Werbung

Berlinale-Film »Das Lehrerzimmer«: Das alles ist total freiwillig

In »Das Lehrerzimmer« versucht eine Pädagogin, einen Diebstahl aufzuklären, und die Sache eskaliert

Wenn alles zu viel wird, hilft auch mal kollektives Schreien in der Klasse.
Wenn alles zu viel wird, hilft auch mal kollektives Schreien in der Klasse.

Für Außenstehende ist es recht schwer zu verstehen, was Menschen dazu treibt, Lehrer*in werden zu wollen. Diese Verwunderung ist wohl ein Amalgam aus Erinnerungen an die eigene Schulzeit, den Nachrichten von Personalmangel, angeblich immer respektloser werdenden Schüler*innen und runtergerockten Schulgebäuden. Ja, ehrlich: Warum also tut man sich das an?

Schon vor zwei Jahren lief auf der Berlinale ein Film im Wettbewerb, der auf diese Frage eine gute Antwort gab. »Herr Bachmann und seine Klasse« ist ein beeindruckender Dokumentarfilm über einen Lehrer, der alles von seinen Schüler*innen will, aber sie mit Sicherheit nicht auf das »Leben da draußen« zurichten möchte. İlker Çataks Film »Das Lehrerzimmer«, der in der Panorama-Sektion der diesjährigen Berlinale seine Weltpremiere feiert und im Mai regulär in die Kinos kommen wird, zeigt genau die andere Seite, nämlich die, wie es in einer Schule zugeht, die am Ende fertig produzierte Abbilder der Leistungsgesellschaft ins »echte Leben« entlässt.

Der Spielfilm erzählt von Clara Nowak (Leonie Benesch), einer idealistischen Lehrerin, die neu an einem Gymnasium als Mathe- und Sportlehrerin anfängt. Dem Drehbuch, das Regisseur Çatak zusammen mit seinem Schulfreund Johannes Duncker schrieb, ist es egal, wo dieses Gymnasium steht, was Clara Nowak in ihrer Freizeit macht, welches Auto sie fährt und wie sie ihr Wohnzimmer gestrichen hat. Die Zuschauer*innen erleben sie ausschließlich im schulischen Kontext, und das ist eine gute Entscheidung, denn der Stoff entwickelt so eine drückende Dynamik.

Als Diebstähle an der Schule zunehmen, zeigt sich, was Machtungleichgewichte anrichten. Schüler*innen werden verhört und sollen verraten, wer es war (»Du musst das nicht tun, alles ist total freiwillig«). Natürlich trifft es den Jungen mit Namen Ali, aber das Drehbuch ist zu schlau, hieraus eine vorhersehbare Posse über strukturellen Rassismus zu machen. Stattdessen begibt sich Clara Nowak auf eigene Faust auf die Suche nach dem Täter und weiß gar nicht, was für ein Drama sie damit auslöst.

Çatak und Duncker geht es um das System Schule als Mikrokosmos der Gesellschaft. Ihnen gelingt durch genaue Beobachtungen ein Abbild des daueralarmierten Erregungszustandes, in dem wir uns seit Jahren befinden, der im virtuellen Raum geschaffen wurde und nun längst die Realität vereinnahmt.

Keine Figur in »Das Lehrerzimmer« ist ausschließlich gut oder böse, sondern jede handelnde Person trifft gleich viele schlechte Entscheidungen, aus deren Konsequenzen sich immer neue Abwärtsbewegungen ableiten. Es treten auf: empörte Eltern, die sich in einer Chatgruppe organisieren und ereifern; Lehrer*innen, die sich »nicht länger auf der Nase rumtanzen lassen« wollen; eine überforderte Schulleitung und eine Klassenlehrerin, die stets das Gute will, aber genau deshalb das Böse schafft. Das alles ist keine Klischeeparade, die schnell ermüdend wirkt, sondern eine schlau konstruierte Geschichte über die Ausspielung von Macht, zeitgenössische Rechthaberei und Widerstand gegen die Urteilskraft der Masse.

Die Figur der Clara Nowak, in ihrem ehrenwerten wie fatalen Aktionismus wunderbar verkörpert von Leonie Benesch (»Das weiße Band«, »Babylon Berlin«), hat immenses Identifikationspotenzial, will sie doch stets möglichst integer handeln, scheitert aber doch an ihren eigenen Ansprüchen, weil Gerechtigkeit nicht erzwingbar ist. Charaktere mit großer Fallhöhe sind immer faszinierend anzuschauen.

Einzig der Blick auf die Jugend wirkt in »Das Lehrerzimmer« stellenweise anbiedernd und unrealistisch, wenn Siebtklässler*innen alles in sich vereinen, wofür Ältere die harte Schule des Erwachsenwerdens durchmachen müssen: souverän, abgebrüht, schamlos und aufgeklärt. In dieser Ausschließlichkeit kann das für 12- bis 13-Jährige nicht stimmen.

Trotzdem zeigt auch »Das Lehrerzimmer« wie schon »Herr Bachmann und seine Klasse«, was eine Gesellschaft verspielt, die als Aufgabe von Schule nur das Herstellen funktionierender Zahnrädchen sieht.

»Das Lehrerzimmer«, Deutschland 2023. Regie: İlker Çatak. Mit: Leonie Benesch, Leonard Stettnisch, Eva Löbau, Michael Klamme. 94 Min. Termine: Di 21.2., 20.30 Uhr: Blauer Stern; Sa 25.2., 18.30 Uhr: Cineplex Titania.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.