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Der arbeitslose Krisentheoretiker

In Illinois war der 1926 in die USA emigrierte Paul Mattick Teil der Arbeitslosenbewegung. Eine Prägung, die sich auch in seinem Hauptwerk findet.

  • Kathi King
  • Lesedauer: 15 Min.
Auch wer arm ist, muss viel Zeit mit Warten verbringen. Hier die Schlange vor einer Suppenküche 1931 in Chicago – betrieben allerdings nicht vom Staat, sondern vom berüchtigten Mafiaboss Al Capone.
Auch wer arm ist, muss viel Zeit mit Warten verbringen. Hier die Schlange vor einer Suppenküche 1931 in Chicago – betrieben allerdings nicht vom Staat, sondern vom berüchtigten Mafiaboss Al Capone.

In den mittleren 1920er Jahren verließ der Rätekommunist und Marxist Paul Mattick seinen Wohnort Berlin, um in die USA auszuwandern. Während der krisengebeutelten 30er Jahre in Chicago, Illinois, in denen er zeitweise in einem staatlich geförderten Schriftstellerprojekt arbeitete, verfasste Mattick ein Manuskript, das als Keim seines Hauptwerks »Marx und Keynes« (1969) gelten kann. Er lebte ein linkes Jahrhundertleben, sein Denken und Aktivismus drehten sich immer wieder um die Themen Arbeitslosigkeit und Krise.

Matticks Jahre in Illinois waren dabei prägend. »Ich denke, dass diese Arbeiterbewegung in Chicago … die schönste Periode meines Lebens war«, stellt er 1976 in einem Interview mit dem deutschen Politologen Michael Buckmiller fest. Es sind die frühen 30er Jahre, die Große Depression ist in vollem Gange. Mattick war wie so viele Menschen arbeitslos geworden. Für ihn war das aber keine Tragödie, im Gegenteil: »So ohne Arbeit zu leben, dauernd in Bewegung, morgens bis abends unterwegs, mit Tausenden von Leuten in Bewegung zu kommen – und nebenbei noch ohne Arbeit existieren zu können, das war doch eine wundervolle Zeit. Das war eine Zeit, von der man heute noch träumen kann. Es war nicht schlimm, es war sehr schön.«

Agitprop und Militanz

Mattick war in seinem Element, organisierte die zahlreichen Arbeitslosen der Stadt, besetzte leerstehende Ladenlokale, hielt Versammlungen und Marx-Lesekreise ab. Die besetzten Läden wurden zu Anlaufstellen, an denen viele einen Schlafplatz und etwas Warmes zu Essen fanden. Ein nicht abbrechender Strom von Lebensmitteln kam aus umliegenden Geschäften, wenn auch möglicherweise nicht ganz freiwillig: »Wir sind systematisch zu allen Bäckern und Schlachtern gegangen und haben von denen verlangt, uns Nahrungsmittel zu geben. Irgendwie waren sie verängstigt und so kamen sie mit großen Tüten.« Strom und Licht wurden von Straßenlaternen abgezapft, für den Werkzeugmacher Mattick kein Problem, und es fanden sich Klempner*innen, die sich um die Gasversorgung kümmerten.

Nach dem Vorbild der deutschen Arbeiterbildungsvereine hatte sich eine Worker Educational Association of Chicago (WEA) gegründet und man experimentierte mit Agitprop. Die Bewegung wuchs schnell. Demonstrationen mit bis zu einer Million Teilnehmer*innen schoben sich durch die Straßenschluchten von Chicagos Downtown, Publikationen wurden verfasst, Flugblätter gedruckt, eine eigene Zeitung erschien und die Leute halfen sich gegenseitig. Dabei war Polizeigewalt trauriger Alltag: bewaffnete Polizei wurde gegen Streikende eingesetzt, bei Demonstrationen saßen Scharfschützen auf den Dächern und Polizeit und Militär schossen auch mal mit dem Maschinengewehr in die Menge. Immer wieder mussten Mattick und Genoss*innen Opfer der Polizeikugeln zu Grabe tragen.

