»Wo sind denn deine Kinder jetzt gerade?«

Die Arbeitsbedingungen im deutschen Wissenschaftsbetrieb sind miserabel, besonders für Mütter. Interview mit Sarah Czerney und Lena Eckert

Hier überkreuzen sich die Themen Mutterschaft und Wissenschaft potenziell gleich mehrfach: Eine Wissenschaftlerin bei der Arbeit in einem interdisziplinären Zentrum für Kinderwunschbehandlung
Hier überkreuzen sich die Themen Mutterschaft und Wissenschaft potenziell gleich mehrfach: Eine Wissenschaftlerin bei der Arbeit in einem interdisziplinären Zentrum für Kinderwunschbehandlung

Sie haben zum spannungsreichen Verhältnis von Mutterschaft und Wissenschaft gearbeitet und dazu mittlerweile zwei Sammelbände mit herausgegeben. Darin tragen Sie Erfahrungsberichte von Frauen im Wissenschaftsbetrieb zusammen. Zu welchen Ergebnissen und Befunden sind Sie gekommen?

Interview


Sarah Czerney arbeitet derzeit als wissen­schaftliche Mitarbeiterin im Gleichstellungsprojekt FEM POWER am Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg. Sie hat Europäische Medienkultur studiert und an der Goethe-Universität Frankfurt/Main promoviert. Neben der praktischen Gleichstellungsarbeit liegen ihre Schwerpunkte auf feministischer Theorie und Wissenschaftskritik, Mutterschaft und Wissenschaft sowie gleichberechtigter Eltern- und feministischer Mutterschaft.
Lena Eckert ist akademische Mitarbeiterin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Sie ist Genderwissenschaftlerin und forscht zu Macht- und Herrschafts­verhält­nissen in Wissenschaft, Gesellschaft und Kunst. Zudem ist sie tätig als Beraterin, Trainerin und Schreibcoach in den Bereichen Gender und Diversity.

Sarah Czerney: Zu sehr vielen. Unser erstes Buch dazu erschien bereits im Dezember 2020, es deckte also die Auswirkungen der Pandemie noch gar nicht mit ab. Seitdem haben sich die Probleme und Spannungen noch einmal verschärft, daher ist das zweite Buch entstanden. Ganz grundsätzlich stellen wir eine strukturelle Unvereinbarkeit von Mutterschaft und wissenschaftlicher Tätigkeit fest. Und zwar, das ist ganz wichtig zu sagen, nicht der Tätigkeiten an sich – man kann sehr wohl Mutter und Wissenschaftlerin sein. Aber die beiden gesellschaftlichen Positionierungen sind zu stark idealisiert und ideologisiert.

Lena Eckert: Es gibt eine symbolische Überfrachtung dieser beiden Positionierungen, die sich diametral gegenüberstehen. Einerseits die Mutter, die ständige Verfügbarkeit, Körperlichkeit und absolute Sorge- und Selbstaufgabe verkörpert, andererseits der Wissenschaftler – bewusst männlich formuliert –, der das Genie sein soll, die vergeistigte Selbstverwirklichung in der Tätigkeit des total entgrenzten Forschens. Diese Diskrepanz wird individuell zu einer Zerreißprobe und führt zu großen, mitunter drastischen Herausforderungen oder Problemen.

SC: Damit wollen wir nicht sagen, dass es für jede Mutter, die Wissenschaftlerin ist, eine Zerreißprobe werden muss. Es gab durchaus auch Berichte, in denen Personen das individuell sehr gut vereinen konnten. Der Wissenschaftsbetrieb ist im Vergleich zu anderen Bereichen ja durchaus privilegiert, was etwa eine flexible Zeiteinteilung oder die finanzielle Ausstattung angeht. Gleichzeitig ist die ideologische Überfrachtung der beiden Positionen Mutterschaft und Wissenschaft in diesem Bereich auch etwas sehr Besonderes. Diesen Zusammenhang haben wir herausgearbeitet.

