Vom Leben beurlaubt?

Egon Krenz stellt in Berlin den ersten Teil seiner Autobiografie vor

Natürlich kann und will auch Krenz nicht in der Vergangenheit verweilen.
Natürlich kann und will auch Krenz nicht in der Vergangenheit verweilen.

«Historiker werden ihre Entdeckungen machen und die nichtprofessionellen Leser sich sehr gut unterhalten fühlen. Denn Krenz kann erzählen, auch wenn er sich, wie gewohnt, an die verbürgten und belegten Fakten hält. Also nicht Dichtung und Wahrheit, sondern nur Wahrheit.» Mit diesen Worten preist der Verlag die neue Autobiografie des letzten SED-Generalsekretärs und vorletzten Staatsratsvorsitzenden der DDR an. Konzediert wird zugleich, dass es sich hier natürlich um eine subjektive Wahrheit handelt. Geschulte Marxisten wissen, dass die außerhalb und unabhängig unseres Bewusstseins existierende objektive Wahrheit eh von niemandem voll erfasst werden, stets nur Annäherungen an diese geben kann, wie übrigens ein gewisser Lenin bereits in «Materialismus und Empiriokritizismus» dargelegt hat. Und das weiß auch Egon Krenz, der nicht auf Deutungshoheit über die Geschichte des Staates pocht, dem er mit Überzeugung gedient hat, der indes die Requirierung dieser ablehnt durch jene, die in der DDR nicht gelebt haben oder auch nicht willens sind, deutsche Zweistaatlichkeit im Kalten Krieg als eine komplexe Beziehungskiste von Aktion und Reaktion zu begreifen. 

Krenz ist seinem Staat dankbar, der ihm gleich vielen «kleinen Leuten» aus der Arbeiter- und Bauernschaft solide Bildung und Ausbildung, «Karriere» und Aufstieg in die «Elite» ermöglicht hatte, zwei Begriffe, die es damals so nicht gab, wie Matthias Oehme, Leiter der Eulenspiegel-Verlagsgruppe zur Buchpremiere am Donnerstagabend vergangener Woche in Berlin anmerkte. Wie erwartet, war der Münzenbergsaal im Bürohaus am Franz-Mehring-Platz 1, unter anderem Sitz der sozialistischen Tageszeitung «nd», bis auf den letzten Platz belegt. Und es war zweifellos ein «Wohlfühltermin» für Krenz, wozu dieser laut Frank Schumann, der dessen Bücher seit Jahren als Lektor und Verleger betreut, ebenso ein Recht habe wie die Bundeskanzlerin a.D.

Krenz durfte sich unter Gleichgesinnten wähnen, begrüßte die Anwesenden dann aber wohlweislich mit der Formel «Meine Damen und Herren, liebe Freunde … – aber auch Genossinnen und Genossen.» Beifall. Die nachgeschobene Anrede ward dankbar angenommen. Anders im Oktober 1989, als Krenz sich derart in seiner ersten Rede als Nachfolger von Erich Honecker ans Volk der DDR wandte, dieses aber eine solche Vereinnahmung nicht mehr akzeptieren wollte. In jener Ansprache hatte er das Wort «Wende» geprägt, die man ihm allerdings nicht zutraute. Der «Kronprinz Honeckers», wie er in Westmedien geadelt worden war, galt selbst den eigenen Genossen und Genossinnen nicht als Garant für einen grundlegenden Auf- und Umbruch hin zu einem demokratischeren, menschlichen Sozialismus. 

Der ehemalige Erste Mann im Staate bestätigte bei der Buchvorstellung, dass Honecker ihn protegiert hatte, er zu diesem lange ein kameradschaftliches, herzliches und produktives Verhältnis hatte. Das sollte sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre ändern, als Michail Gorbatschow KPdSU-Generalsekretär wurde. «Eine Freundschaft ging zu Ende.» Darüber wird aber erst im zweiten Teil seiner Autobiografie zu erfahren sein, die Ende 2023 erscheint, wie Schumann annoncierte, was vom neugierigen, lesehungrigen Publikum mit einem bedauernden «Oh» quittiert wurde. Der erste Band «Aufbruch und Aufstieg» umfasst die Jahre 1937 bis 1973 (interessant gewiss für Zahlenfetischisten).