Keine Spur von Patriotismus

Der Wahl-Chicagoer Mattick, damals Ende Zwanzig, fühlte sich wohl an seine Jugend im Berlin der Revolutionsjahre nach dem Ersten Weltkrieg erinnert – im Guten wie im Schlechten. Er selbst war dem Tod viele Male entkommen, viele seiner damaligen Freunde nicht. Nochmal zum Stichwort linkes Jahrhundertleben: 1904, ein Jahr vor der Russischen Revolution, in eine gewerkschaftlich organisierte Familie in Słupsk geboren, wuchs Mattick in den Arbeiterquartieren Berlin-Charlottenburgs auf. Mit der Novemberrevolution 1918, gerade einmal vierzehn Jahre alt, wurde er als frisch gebackener Werkzeugmacher-Lehrling Teil des Lehrlingsrats und damit des Arbeiterrats bei Siemens in Berlin.

Trotz schwerster Arbeitsbedingungen sagte er über diese Zeit: »Wir waren alle wahnsinnig begeistert von der Revolution, schon deshalb, weil wir niemals ein Atom Patriotismus in unseren Knochen hatten … unsere Cliquen lebten nur auf der Straße und mit den revolutionären Matrosen, die aus Kiel kamen.« Anfang der 20er zog Mattick ins Ruhrgebiet und lernte dort seine zukünftige Frau kennen, die sieben Jahre ältere Frieda, die bereits zwei Kinder hatte. Der Kommunist war fasziniert von den USA und enttäuscht über die Situation in Deutschland nach den misslungenen und niedergeschlagenen Versuchen einer Arbeiterrevolution. Es war Zeit für einen Neuanfang, und so setzte Mattick im März 1926 über in die USA, wo er Verwandte in Benton Harbor im Bundesstaat Michigan hatte. Frieda und die Kinder kamen im August nach. Arbeit fand er in einer der ersten Fabriken für Milchkartons, in der er sich um die komplizierten Maschinen zu kümmern hatte.

Marxistische Studien

In Benton Harbor litt Mattick unter politischer Einsamkeit und machte zum ersten Mal Arbeit und Familie zum Mittelpunkt seines Lebens. Doch er fand hier auch etwas anderes: Zeit zum Lesen. Er ließ sich Bücher zusenden und studierte diese systematisch. 1929, kurz vor dem Börsencrash an der Wall Street, erschien Henryk Grossmans »Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems«. Das Werk galt als eine der ersten Veröffentlichungen der Frankfurter Schule und Mattick war begeistert; er hatte das Gefühl, nun »Das Kapital« von Karl Marx besser zu verstehen als jemals zuvor.

Die Hauptthese, die Grossman in seinem Buch – einfach gesprochen – vertritt, lautet folgendermaßen: Durch die zyklischen Depressionen, die eine kapitalistische Ökonomie alle paar Jahrzehnte durchläuft, entsteht eine solche Abwärtsspirale, dass das kapitalistische System zwangsläufig zusammenbricht. Anders als Luxemburg macht er diese Abwärtsspirale nicht am Problem der Unterkonsumption fest, dem Problem also, dass die kapitalistische Wirtschaft strukturell mehr Angebot als Nachfrage produziert, sondern legt unter anderem mathematisch dar, dass der sogenannte tendenzielle Fall der Profitrate mit jeder Krise an Fahrt aufnimmt. Auf diese Weise würde der Zusammenbruch des Kapitalismus unausweichlich. Mattick las daraufhin die drei Bände des Kapitals erneut und analysierte vor diesem Hintergrund das Krisengeschehen im Mittleren Westen.

Die Familie Mattick zog schließlich ins 190 km entfernte Chicago, das auf der anderen Seite des Lake Michigan liegt. Hier hatte Mattick einen Job bei Western Electrics angenommen. Als er auf der Straße einen Passanten die Internationale pfeifen hörte, wusste er, dass die Jahre der Isolation vorbei waren. Der pfeifende Passant entpuppte sich als ein Wobblie, also ein Mitglied der Industrial Workers of the World (IWW). Mattick tauchte in die migrantische Community der internationalistischen Gewerkschaft ein, belegte Sonntagskurse bei der mit der IWW affiliierten Proletarian Party – sein Weg, endlich Englisch zu lernen – und wurde zum gefragten Redner und »Erklärer« gerade auch unter den vielen deutschsprachigen Wobblies.

