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Was ist weise?
Reiner Steinweg hat ein halbes Jahrhundert – mit und ohne Brecht – der Gewalt- und Konfliktprävention gewidmet
Chausseestraße 125, Berlin-Mitte. Hier wohnte von 1953 bis zu seinem frühen Tod 1956 der aus dem Exil zurückgekehrte Bertolt Brecht, nur einen kurzen Fußweg vom Berliner Ensemble und Deutschen Theater entfernt, im östlichen Stadtteil. Hier trafen renommierte Künstler aus aller Welt und junge Mitarbeiter und Schüler für die Arbeit mit dem Meister zusammen. An den langen Tischen mit den übergroßen Aschenbechern sitzend, die an Obstschalen erinnern – und heckten Pläne aus für die Revolution im Theater, diskutierten über Kunst und Politik. Und hier – wo auch sonst? – treffe ich auf Reiner Steinweg, fast 83 Jahre alt. Ein einnehmender, ein, wie man ihm ansieht, fröhlicher Mann.
Wir befinden uns nicht in den Räumlichkeiten, die Brecht bewohnt hat, sondern im Vorderhaus, wo sich heute das Literaturforum im Brecht-Haus befindet. Steinweg hat hier einige Tage mit einer Gruppe von Künstlern anhand seiner eigenen Methode Lehrstücktheater praktiziert und wird an diesem Abend noch zu diesem Gegenstand sprechen. Das Lehrstück, so kann man ohne Übertreibung sagen, ist für ihn ein Lebensthema geworden.
Was eigentlich verbirgt sich hinter diesem etwas dröge klingenden Wort Lehrstück? Als eigenes Genre klassifiziert es Steinweg, das lange verkannt worden sei, fehlinterpretiert von der offiziösen Literaturwissenschaft. Brecht hatte sich nach dem spektakulären Erfolg mit der »Dreigroschenoper« der Entwicklung eines neuen Typus Theater zugewandt. Es war die Verabschiedung jeglicher Kulinarik aus dem künstlerischen Erleben: Mit Schülern wollte er ein Theater probieren, das ohne Publikum auskommt. Die Spielenden selbst standen dabei als Lernende im Mittelpunkt. »Die Ausnahme und die Regel«, »Der Jasager«, »Der Neinsager«, »Die Maßnahme« sind die Titel dieser um das Jahr 1930 entstandenen Stücke, die das Verhältnis von Individuum und Kollektiv hinterfragten und ihren Teil beitragen sollten zu jenem Monumentalprojekt, das nicht weniger wollte, als den »neuen Menschen« zu schaffen helfen.
Wo der Anfang seiner Begeisterung für Brecht liegt, der Grundstein für die Beschäftigung mit dem Lehrstück, die nun mehr als fünf Jahrzehnte andauert, möchte ich von Reiner Steinweg wissen. Er kann das genau datieren. 1957, er war 17 Jahre alt, machte er einen Ausflug vom lippischen Lemgo, wo er zur Schule ging, ins Deutsche Theater in Göttingen. Es war eine Reise von hundert Kilometern, um »Mutter Courage und ihre Kinder« in der Regie von Heinz Hilpert zu sehen, jenes Stück, das so unumstößlich klarmacht, dass der Krieg ein Geschäft ist – eines um den Preis von Menschenleben.
»Das hat mich dermaßen aufgewühlt, ich war so fasziniert und erregt durch das Theaterstück. Ich bin in der Pause rausgestürmt und um das Theater rumgelaufen, um meine innere Aufregung irgendwie zu bändigen. Das war wirklich ein sehr starkes Erlebnis«, berichtet Steinweg. Dieses Erlebnis war verknüpft mit einer Erfahrung, die viele Angehörige dieser Nachkriegsgeneration machen mussten: »Das war das Alter, in dem ich kapiert habe, in was für ein System mein Vater als Nazi verstrickt war.«
Etwa zur selben Zeit nimmt er an einem Seminar zur politischen Bildung teil, in dessen Rahmen auch eine Szene aus »Die Maßnahme« von den Teilnehmern gespielt werden soll – um die Blödheit der Kommunisten zu demonstrieren. Steinweg aber ist von Brecht eingenommen.
Als 1965, er ist mittlerweile Student der Literaturwissenschaft, ein Seminar über Brecht angekündigt wird, trommelt er vor Freude auf dem Tisch und erntet dafür schräge Blicke. Die Begeisterung überträgt sich bis heute. Auch jetzt trommelt er für mich und wirkt ansteckend in seiner Lust an diesem – noch immer – neuen Theater. In diesem ersten Seminar wird ihm bereits das Missverständnis der zeitgenössischen Brecht-Forschung klar, die die Lehrstücke als unvollkommene Werke des großen Literaten auf dem Weg zum epischen Theater betrachtet und die eigenen Maßgaben für eine andere Form von ernstem Spiel ignorierte.
