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Alles eine Frage der Balance
Hannes Köhler über anarchistische Bewegungen, politische Ideale und seinen Roman »Götterfunken«
Wir befinden uns in schwierigen Zeiten. Die russische Armee überfällt völkerrechtswidrig die Ukraine. Dazu schrieben russische Anarchist*innen auf der Plattform crimethInc: »Wir wollen nicht für irgendwelche Staaten Stellung beziehen. Wir sind Anarchist*innen und sind gegen jede Nationalgrenze. Aber wir sind gegen diese Annexion, weil sie nur neue Grenzen schafft, und die Entscheidung darüber trifft allein der autoritäre Führer - Wladimir Putin. Dies ist ein Akt imperialistischer Aggression durch Russland.« Würden die Protagonist*innen ihres Romans nun zu den Waffen greifen?
Die altgewordenen Protagonist*innen sicher nicht. Aber auch die Gruppen junger Anarchist*innen aus den 70er Jahren, so glaube ich, hätten nur dann zu den Waffen gegriffen, wenn von einem derartigen Angriffskrieg ihr eigenes Land betroffen wäre. Oder aber, wenn sie in dem überfallenen Land eine anarchistische Perspektive gesehen hätten. Denn bei aller jugendlicher Abenteuerlust, die die Männer und Frauen in den 70ern nach Barcelona getrieben hat, ist es eben auch die Hoffnung, dass eine wiedererstarkte, anarchistische Bewegung im Spanien einer Post-Franco-Ära eine wichtige Rolle spielen könnte. Eine derartige Perspektive würden sie heute in der Ukraine nicht sehen. Ich denke also, dass sie sich humanitär engagieren, Geflüchteten helfen und Unterstützung organisieren würden. Aber nicht in die Ukraine gehen, um dort mit der Waffe zu kämpfen.
In Ihrem Buch »Götterfunken« geht es um Militanz, um den Widerstand gegen den Franco-Faschismus. Der Anarchist und Antimilitarist Fritz Oerter schrieb in der Weimarer Republik: »Es entwürdigt den Menschen, wenn er Gewalt erduldet, aber es entwürdigt ihn noch mehr, wenn er sie verübt.« Welche Folgen hat die Militanz für die Figuren ihres Romans?
Auch wenn sich die Gewalt, die die Protagonist*innen selbst ausüben, nie direkt gegen Personen richtet, übersteht keine und keiner von ihnen die Zeit unversehrt. Am offensichtlichsten ist sicher Toni betroffen, der Spanier. Er wird als Einziger verhaftet, und die Gewalt, die er im Gefängnis erlebt, gepaart mit dem Gefühl, mit der Gruppe und auch ganz persönlich gescheitert zu sein, prägen seine Sicht auf das eigene Leben bis in die Gegenwart. Seine (Ex)Partnerin Mireia wiederum bleibt bis in die Gegenwart politisch aktiv, ist aber kontinuierlich mit dem Widerspruch zwischen den Idealen ihrer Jugend und der politischen Praxis konfrontiert. Für Germain hat die Zeit in Barcelona eine fast idealisierte Bedeutung gewonnen, mit der sich die Gegenwart nur schwerlich messen kann, auch wenn ihn ein Zufall bis an die Ränder der politischen Macht bringt. Seine Frau Catherine ist enttäuscht von der Politik den Weg in die Wissenschaft gegangen, weil sie sich dort den Weg zu Aufklärung und gesellschaftlichem Wandel erhoffte. Aber auch dieser Weg scheint gescheitert zu sein. Und Jürgen, der Deutsche, lebt infolge der Ereignisse seit den 70ern eine Lüge, die im Kern auch die Frage nach Solidarität und Loyalität vor dem Eindruck eigener und äußerer Gewalt berührt. Wie alle Protagonist*innen mit diesen Altlasten umgehen, ist eine der zentralen Fragen des Romans.
Gegen Ende des Romans greifen Sie auch die Unabhängigkeitsbewegung Kataloniens auf. Kann eine nationale Unabhängigkeitsbewegung libertär und kosmopolitisch sein?