Sozialstaat als Falle?

1931 verlor Paul Mattick seinen Job (die letzte handwerklichen Anstellung, die er in diesem Jahrzehnt haben sollte) und konnte sich fortan ganz der entstehenden Arbeitslosenbewegung widmen. Er fand auch Zeit zum Reisen, trampte durch die Südstaaten der USA und lebte zwei Wochen bei indigenen Seminolen an der Golfküste. Als er zurückkehrte, war Chicago nicht wiederzuerkennen. Es folgten die Monate und Jahre, die Mattick als die schönste Zeit seines Lebens bezeichnete: Die Arbeitslosenbewegung war stark, besetzte Sozialämter, übte Druck auf Bundesstaat und Regierung aus, bis ausreichende Sozialhilfeprogramme eingeführt wurden. Dieser Erfolg der Bewegung besiegelte tragischerweise zugleich ihren Niedergang. Präsident Roosevelts Krisenpolitik sowie die Sozial- und Arbeitsbeschaffungsprogramme – »New Deal« genannt – waren von Anfang an populär und neutralisierten die radikaleren kommunistischen Politikansätze.

Viele Linke fanden in der New Deal-Bürokratie ihre Nische und gründeten unter dem Label Popular Front (Volksfront) bald antifaschistische Bündnisse vom liberalen und sozialdemokratischen Spektrum bis zu den Anarchist*innen. Eine Streikwelle durchzog 1933 bis 1934 das Land, vielerorts kam es zu Generalstreiks. Von Regierungsseite wurde ein Mindestlohn auf den Weg gebracht, gewerkschaftliche Organisierung, bis dahin ein illegales Unterfangen, wurde 1935 schließlich zum Recht. Mattick ist mittendrin. Auf eine Phase großer Prekarität seit seinem Jobverlust folgte eine relative Stabilität, weil Frieda als Dienstmädchen Lohn nach Hause brachte. Aber Matticks Aktivismus und Bildungshunger gingen klar auf Kosten der Familie: Er war wenig zuhause, sprach an mehreren Abenden bei Veranstaltungen und Versammlungen, brachte fast im Alleingang die Zeitschrift »International Council Correspondence« (ICC) heraus, die der Debatte und Vernetzung europäischer und US-amerikanischer Rätekommunist*innen dienen sollte.

Mattick verbrachte dann auch Zeit in New York, wo er seine rätekommunistischen Kontakte pflegte und mit den Exilant*innen der Frankfurter Schule diskutierte. Er schrieb regelmäßig für deren »Zeitschrift für Sozialforschung«, auch für das »Modern Monthly« und wurde zu deren Experte für ökonomische Theorie. Derweil schrumpfte die radikale Arbeitslosenbewegung wieder, ihre Anliegen wurden von der 1935 gegründeten Workers Alliance (WA) übernommen. Die bald von der CPUSA dominierte Organisation sah sich zunächst als gewerkschaftsähnliche Interessenvertretung der Arbeitslosen sowie von Arbeiter*innen, die in den staatlichen Arbeitsprogrammen des frühen New Deals angestellt waren. Mehr als auf Selbstorganisation, Organisierung und der Förderung des aufständischen Potentials zählte die WA darauf, Druck gegenüber der Regierung aufzubauen und wohlfahrtsstaatliche Programme einzuführen.

Der Staat beschafft Arbeit

Im selben Jahr 1935 nahm Roosevelts riesige Arbeitsbeschaffungsagentur, die Works Progress Administration (WPA) ihre Arbeit auf. Es war die größte Unternehmung ihrer Art, die je in einem kapitalistischen Land geschaltet wurde. Bis zu ihrer Auflösung 1943 sollten hier 8,5 Millionen US-Amerikaner*innen zeitweilig beschäftigt sein, das war eine Person in jeder vierten Familie (es war die Regel, dass nur eine Person pro Haushalt in einem WPA-Projekt angestellt sein durfte).