Dabei handelt es sich ja um eine Zuspitzung gesellschaftlicher Widersprüche. Warum tritt die Unvereinbarkeit gerade im Universitätsbetrieb so deutlich hervor?

LE: Im Wissenschaftsbetrieb herrscht generell eine große Fürsorgefeindlichkeit. Und zwar nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst. Dieser Umstand wird in der Neoliberalisierung des Wissenschaftsbetriebs, dem erhöhten Wettbewerb und Einzelgänger*innentum noch einmal verstärkt. Dabei spielen viele männlich konnotierte Eigenschaften eine Rolle, die darin dominant belohnt und hervorgehoben werden und die mit den genuin weiblich konnotierten Eigenschaften des Frau- und Mutterseins schlicht und einfach kollidieren.

SC: Wir müssen uns auch vor Augen halten, dass Frauen erst seit etwas mehr als 100 Jahren überhaupt in der Wissenschaft zugelassen sind. Natürlich gibt es seitdem Fortschritte in der Gleichstellung, und gerade in den letzten Jahrzehnten sind Bemühungen um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fester Bestandteil in der Universitätslandschaft. Gleichzeitig muss hinterfragt werden, ob diese Maßnahmen tatsächlich wirksam sind – gerade auch infolge der Pandemie. Der Frauenanteil unter Professor*innen stagniert, in Deutschland liegt er deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Und wir können nicht einmal sagen, wie wenige dieser Frauen eigentlich Mütter sind.

LE: Aber wir wissen von Befragungen, dass es prozentual deutlich weniger Mütter gibt als Väter auf Professuren. Dieses Ungleichgewicht hat etwas mit der Ideologisierung dieses immer noch männlich geprägten Feldes zu tun. Das ist nicht nur in der Wissenschaft so, sondern ebenso etwa in der Kunst oder der Musik und unterscheidet diese Bereiche von anderen Berufsgruppen. Alles, was mit dem Begriff des Genies, mit Geist und in diesem Geist aufgehen verbunden ist, tendiert zu einem männlich konnotierten Idealbild.

Was bedeutet das in der Praxis? Führt die Unvereinbarkeit zu schwierigeren individuellen Situationen für Einzelpersonen oder werden dadurch Karrieren auch strukturell verhindert?

SC: Beides kommt vor, die Erfahrungen sind sehr breit gestreut. Zum Beispiel wissen wir von Naturwissenschaftlerinnen, die nicht mehr in ihren Laboren arbeiten dürfen, sobald sie schwanger werden. Auch gibt es eine Art Generalverdacht des Kinderwunsches, sobald eine Person als weiblich gelesen wird. Deswegen betrifft das Thema auch längst nicht nur biologische Mütter, wenn etwa in Vorstellungsgesprächen versteckte Fragen nach der Familienplanung auftauchen – die ja eigentlich verboten sind, aber natürlich trotzdem vorkommen. Frauen oder weiblich gelesenen Personen wird damit die subtile Botschaft gesendet, dass sie als Mütter eigentlich nicht in die Wissenschaft gehören. Auch auf Konferenzen hört man immer wieder die Frage: Wo sind denn deine Kinder jetzt gerade? Als Vater wird man das nicht gefragt. Und dann gibt es ganz konkret beobachtbare Ausschlüsse, vor allem im Zusammenhang mit der Pandemie, weil etwa Publikationen fehlen. Bei kinderfreien Menschen sind die Publikationszahlen während dieser Zeit gestiegen, bei Frauen mit Kindern eingebrochen.

LE: Das Ganze findet in einem Wissenschaftsbetrieb statt, der in Deutschland so dermaßen prekär gestaltet ist, dass eben alle Stellen unterhalb der Professur kettenbefristet sind. Diese enorme Unsicherheit fällt bei den meisten genau in die Familiengründungsphase. Es ist ein Zustand, der öfters als Durchlauferhitzer bezeichnet wird: Die Menschen sind hier eigentlich nur »Menschenmaterial« und wenn sie persönliche Mehrfachbelastungen haben, dann kann alles zusammenbrechen.

