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Neuerscheinungen, annotiert: Andreas Dorau/Sven Regener, Ulrike Draesner, Ian McEwan und Punks für das Rote Kreuz der Ukraine

  • Niko Daniel
  • Lesedauer: 6 Min.

Der beste Roman

Der sympathische Musiker und Sänger Andreas Dorau ist einer der letzten Do-it-yourself-Heroen, die das Empowerment und die Ironie von Punk konstant zu ihrer Kunst gemacht haben, zu besonnen kleinen Hits, die leider viel zu wenig Menschen erreicht haben. Mit »Die Frau mit dem Arm« ist nun der zweite Teil seiner Autobiografie erschienen. Geholfen hat ihm dabei wieder sein alter Fan Sven Regener, der mit seiner Musik und vor allem mit seinen Romanen etwas mehr Ruhm abbekommen hat. Soll Dorau auch einen schreiben? »Der beste Roman ist Andreas’ Leben selbst, er ist der interessanteste und unberechenbarste Künstler, den ich kenne.«

Andreas Dorau & Sven Regener: Die Frau mit dem Arm. Galiani, 192 S., geb., 22 €.

Auf Geisterspur

Was für eine Geschichte. In Ulrike Draesners Roman »Die Verwandelten« wird eine Frau namens Gerhild angeblich in einem »Lebensbornheim« der SS geboren, in Wahrheit aber über diese Einrichtung adoptiert und wächst dann in München auf. Was sie nicht weiß: Sie ist die illegitime Tochter des Breslauer Theaterintendanten und einer Hausangestellten. In Wahrheit hieß sie einmal Alissa. Und was sie noch viel weniger weiß: Sie hat eine Halbschwester, die Tochter des Intendanten und dessen Ehefrau, die aber am Ende des Zweiten Weltkriegs zurückgelassen wird, als ihre Eltern in den Westen fliehen. Von den einmarschierenden sowjetischen Soldaten wird sie ebenso vergewaltigt wie von den Kämpfern der wieder auftauchenden polnischen Armee, die die Deutschen vertreiben. Zum Selbstschutz gegen die sexuelle Gewalt wird sie zur Polin und lebt als solche im ehemals deutschen Gebiet, das nun polnisch ist – so wird aus dem Mädchen Reni die junge Frau Walla: »Als Polin darf ich in Wrocław bleiben. Gehe ich als Polin zur Polizei, hört man mir zu. Als Waleria Koszyk trage ich keine weiße Armbinde. Als Polin werde ich für meine Arbeit bezahlt. (…) Als Polin brauche ich die Erinnerungslücken in meinem Gehirn.« Diese Zusammenhänge finden zwei Frauen heraus, die ebenfalls nichts davon wussten, dass sie verwandt sind, bis sie sich mehr oder weniger zufällig kennenlernen: Kinga ist die Tochter von Gerhild und Dorota die Tochter von Waleria. In ihnen überkreuzt sich die Geschichte von Deutschland und Polen, von West- und Osteuropa; die Verbindungen sind verschüttet, aber rekonstruierbar: »Walla hat eine Geisterspur erzeugt. Sie lacht. Das ist er, der Satz, mit dem ihr Leben sich zusammenfassen lässt.« Das hat viele Dimensionen und Pointen, wenngleich in diesem Roman die Bösen aus dem Osten zu kommen scheinen, was die Verbrechen der Deutschen im Osten übermalt beziehungsweise verdrängt – was aber mutmaßlich unbewusst mehr dem politischen Stil der Zeit geschuldet sein dürfte als erklärte Absicht von Ulrike Draesner. Damit war sie auf der Shortlist des Buchpreises der Leipziger Messe, den dann aber Dinçer Güçyeter für sein Buch »Unser Deutschlandmärchen« bekommen hat – eine andere Form der Bewältigung von Gewalt und Migration.

Ulrike Draesner: Die Verwandelten. Penguin, 628 S., geb., 25 €.