Paul Mattick, der sich schon lange daran gemacht hatte, Zahlen und Daten zur Untermauerung von Henryk Grossmans These zu sammeln, reichte 1936 ein Manuskript bei der »Zeitschrift für Sozialforschung« ein. Es trägt den Titel »Arbeitslosenfürsorge und Arbeitslosenbewegung in den Vereinigten Staaten«. Zwar fand seine Arbeit Fürsprecher bei den Exilanten der Frankfurter Schule in New York, aber die politische Situation wurde schwieriger: Antikommunismus und Antisemitismus griffen um sich, die Exil-Intellektuellen wurden vorsichtiger. Sie betrachteten Matticks Manuskript als noch nicht reif für die Publikation, der Kontakt zum exilierten Institut für Sozialforschung brach ab.

Doch Mattick fand einen unverhofften Sponsor für seine Studie: den US-amerikanischen Staat. Im Juni 1937 tritt er einen Job beim Federal Writers Project (FWP) von Illinois an, für das er über ein Jahr lang arbeitet. Die Büros des FWP, die im Rahmen der Arbeitsbeschaffungsagentur WPA für die schreibende Gilde, also Autor*innen, Journalist*innen oder auch Historiker*innen in jedem Bundesstaat etabliert wurden, widmeten sich der Aufgabe, die USA »von unten« zu dokumentieren. Mit Ideen und Methoden der Neuen Anthropologie von Franz Boas und Co. ausgestattet, schwärmten die angestellten Schreiber*innen aus, um Land und Leute zu dokumentieren sowie das Abbild eines multikulturellen Amerikas zu Papier zu bringen. Mit dem FWP-Büro des Staats Illinois in Chicago erwischte Mattick ein besonderes Biotop: Die Chicagoer Tradition eines sozialkritischen Journalismus, die dortige Schule der Soziologie mit ihren stadtethnografischen Forschungen sowie Linke verschiedenster Couleur prägten die Arbeit des Projekts.

Auch eine sozialkritische afroamerikanische Literatur- und Kulturszene wuchs mit Unterstützung des FWP heran. Mattick teilte seine Arbeitsräume zeitweise mit bereits etablierten Schwarzen Schriftsteller*innen wie Arna Bontemps und Fenton Johnson sowie mit aufstrebenden jungen Talenten wie der Tänzerin und Anthropologin Katherine Dunham und dem linken Autor Richard Wright.

Zu Anfang wurden Mattick und viele andere damit betraut, wichtige Orte und Industrien in Chicago und Umgebung zu dokumentieren. Seine so entstandenen Texte lesen sich allerdings eher wie gelangweilte Schulaufsätze, was man ihm kaum verübeln kann; viele Schriftsteller*innen litten unter dem Charakter der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des Projekts und empfanden die Schreibaufträge als Zumutung. Den späteren Teil seiner Zeit beim FWP konnte sich Mattick dann aber vermutlich vollständig einem Herzensprojekt widmen: dem schließlich 362 Seiten langen Manuskript »Unemployment and Relief in Illinois«. Das sperrige Werk, das nach wie vor im Archiv schlummert, kann als materialistisch-soziologischer Gegenpart zum theorielastigen »Arbeitslosenfürsorge und Arbeitslosenbewegung in den Vereinigten Staaten« von 1936 gelesen werden – der Artikel, der Jahre zuvor von der »Zeitschrift für Sozialforschung« abgelehnt worden war.

Ein vergessenes Manuskript

Matticks während der Zeit im FWP entstandenes Manuskript ist zwar nicht völlig unbekannt oder gar unentdeckt, aber seine systematische Auseinandersetzung und Einordnung stehen noch aus. So schreibt etwa John Hoffman in »A Guide to the History of Illinois« (1991), Matticks unveröffentlichtes Manuskript sei der beste ökonomische Bericht über die Große Depression in Illinois. Weniger enthusiastisch beschreibt hingegen Mattick-Biograf Gary Roth die Studie, in der Mattick eine schiere Masse an Daten und Tabellen ebenso wie die Erfahrungen seiner Familie mit Kurzarbeit, Wohngeld und den Arbeitscamps des Civil Conservation Corps zusammentrug. Roth interpretiert den Einsatz langer Zitate gegen Ende des Manuskripts als Zeichen, dass Mattick die Lust an dem Projekt verlor, das Urteil des Soziologen ist hart: »Was herauskam, war ein langweiliger Bericht, eine anstrengende bürokratische Historie von wenig Interesse für irgendwen.«

