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Trauerreigen und Volkskörper
Das Theaterfestival Euro Scene in Leipzig widmet sich kolonialgeschichtlicher Aufarbeitung
Verhüllt im Kunstnebel vertreibt die Group 50/50 postkoloniale Geister. Das Bestattungsritual bildet das versöhnliche Ende einer Reise in den Äquatorialwald im Kongo, wo sie die nomadische Gruppe der Mbuti treffen. Vor etwa 70 Jahren, als das Gebiet noch von belgischen Kolonialtruppen besetzt war, folgte ein Schweizer Arzt mit ethnologischem Interesse der gleichen Route. Mit Tropenhelm und Kakihosen wähnte er sich im »Reich der Liliputaner« und versuchte die Dorfgemeinschaft kennenzulernen, um dann das Unverzeihliche zu fordern. In seinem Artikel »L’ Empire de Lilliput a-t-il existé ?« (Gab es das Reich von Liliput?) schreibt er: »Dieses Vertrauen und die Gewissheit über meine freundschaftlichen Absichten sollten mir erlauben, von ihnen das zu verlangen, was kein Europäer je erhalten hatte: die sterblichen Überreste der Toten.«
Sieben exhumierte Skelette reisten mit ihm zurück in die Schweiz. Seitdem liegen sie in der Universität von Genf, doch ihre Tage als wissenschaftliches Anschauungsmaterial sind gezählt. Im Musiktheaterstück »The ghosts are returning« fordert das zwölfköpfige Künstler*innenkollektiv die vollständige Restitution, indem sie die Mbuti für sich selbst sprechen lassen. Mit der Tat wurden ihre Beerdigungsriten missachtet und eine tiefe Wunde in die Gemeinschaft geschlagen. Die aktivistische Theaterarbeit führte dazu, dass die Universität in Lubumbashi die Partnerinstitution in der Schweiz nun auffordere, die Toten zurückzuführen. Das erscheint auf den Bildschirmen am Ende des zweistündigen Abends. Das politische Engagement brachte die postkoloniale Aufarbeitung einen wichtigen Schritt voran.
Im Konzert mit Musiker*innen aus der Schweiz und dem Kongo berichtet das Kollektiv von seiner Reise, der gegenwärtigen Abholzung und seinem Verhältnis zu den Toten. Große Bildschirme zeigen die interviewten Mbuti und die riesige Kathedrale, die mitten im Wald von den Kolonisatoren errichtet wurde. Die vielen Lied-Etappen sind rhythmisch eingängig, aber folgen keinem Bogen; auch thematisch franst der Abend aus.
Seit Christian Watty das Leipziger Theater- und Tanzfestival Euro Scene leitet, sollen »mutige, zeitdiagnostische, gesellschaftlich engagierte Stücke und politisch relevante Werke« das Festivalprogramm füllen und das Publikum zur Beschäftigung mit kolonialer Vergangenheit und neokolonialer Gegenwart führen. Der aktionistische Impetus schlug sich im letzten Jahr in vier Sprechtheaterarbeiten nieder, die wichtige Themen verhandelten, aber ästhetisch eher uninteressant blieben, während die Tanzstücke, vom Aktualitätszwang schwächer betroffen, starke ästhetische Setzungen lieferten.
Mit formaler Strenge erkundet die mit dem Theaterpreis »Der Faust« ausgezeichnete Choreografie »Soul Chain« von Sharon Eyal das Verhältnis zwischen Einzelnem und dem Aufgehen in der Masse. Im Gazellenschritt oder als kollektiv zuckender Körper: Die trainierten Tänzer*innen ordnen sich dem elektronisch dröhnenden Rhythmus unter. Kleine Variationen und die Differenz der Körper irritieren die Totalität, aber heben sie nicht auf.
Während im Programmheft eine Liebeserklärung an die individuelle Einzigartigkeit angekündigt ist, lässt sich der Abend auch als ein Versuch über Volkskörper verstehen, die ein gewisses Maß an Variation in der Homogenität tolerieren. Die Arbeit der Jerusalemer Choreografin zeichnet sich durch Ambivalenz aus, die mit viel Humor Bewegungschöre und groteske Gebärden auf die Bühne bringt. Konkretere Bilder über Kollektive im Protest schafft das Eröffnungsstück »Any attempt will end in crushed bodies and shattered bones«, dessen Titel sich auf den Kommentar von Chinas Staatschef Xi Jinping zu den Demonstrationen für Demokratie in Hongkong 2019 bezieht.
Biografischer Widerstand und die Suche nach Intimität in einer männlichen Umgebung verbindet die*der im Iran geborene Performer*in Sorour Darabi mit schiitischen Ritualen. Männlich und weiblich konnotierte Bewegungsmuster übersetzen sich in die Fragmente des »Sineh-zani«, einer Trauerzeremonie, die hier nur als einer von vielen Verweisen auf den kulturellen Kontext des Iran anzitiert wird. Das ausagierte Probieren verschieden gegenderter Gebärden bindet sich biografisch zurück in einem Brief, den die*der Akteur*in an den Vater schreibt. Sein Körper war die erste Projektionsfläche des Begehrens, die sich mit der soldatischen Männlichkeit des Colonels im Iran-Irak-Krieg bricht. Zärtliche und zerstörte Leiber träumen von der Berührung, die sie nie vollziehen können.
»Savušun« lässt das Publikum fremd werden, indem es sich Erklärung oder Übersetzung verweigert, und vermag zugleich eine Form der Männlichkeit zu beschreiben, die sich auch bei europäischen Maskulinisten finden lässt. Elf Tanz-, Theater- und Performance-Arbeiten griffen in der letzten Woche dringende Themen unserer Zeit auf. Den gesetzten Inhalten konnte man oft nur zustimmen. Was fehlt, ist die Verunsicherung, das Experiment, das kontroverse Formen wagt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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