Steinweg aber nahm Brechts Intention eines Theaters ohne Publikum ernst. Er promovierte mit einer Arbeit über »Brechts Theorie der Lehrstücke. Ein Theorie-Praxis-Modell«. Es ist eine Doktorarbeit – kein gewöhnlicher Fall –, die ihre Leserschaft weit über den akademischen Bereich hinaus über Jahre fand und noch heute eine Referenzgröße darstellt. Jahr für Jahr verbrachte er einige Wochen im Ostberliner Bertolt-Brecht-Archiv, das ebenfalls in der Chausseestraße 125 untergebracht ist, und ließ sich jedes Notat von Brecht zum Lehrstückkomplex transkribieren. So lag das gesamte »Fatzer«-Fragment erstmals vollständig vor, 600 Blatt Archivgut aus Szenen und Notizen, die Heiner Müller später zur Grundlage seiner eigenen Fassung des Brecht’schen Stoffs machte.
Seiner kleinen Revolution in der Brecht-Rezeption folgten praktische Versuche, nicht nur, aber auch von Steinweg selbst. Er entwickelte eine Methode, die Brechts Äußerungen nicht widerspricht und die durch ihre Einfachheit zur Nachahmung einladen soll, um Selbstreflexion und Gruppenreflexion zu erlernen. »Im Lehrstück gibt es keinen Beifall. Das ist das erste, was ich meinen Teilnehmern sage: ›Im Lehrstück wird nicht geklatscht.‹« Im Verlauf mehrtägiger Workshops unter seiner Anleitung widmet er sich textgetreu je einem Brecht’schen Stück. Sprechen diese Vorlagen, die von Revolution und revolutionärer Gewalt handeln, uns heute noch an? »Das sind großartige Metaphern der Vergangenheit. Aber wir bräuchten auch heute an so einigen Stellen eine neue Weltrevolution, zum Beispiel in Bezug auf das Klima. Da wäre jetzt sehr viel fällig.«
Seit 40 Jahren wird die »Methode Steinweg« erprobt, in der die Spielenden sich Situationen durch Verknüpfung mit ihren biografischen Erfahrungen klarmachen. »Das ist keine psychotherapeutische Sitzung«, sagt Steinweg. Und doch klingt das etwas nach dem Freud’schen Diktum: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Die eigenen Gewaltanteile werden bewusst gemacht und in der Gruppe gemeinsam reflektiert. Er berichtet von einer Frau, die er drei Monate nach einem Lehrstückkurs wiedergetroffen habe und die von der unglaublichen Nachwirkung erzählt: Noch immer hinterfrage sie auf Schritt und Tritt die Rolle, die sie einnehme, die Haltung, die sie im Sinn des Lehrstücks gerade vertrete.
Ob seine zweite Karriere als Friedens- und Konfliktforscher die logische Konsequenz aus der Befassung mit Brechts Lehrstücken ist, will ich wissen. Steinweg lacht, nickend. Er war nie nur Brecht-Forscher. Parallel zu seiner Promotion suchte der Kriegsdienstverweigerer die Nähe zur Studentenbewegung. Seiner akademischen Karriere als Literaturwissenschaftler folgte ein zweites Studium der Politikwissenschaft und Soziologie, und Steinweg wurde so zum Akteur der noch jungen Disziplin Friedens- und Konfliktforschung.
Im Sinne einer friedenspolitischen Einmischung stand bereits sein Engagement in den 60er Jahren, und so ist auch seine Lehrstückpraxis zu verstehen. Später war er im Umfeld des Sozialistischen Büros aktiv, das das K-Gruppen-Sektierertum jener Zeit zu überwinden versuchte. Aktivismus und theoretische Arbeit im Bereich von Abrüstung und Kaltem Krieg, von Männlichkeitswahn und neuen sozialen Bewegungen, von gewaltfreier Aktion und Alltagsgewalt prägten sein Wirken seitdem. 1986 zog der Wahloberösterreicher in die Friedensstadt Linz, von wo aus er heute noch immer gegen den Krieg anstreitet.
In einer Parabel von Brecht, einer seiner Keuner-Geschichten, kommt ein Philosophieprofessor zu Herrn K. und schwärmt diesem von seiner Weisheit vor. Herr K. erbost ihn mit seiner Bemerkung: »Du sitzt unbequem, du redest unbequem, du denkst unbequem.« »Weise am Weisen ist die Haltung« ist dieser Text überschrieben. Steinweg sagt, dieser Titel sei das Motto seiner Lehrstückarbeit.
Der Begriff der Haltung ist für ihn zentral. Haltung, das heißt, sich körperlich in Position bringen, und das tun die Spieler unter seiner Anleitung. Sie theoretisieren nicht, sie kommen, wortwörtlich, in Bewegung. Haltungen einzuüben bedeutet aber auch, sich Anschauungen im Spiel zu eigen zu machen, um sie auszuprobieren, sich so selbst zu begreifen und die Dynamiken in Gruppenkonstellationen zu verstehen, die sich situativ ergeben. Brecht, der, entgegen allen Verunglimpfungen, nie ein Zeigefingertheater etablieren wollte, hat dazu eingeladen, auch asoziale Rollen – im Rahmen seiner Versuchsanordnung Lehrstück – einzunehmen.
Ein Mensch mit Haltung ist auch Steinweg. Er hat Jahrzehnte seines Lebens seinem Kampf für Frieden und Gewaltlosigkeit gewidmet. In Tagen, in denen die »Zeitenwende« gefeiert wird, hinter der sich folgenschwere Aufrüstungspläne und lebensgefährliches Weltmachtgehabe verbergen, ist das alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Reiner Steinweg, denke ich, ist weise.
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