Kurze Antwort: Nein. Und ein wenig länger: Mir ist natürlich bewusst, dass die katalonische Unabhängigkeitsbewegung vielschichtig ist, und Parteien von ganz links bis ziemlich erzkonservativ sie unterstützen. Und natürlich wird gerade im linken Spektrum versucht, hier ein Narrativ des Widerstands gegen ein Unterdrückungsregime zu kreieren. Aber in meinen Augen hält dieses Narrativ einer Prüfung eben keineswegs stand. Auch Toni, der Spanier, fragt sich im Roman, wo in der linken Bewegung eigentlich der globale Gedanke geblieben ist. Natürlich hat dieser weiterhin sehr aktive Vertreter*innen, ließe sich einwenden, aber der desillusionierte Toni sieht diese nicht mehr, weil er im Alltag vor allem Menschen sieht, die zwar den linken Widerstand propagieren, dabei aber erschreckend nationalistischen Traum- und Feindbildern anhängen. Eine Trennung zwischen den Spanier*innen und den Katalan*innen ist dabei in meinen Augen ebenso albern, wie alle anderen Versuche nationaler Grenzziehungen zwischen Menschengruppen, die seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten Seite an Seite leben.
Anarchist*innen standen in der Historie häufig zwischen den Stühlen, da sie sich sowohl dem Kapitalismus als auch dem Staatssozialismus verweigerten. Sie wollten nicht das eine System durch das andere ersetzen. In der Spanischen Republik wurde die herrschaftsfreie Utopie für kurze Zeit Realität und wirkt bis heute nach. Worin sehen Sie ein Erbe dieser Zeit und in welchen Punkten kann sie für uns auch heute noch zielführend?
Das Problem der Anarchist*innen im Bürgerkrieg und seiner Nachwirkung ist sicher, dass sie im doppelten Sinne Verlierer*innen waren. Sowohl gegenüber den stalinistisch-kommunistischen Elementen innerhalb der Republik, als letztendlich eben vor allem auch gegenüber den Faschisten um Franco. Abgesehen davon, dass zum Beispiel die anarcho-syndikale Bewegung und die Gewerkschaft CNT besonders in Aragón weiterhin einen spürbaren Einfluss haben, sehe ich vor allem in vielen kommunitären Projekten, Gemeinschaftsstrukturen auf politischer, aber vor allem auch der Ebene ganz konkreter Lebenswelten - zum Beispiel gemeinschaftliches Wohnen, solidarisch organisierter Nachbarschaftshilfe etc. - immer wieder Elemente der Organisation, die eigentlich einem anarchischen Grundgedanken der herrschaftsfreien Organisation von unten nach oben herauf folgen. Das Problem daran ist, dass vor allem in Deutschland der Anarchismus in weiten Teilen der Gesellschaft einen derart schlechten Ruf hat, dass kaum jemand auf den Gedanken käme, derartige Strukturen als anarchistisch zu begreifen. Aber vielleicht ist das ja auch gerade das Glück: das sich derartige Dinge durchsetzen können, ohne fest an Theorien gebunden zu sein. Das ist ja beinahe schon wieder ein anarchistischer Gedanke.
»Anarchie ist Sozialismus und Freiheit in einem. Freiheit ohne Sozialismus besteht aus Privilegien, und Sozialismus ohne Freiheit bedeutet Gewalt und Unterdrückung«, schrieb der Russe Michail Bakunin, der als einer der Begründer es Anarchismus gilt. Worin besteht heute die Herausforderung zwischen Individuum und Kollektiv, wenn man von dem anarchistischen Grundpfeiler der Solidarität ausgeht?
Das Problem war und ist in meinen Augen immer die Frage der Balance. Einerseits zwischen individueller Freiheit und gemeinschaftlicher Solidarität und Einheit. Und andererseits auf struktureller Ebene zwischen der sehr funktionalen anarchistischen Organisationsstruktur im Kleinen, der Assoziation, und der Frage danach, ob und wie sich daraus ein größeres Etwas zusammenfassen lässt. Die Anarcho-Syndikalisten Spaniens - und auch anderer Länder - sehen in den Gewerkschaften die zentrale Option für eine größere Organisationsstruktur ohne oppressive Machtausübung. Die Frage ist aber natürlich, ob so am Ende nicht der verhasste Staat durch andere Dinge ersetzt wird, die auf das Gleich hinauslaufen. Ich denke, dass diese im Anarchismus gewünschte Balance zwischen Individuum und Kollektiv eben eine sehr anstrengende ist, weil sie immer wieder neu verhandelt werden muss. Ich möchte damit keineswegs sagen, dass dieses stetige Neuverhandeln eine schlechte Idee ist. Ich sehe darin aber etwas, das viele Menschen abschreckt, weil es für ihren Alltag eine stetige Unruhe bedeuten würde.
Hannes Köhler: Götterfunken. Ullstein, 368 S., geb., 24 €.
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