Der Aspekt der Selbstausbeutung gehört integral zum Wissenschaftsbetrieb dazu und wird entsprechend gefordert und idealisiert. Steht gerade das nun also im Widerspruch zur Care-Arbeit, die man leisten muss oder will?

SC: Ja. Es ist ein absolut ausbeuterisches System. Erst kürzlich hat mir eine Freundin erzählt, dass ihr Vertrag ausgelaufen ist und sie sich nun ohne Perspektive arbeitslos melden musste. Ihre Vorgesetzte verlangte aber, dass sie noch einen Artikel über das Forschungsprojekt schreiben sollte. Und sie hat – natürlich – zugesagt, selbst mit zwei kranken Kindern zu Hause, denn sie kann ja nicht wissen, ob ihre Professorin oder das Projekt nicht vielleicht irgendwann wieder eine Stelle für sie haben. Diese ausbeuterischen Verhältnisse und die entgrenzte Arbeit begünstigen die Unvereinbarkeit, denn andererseits sind ja auch die Tätigkeiten einer Mutter vollkommen entgrenzt. Zumindest gibt es den Anspruch an Mütter, dass sie sich jahrelang selbst hintanstellen und in ihren Bedürfnissen zurückstecken und immer verfügbar sind. Beide Aufgaben zusammen sind jedenfalls nicht leistbar.

LE: In unserem ersten Band hatten wir einen wunderbaren Beitrag von Christiane Lewe, die auch den Ableismus des Wissenschaftsbetriebs thematisiert. In der Wissenschaft werden Menschen vorausgesetzt, die ständig geistige und auch körperliche Höchstleistungen bringen. Jegliche Einschränkungen, ob physischer oder psychischer Art, sind darin nicht willkommen. Und das ist in letzter Konsequenz auch für die Inhalte der Wissenschaft ein großes Problem, wenn wir hier eine homogene Gruppe von Menschen haben, die jenes Wissen produziert, das aber relevant für eine hochgradig diverse und heterogene Gesellschaft sein soll. Das betrifft eine ganz andere Ebene als nur die Universität und ihren Betrieb. Es handelt sich um eine grundlegend machtkritische Frage, die zwar unangenehm ist, die aber gestellt werden muss. Gerade jetzt, also nach beziehungsweise während der Krise und mit Ausblick auf die nächsten Krisen.

Wie kann dann dieser Form von Ungleichheit begegnet werden? Gibt es konkrete Maßnahmen beziehungsweise Ideen oder handelt es sich tatsächlich um ein so großes Problem, dass es nur gesamtgesellschaftlich bearbeitet werden kann?

LE: Es gibt große und kleine Stellschrauben. Wir versuchen durch die Schwarmintelligenz unseres Netzwerks Mutterschaft und Wissenschaft, Ideen zusammenzutragen und ganz konkrete Maßnahmen zu entwickeln und vorzuschlagen, die sich dann auch an größerer oder machtvollerer Stelle anbringen lassen. Das fängt etwa dabei an, wie Forschungsanträge oder Forschungsstipendien ausgeschrieben werden und reicht bis zu der Forderung, dass alle Menschen mit Kindern entfristete Stellen erhalten sollen.

SC: Es gibt selbstverständlich verschiedene Ebenen, um dieses große Problem anzugehen. Einerseits braucht es politische Lösungen, die nicht nur die Unvereinbarkeit in der Wissenschaft angehen, sondern gesamtgesellschaftliche Schieflagen wie die ungerechte Verteilung von Care-Arbeit bearbeiten. Dann braucht es eine diversere Besetzung von Gremien, damit verschiedene Perspektiven vertreten sind. Es wäre zudem möglich, das Elterngeld zu reformieren, sodass es nur in voller Höhe ausgezahlt wird, wenn es bei mehreren Elternteilen paritätisch aufgeteilt wird. Ganz akut sollte sich aber jede Wissenschaftseinrichtung jetzt fragen, was können und müssen wir tun, um die Folgen der Pandemie für Menschen mit Care-Verantwortung abzumildern. Das könnten zusätzliche Mittel sein oder Vertragsverlängerungen, die zum Teil schon vorgenommen werden, aber eben nicht flächendeckend. Denkbar wären auch virtuelle Gastprofessuren für Menschen mit Kindern, weil die eben nicht einfach mal für ein halbes Jahr ihre gesamte Familie ins Ausland verpflanzen und international tätig sein können, obwohl dies als Voraussetzung für eine Karriere gilt. Momentan sammeln wir diese verschiedenen Ideen und werden sie demnächst auch in einem Artikel veröffentlichen, auf dass sie hoffentlich Verbreitung finden.

