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Wo die Glühwürmchen leuchten

Eine Stadt wird zur Ausstellung: Die 59. Ausgabe der Kunst-Biennale in Venedig

Die Skulptur »Brick House« von der Künstlerin Simone Leigh im Arsenale, für die sie den Goldenen Löwen für den besten Beitrag gewann.
Die Skulptur »Brick House« von der Künstlerin Simone Leigh im Arsenale, für die sie den Goldenen Löwen für den besten Beitrag gewann.

»Das ist ein individuelles Erlebnis«, sagt der junge Mann vom Aufsichtspersonal vor dem italienischen Pavillon, als jemand ihn fragt, warum die Menschen einzeln eingelassen werden. Er lässt einige Minuten vergehen, bis er der nächsten Person den Zutritt gewährt.

Neugierig auf das, was einen erwartet, betritt man den Pavillon. Dort begegnet man einer Reihe von verlassenen Fabrikräumen und Industriehallen. Maschinen, riesige Teile, stehen hier und da herum. Es riecht mal nach feuchtem Keller, mal nach kaltem Metall. Ein Raum steht voller Tische mit Industrienähmaschinen, wie in einer Textilmanufaktur, deren Arbeiter*innen längst verschwunden sind. Überwältigt von der Einsamkeit des Betriebs kommt man in eine dunkle Halle. Hat sich das Auge an die Dunkelheit angepasst, erkennt man einen Steg, umgeben von Wasser. In der Ferne leuchten weiße Punkte und spiegeln sich auf der Wasseroberfläche wider. Glühwürmchen sollen sie repräsentieren.

Das Erlebnis ist tatsächlich intensiv, auch ohne die Hintergründe des Kunstwerks zu kennen. »History of Night and Destiny of Comets« heißt die Rauminstallation von Gian Maria Tosatti, der dieses Jahr Italien auf der 59. Kunst-Biennale in Venedig vertritt. Es ist das erste Mal, dass ein Künstler den 1800 Quadratmeter großen Pavillon Italiens allein bespielt. Dieser befindet sich auf dem Areal des Arsenale – einer ehemaligen Schiffswerft der früheren Republik Venedig –, das seit 1999 als eine der beiden Ausstellungsstätten der Kunst-Biennale dient.

Die Installation verweist auf die Beziehung zwischen Menschen und ihrer Umwelt. Dabei versuchte Tosatti so nachhaltig wie möglich zu arbeiten. Seine Materialien und Maschinen hat er in den aufgrund der Pandemie geschlossenen Fabriken ausgeliehen.

Sein Werk lässt sich wie ein Theaterstück in zwei Akten erklären. Der erste (History of Night) thematisiert den Aufstieg und Fall des italienischen industriellen Traums und weist auf den Industrieboom Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg hin, der heute an sein Ende gekommen ist. Hinterlassen hat er nun eine frustrierte Arbeiterklasse und eine belastete Umwelt, in der die Spezies vom Aussterben bedroht sind – etwa die Glühwürmchen. Der Künstler bezieht sich auf Pier Paolo Pasolinis Essay über das Verschwinden der Glühwürmchen, in dem er den gesamten Chemie-Konzern Montedison für ein einziges Glühwürmchen geben wollte. Der zweite Akt (Destiny of Comets) lässt die Glühwürmchen doch noch in der Dunkelheit leuchten – eine hoffnungsvolle Szenerie. Ein Verweis auf einen möglichen Frieden?

Italien ist eines der 80 Länder, die dieses Jahr an der Kunst-Biennale in Venedig beteiligt sind. Kamerun, Namibia, Nepal, Oman und Uganda sind zum ersten Mal bei diesem Kunstereignis vertreten und manche Länder wie Usbekistan erstmals mit eigenem Pavillon dabei. Die anderen Staaten, die keine nationalen Pavillons an den zwei Hauptausstellungsorten – in den Giardini und im Arsenale – errichtet haben, müssen sich Räumlichkeiten in der Stadt mieten, sodass ganz Venedig während der Biennale selbst zu einer großen Ausstellung wird.

Ein Rundgang durch die Stadtteile lässt einiges an kultureller Vielfalt erblicken, wie sie in Venedig zusammengekommen ist. So entdeckt man etwa neben einer venezianischen Cicchetteria den Pavillon des kleinen Karibikstaates Grenada, in dem auf ein besonderes Theaterritual einer seiner noch kleineren Inseln aufmerksam gemacht wird, bei dem in bunten Karneval-Kostümen Shakespeares »Julius Caesar« zitiert wird.

Die Einsamkeit des Betriebs: Teil der Rauminstallation »History of Night and Destiny of Comets« von Gian Maria Tosatti im italienischen Pavillon im Arsenale
Die Einsamkeit des Betriebs: Teil der Rauminstallation »History of Night and Destiny of Comets« von Gian Maria Tosatti im italienischen Pavillon im Arsenale

Neben den nationalen Beteiligungen ist auch die große internationale Themenausstellung »The Milk of Dreams« (Die Milch der Träume) in den Giardini sowie im Arsenale zu besichtigen. Diese Schau, die nach einem Kinderbuch der surrealistischen Künstlerin Leonora Carrington benannt wurde, umfasst die Werke der 213 Künstler*innen aus 58 Ländern. Kuratiert wurde sie von der Mailänderin Cecilia Alemani. Und zum ersten Mal in der 127-jährigen Geschichte der Biennale sind mehr Frauen an der Themenausstellung beteiligt als Männer. Ein verspäteter, aber wichtiger Gegenentwurf zur ohnehin männerdominierten Kunstgeschichte.