Es bleibt festzuhalten, dass die Arbeit an dem Manuskript für Mattick ein biographischer Meilenstein war. Erstmals durfte er sich mehrere Monate bezahlt mit den Themen beschäftigen, die ihn mindestens seit seiner Grossman-Lektüre beschäftigten: Die ökonomische Krise, ihre Auswirkungen und Hintergründe sowie die oft unzureichenden Maßnahmen von staatlicher Seite, um die von jener Krise am meisten betroffene Arbeiter*innenklasse wenigstens grundlegend zu versorgen. Ebenso versuchte er durch harte Fakten und Beobachtungen darzulegen, dass all die Bestrebungen, die wiederkehrenden Krisenphänomene marktwirtschaftlicher Systeme durch staatliche Investitionen auszubügeln, zum Scheitern verurteilt waren – auf kurze wie auf lange Sicht.

Das sichtbarste, tiefgreifendste dieser Krisenphänomenen war die (Massen-)Arbeitslosigkeit. Historische Fotografien der Großen Depression zeigen Schlangen vor Suppenküchen und Menschen mit »Suche Arbeit«-Schildern. Es ist die Arbeitslosigkeit, von der aus Matticks Analysen der 30er die Krise des Kapitalismus zu fassen suchen. Zugleich war sie das Zentrum von Matticks politischer Praxis als Organizer in der Arbeitslosenbewegung, in der er wie schon 1918 versuchte, Strukturen aufzubauen und auf rätekommunistische Weise eine kritische Masse revolutionärer Subjekte zu organisieren. Dabei war er als Arbeitsloser selbst Betroffener des Phänomens, das er analysiert, und wurde als FWP-Angestellter Subjekt und Profiteur der Reform- und Linderungsmaßnahmen, die er beschreibt.

Das Problem der Profitrate

Außerdem hat Mattick Zugang zu den Daten, mit denen er seine Argumente unterfüttern kann: »All diese Daten und Beobachtungen weisen darauf hin, dass, wenn die Produktion nicht schneller wächst als der Fortschritt der technologischen Entwicklung – das heißt, wenn die Formierung von Kapital nicht in beschleunigter Weise fortschreitet –, sinkt die Zahl der Arbeiter*innen notwendigerweise«, schreibt er im ersten Teil des Manuskripts. Es folgen Seiten um Seiten penibel aufgelisteter Zahlen, Zustandsbeschreibungen und Dokumentationen von historischen wie aktuellen Krisenmaßnahmen, bis hin zur Beschreibung der WPA selbst, die zur Zeit des Verfassens bereits von drastischen Kürzungen betroffen war. Der Grund für den Rückbau der staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen: Die Kriegsindustrie verlangte nach Arbeitskräften, die Wirtschaft erholte sich langsam.

Das vergessene Manuskript von Paul Mattick ist natürlich mehr als ein biografisches Zeugnis seines intellektuellen Schaffens. In erster Linie ist es eine marxistische Dokumentation der Krisenpolitik des New Deal am Beispiel der Ökonomie des Bundesstaats Illinois, eine Studie, die mit ihrer Masse an Daten und ihrem Blick fürs Detail vermutlich ihresgleichen sucht. Das Werk bildet ein Bindeglied zwischen Matticks Organisierung in der Arbeitslosenbewegung, der Beschäftigung mit marxistischer Krisentheorie und seiner Kritik an der keynesianischen Ökonomie.

Bald nach dem Erscheinen des Buches traten die USA in den Zweiten Weltkrieg ein. Das politische Klima zog an, was besonders für öffentlich auftretende Linke wie Mattick spürbar wurde. Mit den Intellektuellen-Jobs war es erst einmal vorbei: In den 40er Jahren arbeitete er wieder als Elektriker, baute Hörgeräte und Mikrofone – eine Arbeit, die ihm gefiel und die zudem als kriegswichtig galt, ihn also vor dem Einzug in die Armee bewahrte. Den »Red Scare«, die Kommunistenverfolgung der McCarthy-Jahre verbrachte Mattick zurückgezogen, publizierte nur wenig und lebte zeitweise als Selbstversorger im ländlichen Vermont.