Im September 1970, so Krenz, sei er «ahnungslos» in den Konflikt zwischen Walter Ulbricht und Honecker gestolpert. Der damalige Vorsitzende der Pionierorganisation «Ernst Thälmann» hatte in der «Jungen Welt», Organ der alsbald von ihm angeführten Freien Deutschen Jugend (FDJ), die Losung des seinerzeitigen Partei- und Staatschefs «Überholen ohne Einzuholen» begrüßt, die simplen Geistern unlogisch erschien oder erscheinen mag wie damals beispielsweise dem mächtigen Kremlchef Leonid Breschnew. Sie ist indes von solch renommierten Naturwissenschaftlern wie Manfred von Ardenne und Max Steenbeck mitgetragen worden. Es ging darum, neue Wege zu beschreiten, bisher nicht Gedachtes zu denken, um damit eine Steigerung der Arbeitsproduktivität und letztlich des Lebensniveaus der DDR-Bürger zu erreichen. Nach seinem Artikel in der «Jungen Welt» sei ein Donnerwetter über ihn niedergeprasselt, berichtet Krenz. Honecker jedoch habe seine schützende Hand über ihn gehalten: «Die Jugend ist unsere Zukunft.» 

Es war unüberhörbar, dass der Memorierende dennoch Ulbricht mehr schätzt als Honecker. Nicht von ungefähr hat der im pommerschen Kolberg geborene, in Damgarten aufgewachsene und bis 1961 in Rostock lebende Krenz dem Reformen wagenden, mit seiner Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) jedoch von Moskau ausgebremsten Sachsen an der SED-Spitze vor einigen Jahren ein voluminöses Buch mit Zeitzeugenerinnerungen gewidmet. Als die reformträchtigste Zeit nennt der Zurücksschauende jedoch die Jahre der sowjetischen Besatzungsmacht: Schulreform, inklusive Auswechslung NS-belasteter Lehrer und Abschaffung der Prügelstrafe (in der Bundesrepublik erst Anfang der 70er Jahre), Boden- und Justizreform sowie Volksabstimmung zur Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher in Sachsen. Der katholisch getaufte, evangelisch eingesegnete Atheist Krenz berichtet, wie er 1946 Wahlkampf für die CDU machte, um sich ein paar Groschen zu verdienen, beim Überkleben von SED-Plakaten «erwischt» und vor den Parteisekretär von Damgarten zitiert wurde; die unpolitische Mutter bangte: «Jetzt kommst du bestimmt nach Sibirien».« Kam er nicht, verkaufte nunmehr Broschüren von Wolfgang Leonhard, »Der junge Marxist«; von den 15 Pfennigen pro verkauftes Exemplar durfte der Schüler Krenz fünf Pfennige einbehalten – auch ein gutes Zubrot für ihn und seine alleinerziehende Mutter. 

Anfang 1952 habe er von zwei ehemaligen Widerstandskämpferinnen ein Abonnement fürs Parteiblatt »Neues Deutschland« geschenkt bekommen, das damals zwar monatlich nur 3,50 Mark kostete, die bescheidene Invalidenrente der Mutter trotzdem belastet hätte. Im März 1952 wird im SED-Organ die »Stalin-Note« an die Westmächte und die Bundesregierung veröffentlicht: Abzug aller Besatzungstruppen, Bildung einer frei gewählten gesamtdeutschen Regierung, Grenzfixierung gemäß Potsdamer Abkommen und Entsagung des geeinten Deutschlands an Militärbündnisse jeglicher Art. Es sollte ein Friedensvertrag mit Deutschland abgeschlossen werden (was die Bundesregierung unter Helmut Kohl auch noch 1990 scheute). Jungpionier Krenz sammelte Unterschriften zur Unterstützung der sowjetischen Deutschland-Note, schickte diese an die Zeitung der Kinderorganisation und bekam einen »Brief von oben«, den Dank des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl, der aus der SPD in die SED gekommen war. 

Krenz ist es wichtig zu betonen, dass die Verantwortung für die Spaltung Deutschlands nicht dem Osten zuzuschieben sei. Ein Bedürfnis ist es ihm ebenso, den Befreiern von 1945 zu danken. »Ich lernte Soldaten kennen, die anders waren als die ›barbarischen Wesen‹, von denen die Nazipropaganda berichtet hatte.« Ein Offizier der Roten Armee habe ihm, stets hungrig wie alle Nachkriegskinder, nicht nur immer mal etwas Essbares zugesteckt. »Einmal summte er eine Melodie, die ich noch nie gehört hatte. ›Sing mit‹, forderte er mich auf. ›Das kann ich nicht‹, antwortete ich. Er rief, als müsste ich mich dafür schämen: ›Das ist doch das Heideröslein‹ von Goethe!‹« Krenz erinnert sich zudem an das (?) Bonmot: »Die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt bestehen.« Ein Zitat von Josef Stalin. »Meine Auseinandersetzung mit Stalin währt bis heute.«