Die Beziehung zwischen Individuen und Technologie, die Verbindung zwischen Körpern und der Erde sowie die Repräsentation der Körper und deren Verwandlung sind die drei Themen von »The Milk of Dreams«. Besonders prominent steht gleich am Anfang der Ausstellung im Arsenale eine riesige, fast fünf Meter hohe Bronzestatue einer afrikanischen Frau, deren Rock an eine Tonhütte erinnert – eine häufige Hausform in Afrika und Südamerika. »Brick House« heißt die Skulptur der afroamerikanischen Künstlerin Simone Leigh, die ursprünglich 2019 im öffentlichen Raum in New York City präsentiert wurde. Für dieses Werk, das den Körper mit architektonischen Elementen zusammenbringt, wurde Leigh mit dem Goldenen Löwen für den besten Beitrag der Themenausstellung ausgezeichnet.

Als erste afroamerikanische Frau bespielte Simone Leigh außerdem den US-Pavillon auf dem Gelände der Giardini – eine Parkanlage, die Napoleon Bonaparte Anfang des 19. Jahrhunderts erbaut hat und die seit 1895 Schauplatz der Kunst-Biennale ist. Unter dem Titel »Sovereignty« (Souveränität) sind andere Frauenskulpturen von ihr ausgestellt. Auch das im palladianischen Stil gebaute Gebäude hat Leigh in ein afrikanisches Rondavel (Rundhaus) mit Strohdach verwandelt.

Der Goldene Löwe für die beste nationale Beteiligung ging an den britischen Pavillon, in dem die Künstlerin Sonia Boyce mit der Ausstellung »Feeling Her Way« die befreiende Kraft des Gesangs afrobritischer Sängerinnen thematisiert.

Der russische Pavillon wurde dieses Jahr gar nicht eröffnet, die Künstler*innen, die ihn ursprünglich gestalten sollten, haben ihre Teilnahme selbst abgesagt. »Es gibt nichts mehr zu sagen. Es gibt keinen Raum für Kunst, während die Zivilist*innen durch Raketenbeschuss sterben«, schrieb etwa der russische Künstler Kirill Savchenkov auf Instagram.

Nicht weit entfernt vom Pavillon Russlands in den Giardini liegt der von Deutschland, in dem sich die Künstlerin Maria Eichhorn mit der Geschichte des einst in der NS-Ästhetik umgebauten Gebäudes beschäftigt. Sie hätte gerne das ganze Haus abtransportieren und erst nach dem Ende der Biennale zurückbringen lassen, doch da die Idee vor allem von den deutschen Behörden nicht richtig unterstützt wurde, ließ Eichhorn zumindest Teile des Baus freilegen, an denen die Nazi-Architekten mitgewirkt hatten. So genial diese Arbeit von der Idee her auch ist, so wenig bewegend wirkt sie auf den ersten Blick.

Eine reale Dystopie: Szene aus dem Virtual-Reality-Film »Oedipus in Search of Colonus« von der Künstlerin Loukia Alavanou im griechischen Pavillon in den Giardini
Eine reale Dystopie: Szene aus dem Virtual-Reality-Film »Oedipus in Search of Colonus« von der Künstlerin Loukia Alavanou im griechischen Pavillon in den Giardini

Faszinierend ist hingegen die Virtual-Reality-Kunst »Oedipus in Search of Colonus« (Ödipus auf der Suche nach Kolonos) im griechischen Pavillon, vor dessen Eingang sich zu jeder Zeit eine lange Schlange befindet. Es kann schon etwa 45 Minuten dauern, bis man dran ist und endlich den dunklen, mysteriösen Raum betritt, in dem man auf einige zahnarztstuhlähnliche Sitzplätze stößt, auf denen die Besucher*innen mit Headset und VR-Brille fast liegen und sich an einer Lehne nach links und rechts drehen können. Es kommt einem wie eine Szene aus einem Science-Fiction-Film von David Cronenberg vor. Doch die Welt, die der 15-minütige 360-Grad-VR-Film der Künstlerin Loukia Alavanou zeigt, ist eine reale Dystopie.

Das antike Drama von Sophokles über den früheren Helden Ödipus, der nun alt und blind, verbannt aus seiner Stadt Theben nach Kolonos gekommen ist, um dort zu sterben, wird im VR-Film neu erzählt – von Bewohner*innen einer Roma-Siedlung in Nea Zoi am Rand von Athen, da, wo einst Kolonos war. Mit der VR-Brille tauchen wir ein in diese verkommene Gegend, in ihre Wohnungen, ihre Geschichten.

Mit grotesken Posen, teilweise mit Clowns- oder Tiermasken stehen die Laiendarsteller*innen dieser Roma-Community vor uns, hinter uns, sie umgeben uns, starren uns an, und geben etwa Antigone, Ödipus oder andere Figuren. Dabei sind sie selbst das Sinnbild des Ödipus unserer Zeit: ständig vertrieben, ungewollt in Kolonos, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie bleiben dürfen. Eine antike Geschichte und doch so aktuell? Nach diesem Kunsterlebnis in jener virtuellen Welt ist man sich nicht mehr sicher, ob die reale Welt da draußen etwas Besseres zu bieten hat.

Die Kunst-Biennale in Venedig ist noch bis zum 27. November zu besichtigen.
Mehr Infos unter: www.labiennale.org

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