LE: Mir ist noch eine Sache eingefallen: Es ist ganz wichtig, dass Männer und Väter ebenfalls ihre Care-Arbeit sichtbar machen und diese nicht verschweigen. Das betrifft auch vermeintliche Kleinigkeiten, wie zum Beispiel spätestens nach 17 Uhr aus einem Meeting rauszugehen mit der Ansage, »Ich muss jetzt meine Kinder von der Kita abholen«.

Sie haben selbst erwähnt, dass es an den Hochschulen durchaus viele Bemühungen wie Gleichstellungsprogramme gab, die als Ergebnisse feministischer Kämpfe gesehen werden können. Wie lässt sich eine Politisierung der Mutterschaft darin einordnen? Stehen ihre Forderungen in Abgrenzung oder Ergänzung zu feministischen Auseinandersetzungen?

SC: Das trifft, glaube ich, den Kern des Problems. Einerseits ist die Politisierung von Mutterschaft in vollem Gange, nicht nur an der Universität, sondern auch im gesellschaftlichen Mainstream gibt es im Moment relativ viele Publikationen dazu. Und wir hoffen, dass wir dazu beitragen und uns darin einreihen können. Andererseits ist Mutterschaft noch immer ein Tabu, mindestens eine große Leerstelle in der feministischen Theoriebildung und den Diskursen der Gender Studies. Mütter sind als Forschende kaum in diesen Bereichen tätig und Mutterschaft bleibt ein klebriges, biederes, irgendwie anti-emanzipatorisches Thema, dem man sich nicht so gerne widmet und lieber generalisiert von Sorgearbeit und Care spricht. Es ist großartig, dass Care eine solche Aufwertung erfährt, aber wir müssen auch spezifisch über Mutterschaft sprechen.

LE: In der Geschichte des Feminismus standen Mütter oft mitten in der feministischen Bewegung. Es war früher selbstverständlich, dass auf den Demonstrationen überall Kinderwägen und Kinder waren und dass Feminismus gewissermaßen mit Mutterschaft beginnt. Zwar gibt es momentan tatsächlich ein Revival und viele Publikationen etwa zu Mutterschaft und Klasse. Aber wir müssen wieder ins Zentrum des Feminismus. (lacht)

Es ist der Begriff der Mutter, den wir uns jetzt tatsächlich auf die Fahnen schreiben und ihn damit auch zurückerobern wollen. Wir sind der Überzeugung, dass wir diesem Begriff genau das Klebrige, Biedere und Anti-Emanzipatorische nehmen und ihm wieder einen positiven, emanzipatorischen Bezug geben müssen, vielleicht auch etwas Glam, damit er seine politische Schlagkraft entfalten kann.

Welche Teile von Mutterschaft gehen denn im Care-Begriff nicht auf? Wo liegt die Leerstelle?

SC: Diese Frage stellen wir uns auch ständig und haben keine abschließende Antwort. Aber die Sorge und Verantwortung für Kinder, vor allem für kleine Kinder und Neugeborene, ist noch einmal etwas anderes als zum Beispiel die Pflege eines alten, bettlägerigen Mannes. Und dieses Andere, das versuchen wir zu fassen und auch zu theoretisieren.