Er beschäftigte sich dennoch weiterhin mit Krisenpolitiken und der Einflussnahme staatlicher Strukturen in die Ökonomie, studierte in den 40er und 50er Jahren die Schriften des britischen Ökonomen John Maynard Keynes – der Mann, dessen Denken die Wirtschaftspolitik der westlichen Marktwirtschaften im 20. Jahrhundert wie kein anderer prägte. Die im New Deal als Krisenreaktion erprobten Maßnahmen, fiskalpolitisch wie sozialstaatlich, die Mattick beim FWP erforscht hatte, verstetigten sich und wurden von vielen Staaten angewendet. Eine neue Erscheinungsform des Kapitalismus war im Entstehen, und Mattick nahm sich vor, diese aus marxistischer Sicht genau zu beobachten. Er begann an seinem einflussreichsten Werk zu arbeiten: »Marx und Keynes«.

Entdeckung durch die Neue Linke

Die 60er verhalfen Mattick zu einer Renaissance. Die Neue Linke saugte gierig seine Ideen eines freiheitlichen Kommunismus mit Rätestrukturen auf. Seine ökonomischen Analysen fanden großen Anklang, die früheren Texte wurden neu aufgelegt, darunter auch das 1936 von der »Zeitschrift für Sozialforschung« abgelehnte Manuskript zur Arbeitslosigkeit. 1969 erschien in den USA endlich das Buch »Marx und Keynes. Die Grenzen des ›gemischten Wirtschaftssystems‹«, die deutsche Übersetzung folgte 1971. Gerade die jungen Linken in Deutschland stürzten sich auf das Werk und führten schon mit der englischen Version Lesekreise durch. Mattick wurde mehrfach auf Vortragstour durch Deutschland und Europa eingeladen und bekam eine Gastprofessur an der experimentellen Universität von Roskilde in Dänemark. Er war die gesamten 70er Jahre über ein gefragter linker Intellektueller, doch mit Matticks Gesundheit ging es abwärts – und auch die Spielform des Kapitalismus, welche er in »Marx und Keynes« beschrieben hatte, war auf dem Rückzug. Die revolutionäre Energie der 68er-Linken ging ebenfalls zur Neige und damit auch das Interesse am Denken des deutsch-amerikanischen Rätekommunisten. Am 7. Februar 1981 stirbt Paul Mattick schließlich in Cambridge, Massachusetts; weniger als einen Monat bevor das Zeitalter des Keynesianismus mit der Präsidentschaft Ronald Reagans in die neoliberale Ära überging.

Hier lautet nun die Frage: Sind wir heute an einem ähnlichen Punkt? Seit Jahren spricht man vom Niedergang des Neoliberalismus, ebenso häufig erklingen Rufe nach einem neuen New Deal, um diese oder jene Krise in den Griff zu bekommen; Wirtschaft, Klima, Pandemie. Matticks Krisentheorie lässt sich nicht einfach auf unsere Situation übertragen. Aber es lässt sich immerhin feststellen, dass für ihn in der Krise Hoffnung lag: »Ich bin Katastrophenpolitiker. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Arbeiterklasse in einer Gesellschaft ohne langfristige Krise mit dauerndem Niedergang jemals den Kapitalismus angreifen würde.«

Paul Mattick: Arbeitslosigkeit, Arbeitslosenfürsorge und Arbeitslosenbewegung in den Vereinigten Staaten. Zu finden als PDF unter www.marxists.org.
John Hoffman (ed.): A Guide to the History of Illinois. Greenwood Press 1991.
Christoph Plutte und Marc Geoffroy (eds.): Die Revolution war für mich ein großes Abenteuer: Paul Mattick im Gespräch mit Michael Buckmiller. Dissidenten der Arbeiterbewegung, Teil IV. Unrast Verlag 2013.
Gary Roth: Marxism in a Lost Century: A Biography of Paul Mattick. Brill Publishing 2015.

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