheften. Dabei ist dieser Begriff für den Medienguerillero viel zu traditionell. Kaum jemand hat Geschehnisse so radikal aus dem Korsett der Chronologie gelöst wie Kluge.

Genau darin liegt der hinterlistige Titelschlenker seines literarischen Großwerks »Chronik der Gefühle« aus dem Jahr 2000. Der Zweiteiler aus unverbundenen Anekdoten, längeren Erzählungen und philosophischen Aperçus addiert sich erst in der Gesamtschau zu einem psychopathologischen Gesellschaftspanorama. Bewusst hält die spröde Schönheit den Leser auf Abstand. Denn nur aus der Distanz sieht man das Ganze.

Geschult an der jähen Schnitttechnik des sowjetrussischen Kamerarevolutionärs Sergej Eisenstein, fand Kluges Filmkunst zu einer Narration der großen Sprünge. »Abschied von gestern« (1966) etwa rekonstruiert in dramaturgisch locker verknüpften Episoden die haltlose Odyssee einer jungen Ex-DDR-Bürgerin durch den westdeutschen Nachkriegskapitalismus. Feinfühlig enttarnt der Spielfilm das Fortdauern antijüdischer Ressentiments und die Mentalität sozialer Kälte.

1962 zählte Kluge zu den Regisseuren, die im »Oberhausener Manifest« dem deutschsprachigen Kino den Postnazi-Muff austrieben: »Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.« Mit Themen vom Wundrand der Gesellschaft und Rechenschaftsforderungen an die Vergangenheit. Gelernt hat der Kinopartisan sein Handwerk gleichwohl bei einem Altmeister. Als Assistent von Fritz Lang wirkte Kluge an der Produktion des Nachkriegsklassikers »Der Tiger von Eschnapur« mit.

Zu einer festen Größe in der Kulturlandschaft wurde der Allrounder freilich erst in den 90ern durch seine Beiträge für verschiedene Privatsender. Allen voran jener Pfahl im Billigfleisch des RTL-Programms: die Kultsendung »10 vor 11«, die meist sehr viel später lief, als der Titel suggeriert. Kaum zu glauben, dass sich die kalkulierte Publikumsüberforderung bis 2018 behauptet hat!

Neue Maßstäbe setzte insbesondere Kluges prägnante Interviewtechnik: Die Gespräche erweiterten sich zum dialogischen Essay. Der kongeniale Stichwortgeber weiß, welchen Knopf er bei seinem Gesprächspartner drücken muss, um Reflexionsprozesse auszulösen. Das funktionierte bei Heiner Müller ebenso kongenial wie bei Christoph Schlingensief. Kluges dekonstruierender Journalismus zielt darauf ab, die blubbernden Sprechblasen gängiger Unterhaltungsformate zum Platzen zu bringen. »Produkte lassen sich wirksam nur durch Gegenprodukte widerlegen.« Diese These hatte Kluge bereits 1972 in der zusammen mit dem Soziologen Oskar Negt verfassten Studie »Öffentlichkeit und Erfahrung« entwickelt.

Wahrscheinlich findet sich kein Intellektueller aus den bundesrepublikanischen 60ern, dem es derart nachhaltig gelungen ist, Theorie in Praxis zu überführen. Das beweist nicht zuletzt der ökonomische Erfolg seiner Produktionsgesellschaft dctp. Doch schon bei seiner kurzen, aber prägenden Zwischenstation in Ulm bewies der brillante Kopf, dass er auch anpacken kann. An der »Hochschule für Gestaltung«, einer Nachfolgeinstitution des Bauhauses, stampfte er gemeinsam mit Edgar Reitz eine Abteilung für Film aus dem Boden.

Viel von dem, was damals noch verstiegene Avantgarde war, hat Kluge für das Mainstream-Fernsehen erschlossen. Zum Beispiel die Durchdringung von Fakt und Fiktion. Im frühen »Abschied von gestern« etwa spielt der Frankfurter Nazi-Ankläger Fritz Bauer in einer Nebenrolle gleichsam sich selbst. Kluges TV-Magazine gestalten sich in der Überlagerung der Ebenen als collagierte Reportagen, die dokumentarisches Material und Interviews mit Spielfilm- oder Opernzitaten kombinieren.

Im Unterschied zu einem Guido Knopp, dessen »ZDF-History«-Sendungen heroisch dröhnende Ereignisgeschichte zelebrierten, hält sich der Liebhaber der Nebenwege an die Überzeugung Walter Benjamins, wonach der wahre Historiograph ein Lumpensammler sei. Kluges Text- und Bildcollagen schlagen Bögen über alle Epochen, alle Genres. Bald kommentiert der Universalgelehrte Gendertheorie mit der antiken Orpheus-Sage, bald liest er das mittelalterliche Rolandslied vor dem Hintergrund von Stalingrad. In einem offenen Brief an den italienischen Philosophen (und Corona-Maßnahmenkritiker) Giorgio Agamben schließlich bemüht Kluge das Grimm-Märchen von den sieben Geißlein, um die Pandemie zu erklären: So wie der Wolf die Ziegenkinder täusche, indem er seine Pfote mit Mehl bestäubt, trickse das Coronavirus die menschliche Infektabwehr aus.

Im Nebeneinanderstellen von Differenzen liegt für Alexander Kluge die Möglichkeit der Erkenntnis. Seine Methode besteht gleichsam in einer Kreuzimpfung der Gegenwart mit unterschiedlichen Vergangenheiten, um für die Zukunft zu immunisieren. Egal, ob Halberstadt, Hiroshima oder das Walhall aus Richard Wagners »Götterdämmerung« in Flammen aufgehen - Bilder vollenden sich erst im Text, Ereignisse erst im Parallelfall. Aus dem Off rückt Kluges eigene Stimme die Dinge zurecht. Sein Sprechen wird oft als emotionslos bezeichnet, und tatsächlich erinnert der kühle Vortrag an einen Staatsanwalt beim Verlesen der Anklageschrift. Doch genau damit findet der Filmdenker nicht nur zu seinen juristischen Wurzeln zurück, nein, er tut auch das einzige, was gesellschaftlich relevante Kunst vermag: die Wirklichkeit vor Gericht bringen. Das Urteil sprechen andere.

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