LE: Mit der politischen Philosophin Silvia Federici könnte man auch sagen: Es geht schlicht und einfach um die unbezahlte Arbeit. Mutterschaft betrifft reproduktive, sprich nicht als produktiv angesehene Arbeit und wird daher wie selbstverständlich nicht entlohnt. Die Aufforderung zu dieser unbezahlten Arbeit wird fast ausschließlich an Frauen herangetragen und dieser Aspekt ist im Care-Begriff noch nicht stark genug herausgearbeitet. Mutterschaft zu politisieren, kann hier helfen, auch ein neues ethisches Verständnis von Arbeit zu fördern.

SC: Gleichzeitig gibt es ja den Begriff der unbezahlten Care-Arbeit. Aber Mutterschaft betrifft auch noch andere Dimensionen und auch einen anderen Grad an Abhängigkeit. Wer einmal für ein Neugeborenes Sorge tragen musste, weiß, was das bedeutet. Was aber unserer Erfahrung nach ebenso wenig zur Sprache kommt, ist das Positive, was Mutterschaft ausmacht. Sie kann eine bestimmte Art von emotionaler Bindung sein, die sehr viel gibt und sich von anderen Bindungen und Sorgebeziehungen stark unterscheidet. Das lässt sich, meiner Erfahrung und Meinung nach, nicht subsumieren unter Care.

Als ich während meiner Promotionsstelle als Vater in Elternzeit gegangen bin, sagte meine damalige Chefin zu mir, sie sei enttäuscht, dass ich mich gegen eine wissenschaftliche Karriere entschieden habe. Gibt es im Problemkomplex auch eine Dimension von Elternschaft? Was ist die Spezifik von Mutterschaft demgegenüber?

SC: Die Episode, die Sie da schildern, ist individuell natürlich totaler Mist. Auch ich kann eine vergleichbare Geschichte erzählen: Mein Lebenspartner hatte ein Jahr lang Elternzeit genommen und verlor dafür seine Stelle. Das ist im persönlichen Fall tragisch, aber es zeigt auch deutlich, dass es offensichtlich nicht nur Müttern so geht. Deshalb ist es selbstverständlich sehr wichtig, alle Eltern oder alle Care-Arbeitenden mitzunehmen, weil das ein Kampf oder eine Bewegung ist, die alle angeht – unabhängig davon, ob sie für Kinder sorgen oder nicht.

LE: Gleichzeitig gibt es eben immer noch spezifische Unterschiede in der Behandlung von Müttern und Vätern. Was Sie geschildert haben, ist immer noch eine Ausnahme oder ein neues Phänomen. Vielleicht ist in dieser Hinsicht tatsächlich etwas in Bewegung. Aber Müttern passiert das schon immer und überall. Und es bleibt daher ein spezifisches Anliegen, über die Probleme von Mutterschaft zu sprechen. Solange wir diese Ungleichbehandlung haben, diese ungleiche Adressierung, dass immer nur Frauen ab einem gewissen Alter die Frage nach Kinderwunsch gestellt bekommen, dass nur Frauen auf Konferenzen gefragt werden, wo denn die Kinder gerade sind, oder ob sie sich sicher sind, dass sie schon wieder oder noch nicht in den Job zurückkehren wollen, solange müssen wir eben auch von Müttern und Vätern sprechen. Was nicht heißt, dass nicht Elternschaft auch eine valide Kategorie ist, die man mitdenken muss, es ist nur nicht deckungsgleich. Die Positionierungen Mutter und Vater sind eben nicht mit denselben Erwartungen verbunden, Vaterschaft ist nicht überfrachtet durch dieselben Idealbilder.

Aus Ihrer Arbeit heraus haben Sie ein Netzwerk zu Mutterschaft und Wissenschaft gegründet. Wie kam es dazu?

LE: Für unser zweites Buch hatten wir die Autorinnen aus dem ersten Buch um ein Update zu ihrer Situation in der Pandemie gebeten. Die Rückmeldungen haben uns noch einmal bewusst gemacht, wie sehr Betroffene Solidarität, Sichtbarkeit und nicht zuletzt auch eine politische Schlagkraft brauchen. Wir haben uns dann entschieden – obwohl eigentlich keine von uns mehr die Ressourcen hatte –, ein Netzwerk zu gründen, um uns miteinander in Verbindung zu setzen und zu schauen: Was sind die Erfahrungen, die Bedürfnisse, wo können wir ansetzen. In den Lesungen zu unserem ersten Buch ist uns sehr viel an Solidarität und auch Dankbarkeit begegnet, diese wollten wir organisieren.