Natürlich kann und will auch Krenz nicht in der Vergangenheit verweilen, nennt die Sanktionen gegen Russland »fatal« und mahnt, nicht alle Türen zuzuschlagen. Man müsse sich Optionen offenhalten, um Gespräche wieder aufnehmen zu können. Denn die aktuellen, global dringlichen Fragen – Frieden in der Welt und Klimawandel – seien ohne Russland nicht zu lösen. Und an die Adresse des aufrüstenden Westens: »Jede Waffenlieferung ist eine Lizenz zum Töten.« Als dann ein Mann aus dem Publikum ihn fragt, warum er Wladimir Putin nicht persönlich auffordere, den völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine zu beenden, fühlt er sich zu Unrecht attackiert: »Mir als Kriegskind braucht keiner erklären, was Krieg ist. Ich weiß, wie Nächte im Luftschutzkeller sind.« Und Krenz erwähnt, mehrfach, unter anderem in einem Interview für die »Neue Zürcher Zeitung«, den Krieg in der Ukraine »eine Tragödie« genannt zu haben. Zu ergänzen wäre: Wenn Putin Vertreter linker Parteien höchstens durch die Hintertür empfängt, dagegen für Rechtspopulisten wie Marine Le Pen die Tore des Kremls weit öffnet, ist es höchst unwahrscheinlich, dass er einem seit über drei Jahrzehnten in der Politik nicht mehr mitmischendem Mann sein Ohr schenkt. 

Mit 52 Jahren ist Krenz »vom Leben beurlaubt« worden. Mit diesen Worten hatte im Dezember 1989 Konsistorialpräsident Manfred Stolpe, später brandenburgischer SPD-Ministerpräsident, den zum Rücktritt gezwungen SED- und DDR-Interimschef zu trösten versucht. Nun, Krenz ging es damals wie alsbald Hunderttausenden DDR-Bürgern: arbeitslos, abgewickelt, ausgegrenzt, teils auch abgeurteilt. Und wie auch immer man zu Krenz steht, nicht zu leugnen ist, dass er im Gegensatz zu manch anderen Verantwortungsträgern sich nicht aus der Verantwortung stahl und sich in den Jahren der wilden Prozesse solidarisch respektive schützend vor ins Visier bundesdeutscher Justiz geratene Grenzsoldaten, Lehrer oder Juristen der DDR gestellt hat. 

Neu in dieser Autobiografie ist, dass Krenz vermutlich einen jüdischen Vater hatte. Was allerdings auf der Buchpremiere nicht zur Sprache kam. Vielleicht, weil der Autor befürchtet, dass nicht wohlgesonnene Medien ihm einfältig vorhalten würden, er wolle sich mit einer jüdischen Herkunft »schmücken«. Fakt ist: In den 90ern erhielt Krenz ein Schreiben aus Heidelberg von einem Mann, der behauptete, sein Onkel zu sein. Sein Bruder sei der Vater von Krenz gewesen, habe in Kolberg eine Schneiderwerkstatt betrieben, sei 1943 umgekommen, war Jude. Dieseroffenbar noch nicht zweifelsfrei geklärte familiären Hintergrund nimmt der Autobiograf zum Anlass, im Buch an seine jüdischen Mentoren und Mitstreiter im Politbüro wie Hermann Axen und Albert Norden zu erinnern sowie explizit zu betonen, dass es keinen strukturellen Antisemitismus in der DDR gab und solcher auch nicht geduldet worden wäre.

Lesenswert ist diese Autobiografie von Krenz allemal. Merkwürdig, dass auf der Vorstellung mit keinem Wort erwähnt wurde, dass bereits Anfang der 90er eine einbändige aus seiner Feder erschienen ist. Überraschend, dass sogar eigens zu dieser Buchpremiere ein Fan von Egon Krenz aus Ungarn angereist kam: »Herr Präsident, warum wurde Baade 152 nicht weiterentwickelt?« Der Befragte überrumpelt: »Naja, unsere Kapazitäten …« Das nach dem Ingenieur und Konstrukteur Brunolf Baade in den 50er Jahren in der DDR entwickelte erste deutsche Passagierstrahlflugzeug ist halt wie manch andere Innovation in der DDR an sowjetischem Einspruch (Konkurrenz) gescheitert. 

Die lange, lange Schlange am Büchertisch des Verlages nach der Premiere verwunderte nicht. Jene, die sich an diesem Abend ihr Exemplar signieren ließen, hatten gewiss auch keine Ge-
winnoptimierung im Sinne. Im Internet werden Bücher von Krenz mit Autograf für bis zu stattliche 90 Euro feilgeboten.

Egon Krenz: Aufbruch und Aufstieg. Erinnerungen. Edition Ost im Eulenspiegelverlag, 320 S., geb., 24 €.

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