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Fokus auf Opfer von Gewalt und Missbrauch
Forschungsverbund zu Erfahrungen in DDR-Kinderheimen bilanziert seine Arbeit
Rund eine halbe Million Menschen haben zwischen 1949 und 1989 einen Teil ihrer Kindheit in einem Heim in der DDR verbracht, 135 000 von ihnen nach Angaben der Bundesregierung in sogenannten Spezialheimen und Jugendwerkhöfen. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2015 waren letztere »für besonders grausame Methoden der ›Umerziehung‹ im Sinne der Erziehungsvorstellungen der DDR-Regierung bekannt«. Mit der Erforschung der Erfahrungen früherer Heimkinder in der DDR hat sich von 2019 bis 2022 eine Gruppe von Wissenschaftlern im Rahmen des vom Bundesbildungsministerium (BMBF) im Rahmen des Projekts »Testimony – Erfahrungen in DDR-Kinderheimen. Bewältigung und Aufarbeitung« befasst. Am Montag stellten sie zentrale Ergebnisse ihrer Arbeit und Empfehlungen an die Politik in einer Online-Pressekonferenz vor.
Hauptquelle der Erkenntnisse ist eine Fragebogenstudie mit 273 Teilnehmenden, die unter Federführung der Universitätsmedizin Leipzig erarbeitet wurde. Man habe auf allen erdenklichen Wegen versucht, Zeitzeugen zu kontaktieren und für eine Teilnahme zu gewinnen, sagte Studienleiterin Heide Glaesmer von der Uni Leipzig auf nd-Nachfrage. Insgesamt haben sich nach ihren Angaben rund 600 Personen gemeldet. Eine repräsentative Studie sei unter den gegebenen Bedingungen nicht möglich, räumte Glaesmer ein. Von den Teilnehmenden haben laut Studie 79 Prozent emotionale Misshandlung erfahren, »davon 48 Prozent im Heim und außerhalb«. 68 Prozent sagten, sie seien physisch misshandelt worden, »davon 35 Prozent im Heim und außerhalb«. 54 Prozent der Befragten berichteten von sexuellem Missbrauch, »davon 17 Prozent im Heim und außerhalb«. Der Begriff des sexuellen Missbrauchs sei bewusst weit gefasst worden, so Glaesmer.
Es war also die überwiegende Mehrheit der Teilnehmenden, die in der Leipziger Befragung – und in 20 Einzelinterviews, die Mitarbeitende der Berliner Alice Salomon Hochschule (ASH) führten – von Gewalterfahrungen berichteten. Viele erfuhren all dies bereits in ihren Herkunftsfamilien und wurden deshalb in staatliche Obhut genommen.
Gewalt auch durch Mitbewohner
Gewalt sei in den Heimen einerseits von Erziehern und Erzieherinnen ausgegangen, andererseits aber sehr häufig auch von anderen Kindern und Jugendlichen, so Glaesmer. Die Hemmungen, über Opfererfahrungen zu sprechen, haben teils auch damit zu tun, dass manche eben auch zu Tätern geworden seien. In den Einrichtungen habe jeder gewusst, welche Betreuer sich an ihren Schutzbefohlenen vergangen oder sie misshandelt hätten, passiert sei aber nur in den seltensten Fällen etwas, sagte Silke Gahleitner von der ASH.
Heiner Fangerau von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der über Archivforschung die Rahmenbedingungen erforscht hat, in denen in Jugendämtern Tätige, Heimverantwortliche und Fachkräfte agiert haben, benannte Platz- und Personalmangel als wesentliche Ursachen für Fehlentwicklungen. Zu große Gruppen, Unterbringung in Schlafsälen und das Fehlen von Privatsphäre hätten das »Gewaltpotenzial innerhalb von Gruppen« begünstigt, also von Kindern gegen andere Kinder. Zudem habe es oft zu wenige Personen gegeben, an die sich Opfer hätten wenden können.
Es habe zwar therapeutische Ziele und Ansätze gegeben, so Fangerau. Doch diese seien nachrangig gegenüber dem »Einpassen ins Kollektiv« gewesen. In den ausgewerteten Akten von Jugendämtern seien auch Fälle von Gewaltanwendungen durch Heimpersonal dokumentiert, wobei das Dunkelfeld mit Sicherheit sehr groß sei, betonte Fangerau. Solche Fälle seien zumindest dann untersucht worden, wenn sich Eltern der Kinder nach Besuchen im Heim mit Beschwerden an die Verwaltung gewendet hätten. Meist sei dies aber ohne ernste Konsequenzen für die Täter geblieben.
Erniedrigende Erfahrungen mit Fonds
Zur Erfahrung mit dem Fonds »Heimerziehung in der DDR« sagte Gahleitner, die von ihr Interviewten hätten damit negative Erfahrungen gemacht. Ihr Gefühl sei bis heute, keine Lobby zu haben. Sie hätten einen »sehr bürokratischen Apparat« erlebt und »erniedrigende Erfahrungen« machen müssen. Gleichwohl war die Ausgangslage für ehemalige DDR-Heimkinder weitaus besser als die für frühere Bewohner von staatlichen und kirchlichen Fürsorgeeinrichtungen der alten Bundesrepublik. Während letztere Schädigungen als Folge ihres Heimaufenthalts und ihre Bedürftigkeit nachweisen mussten, bekamen erstere Leistungen aus dem Fonds ohne solche Nachweise.
In der am Montag veröffentlichten Leipziger Erklärung des Forschungsverbundes heißt es, eine »große Gruppe« von Menschen mit DDR-Heimerfahrungen habe von »physischen, psychischen und sexualisierten Gewalterfahrungen« berichtet, und zwar »über alle Heimtypen hinweg«. »Trotz positiver Berichte und Rückblicke einiger Teilnehmenden« sei die große Häufigkeit auffällig. Die Wissenschaftler fordern unter anderem eine Ergänzung und regelmäßige Überprüfung von Projekten wie »Heimatlas Jugendhilfe der DDR«. Der Zugang zu Akten solle erleichtert und »die Problematik der Aktenvernichtung in den Fokus« gerückt werden. »Begutachtungsprozesse« müssten »verschlankt und niedrigschwellig zugänglich gemacht werden«. Juristen wie auch Therapeuten müssten zudem zur Thematik Heimerfahrungen und zu einem »traumasensiblen Umgang« mit Betroffenen angemessen geschult werden. Zudem gelte es, eine Kultur von Anerkennung und Respekt sowie einen »wertschätzenden Umgang« in der Öffentlichkeit zu entwickeln.
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