SC: Das erste Buch hat eine große Resonanz erfahren, womit wir gar nicht gerechnet hatten. Wir waren dann an vielen Hochschulen für Online-Lesungen zu Gast und konnten bei jeder Veranstaltung feststellen, dass es einen riesigen Bedarf an Austausch zu dem Thema Mutterschaft und Wissenschaft gibt. Bei einigen war eine ganz große Erleichterung zu spüren, weil sie vielleicht zum ersten Mal feststellten: Ich bin gar nicht alleine und es liegt nicht an mir individuell, dass ich Mutterschaft und Wissenschaft nicht vereinbart kriege, sondern es gibt strukturelle Gründe. Daraus ist der Gedanke entstanden, dass wir ein Netzwerk brauchen, das wir im Dezember 2021 dann eben gegründet haben. Mittlerweile erreichen wir damit etwa 700 Personen.

Wie sehen die Arbeit und die Aktivitäten im Netzwerk aus?

SC: Vor allem haben wir regelmäßige Onlineveranstaltungen. Alle, die gerade Zeit und Lust haben, mit oder ohne Kinder, können ganz niedrigschwellig zum Erfahrungsaustausch oder mit einem spezifischen Thema zusammenkommen. Und dann gibt es verschiedene Lokalgruppen, derzeit sind es 16 in ganz Deutschland. Momentan gründen sich zudem thematische Untergruppen, also zum Beispiel zu Mutterschaft und Intersektionalität, Mutterschaft und Medizin …

LE: … Mutterschaft und Pendelei, Mutterschaft und Alleinerziehende, Mutterschaft und queere Lebensweisen. Zudem haben wir einen Rundbrief, in dem wir aktuell über Veranstaltungen oder gesetzliche Neuerungen informieren. Außerdem sammeln wir auch Forderungen an die Politik und wir haben ein Workshop-Angebot zum Thema Mutterschaft und Wissenschaft für verschiedene Zielgruppen in der Wissenschaft entwickelt.

SC: Über die sozialen Medien werden uns fast täglich Erfahrungen von der Ungleichbehandlung von Müttern zugetragen. Wir haben gefragt, ob wir diese Berichte anonymisiert veröffentlichen dürfen und haben jetzt auch gezielt im Netzwerk aufgerufen, uns diese Erfahrungen zukommen zu lassen. Wir können sie dann unter #mutterschaftundwissenschaft in den sozialen Medien sichtbar machen, etwa auch im Zusammenhang mit Kampagnen wie #IchBinHannah zu den prekären Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbetrieb. Wir wollen dabei nicht stehenbleiben, aber es ist ein weiterer Schritt für die Sichtbarkeit und die Benennung des Problems.

LE: Perspektivisch wollen wir auch daran arbeiten, die angesprochene Datenlücke bezüglich Mutterschaft mit eigener Forschung zu schließen. Wir hoffen, dass wir für das Netzwerk eine Form finden, als Verein oder Stiftung, in der wir dafür Gelder einwerben können.

Das Netzwerk macht beeindruckende Arbeit. Aber zugleich zeigt es auch eine paradoxe Situation, die zum größeren Problemkomplex dazugehört: Den Betroffenen, die schon unter dem Widerspruch von Sorge-Arbeit leiden, fällt die Rolle zu, sich selbst um das Problem kümmern zu müssen, damit die Situation für alle besser wird.

LE: Ja. Danke, dass das mal erwähnt wird. (lacht)

SC: Tatsächlich sind die allermeisten Care-Arbeitenden nach drei Jahren Pandemie zu erschöpft für politische Arbeit. Wir hoffen, dass wir das mit einem solidarischen Netzwerk ändern können. Denn gemeinsam, so hoffen wir, können wir wirklich etwas verändern.

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