Nicht viel hinbekommen

Roland kriegt nicht viel auf die Reihe und das weiß er auch. Früher glaubte er, ein Dichter zu sein. Daraus wurde aber nichts. Und auch nicht aus dem Journalismus. Doch seine Frau Alissa wird berühmt, sogar zur berühmtesten deutschen Schriftstellerin. Allerdings hat Roland keinen Kontakt zu ihr, sie hat ihn und ihren gemeinsamen Sohn Lawrence schon lange verlassen. Damals war Lawrence vier Monate alt. Er wächst bei Roland in London auf und hat keinen Kontakt zu seiner Mutter. Roland arbeitet als Tennislehrer und Barpianist. In seiner Jugend galt er als großes Talent am Klavier. Auch daraus hat er nicht viel gemacht. Das hat vermutlich damit zu tun, dass er als Jugendlicher von seiner Klavierlehrerin sexuell missbraucht wurde – auch wenn er damals dachte, er habe das so gewollt. Genauso wie die Klavierlehrerin dachte, es sei Liebe. Beides hat nicht gestimmt. Sie wollte ihn sogar heiraten, doch dem hat er sich verweigert. Genauso wie der Schule, der Karriere und diversen anderen Erwartungen. In »Lektionen« erzählt Ian McEwan Rolands Geschichte von der Kindheit bis ins Greisenalter. Es geht darum, wie und warum Menschen sich entscheiden. Roland hat sich für ein ziemlich langweiliges Leben entschieden. Das Problem ist nur: Ian McEwan hat das auch ziemlich langweilig aufgeschrieben, von den spießigen 50ern bis zur Coronakrise. Spoiler: Auf 720 Seiten gibt es nur vier überraschende Szenen: Die Klavierlehrerin hält Roland gefangen im Schlafanzug, Roland sucht und findet Alissa in den Berliner Menschenmassen beim Konzert von Roger Waters auf dem Potsdamer Platz 1990, Lawrence klingelt als junger Erwachsener bei seiner Mutter Alissa und sie schickt ihn weg, und schließlich ringt Roland mitten in den Bergen mit einem plötzlich aufgetauchten alten Rivalen, als er die Asche der verstorbenen Frau verstreuen will – Alissa war es nicht. Die sitzt im Rollstuhl, weil sie so viel raucht. Und noch ein Spoiler: Roland hat die Klavierlehrerin nie angezeigt.

Ian McEwan: Lektionen. A.d.Engl. v. Bernhard Robben. Diogenes, 720 S., geb., 32 €.

Punks für das Rote Kreuz der Ukraine

Das »Hope Collective« aus Dublin ist eine Selbsthilfegruppe von Punk- und Indie-Musikern, die sich in den 80ern gegründet hat und die bis heute Konzerte organisiert. Aber auch Bücher für einen guten Zweck rausbringt: Es gab schon eins für das Rote Kreuz in Syrien, um den Flüchtlingen im Bürgerkrieg zu helfen und eins für eine Krankenhaus-Stiftung in der Pandemie. Verdienstvoll ist auch der Band »Punks Listen«, dessen Erlös an die Flüchtlingshilfe des Roten Kreuzes der Ukraine geht. Darin schreiben über 100 Punk- und Postpunk-Musiker über die Platten, die sie am meisten beeinflusst haben. Sehr oft genannt werden die Sex Pistols, Clash und Stooges, aber auch The Who und Joni Mitchell. Craig Leon, Produzent der Ramones, liebt hingegen das Radioprogramm an sich und zwar von Beethoven bis Howlin’ Wolf. Andy Moor von The Ex findet den Sampler »African Strings« aus Südafrika toll, Tav Falco das Album »Two Steps from the Blues« des Soulsängers Bobby Bland von 1961, Kevin Godley von Godley & Creme »Sgt. Pepper’s« von den Beatles, Roger Milleer von Mission of Burma das Debüt von Pink Floyd und Norman Westberg von den Swans das Debütalbum von Nico (alle 1967 erschienen). Und Hugo Burnham von Gang of Four stand schon 1970 mit 14 auf »Bridge Over Troubled Water« von Simon and Garfunkel. Bis heute kriegt er davon Gäsenhaut.

Niall McGuirk/Michael Murphy: Punks Listen. Hope Publications, 320 S., br., 16 €.

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