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Filmstart »A Thousand and One«: Alles nur, weil ich dich liebe
A.V. Rockwell erzählt in ihrem Debütfilm »A Thousand and One« eine komplexe Mutter-Sohn-Geschichte
Es gibt Leben, in denen das Telefon eine zentrale Rolle spielt. Es sind Leben, von denen die privilegierte Mittelschicht nicht den Hauch einer Ahnung hat, weil es darin um echte Probleme geht. Eines dieser Leben lebt Inez (die absolut vergötterungswürdige Tayana Taylor) in A.V. Rockwells »A Thousand and One«, und sie hängt eigentlich ständig am Telefon. Nicht einem in ihrem gemütlichen Wohnzimmer, sondern einem Münzautomat an einer Straße im Harlem der 90er Jahre.
Gerade aus der Haft entlassen, muss sie sich ein neues Leben aus dem Nichts bauen: Wo ist ein Platz in der nächsten Obdachlosenunterkunft frei, wer hat einen Job für sie und auf welche Schule kann sie ihren sechsjährigen Sohn Terry (Aaron Kingsley Adetola) schicken, den sie nach einem Unfall aus dem Krankenhaus kidnappt und der eigentlich bei einer Pflegefamilie lebt. Kindesentführung also, dabei kommt sie gerade erst aus dem Knast. So krasse Frauenfiguren sind selten im Kino, und da fängt die Geschichte gerade erst an.
Da sie meilenweit von dem entfernt ist, wie es in der Mittelschicht heißt, Connections zu haben, muss Inez sich von Fyler zu Flyer telefonieren. Aber sie lässt nicht locker, bis Ruhe in ihr hektisches Leben kommt, weil sie und ihr Sohn eine Wohnung finden und Terry, ein schlaues, aber schüchternes Kind, in der Schule gut zurechtkommt. So gut sogar, dass seine Vertrauenslehrerin ihn am liebsten für die Eignungstests nach Havard oder ans MIT schicken würde. Um überhaupt auf einer Schule angenommen zu werden, besorgt Inez ihrem Sohn gefälschte Papiere, die nächste folgenschwere Entscheidung.
Tayana Taylor, die selbst in Harlem aufwuchs und erst bei Beyoncé als Tänzerin anfing, dann bei Kanye Wests Label einen Plattenvertrag unterschrieb und kleinere Charterfolge hatte, ist in ihrer ersten Hauptrolle zu sehen, und sie ist eine Wucht. Ihre Inez ist so voller Stolz und Würde, dass die Leinwand für ihr Charisma eigentlich zu klein ist. Die monströs riesigen Goldcreolen und die fetten Ketten, die sie trägt, sind eine Reminiszenz an die Hip-Hop-Kultur der 90er Jahre, aber viel mehr noch sind sie ein funkelnder Schutzschild gegen die misogyne, rassistische Umwelt, in der sie sich behaupten muss. Diese Härte, die sie gleichzeitig ausstrahlt, kommt nicht von ungefähr: Inez ist selbst Heimkind, was anderen, vor allem weißen Kids, an bescheidenem Wohlstand einfach so zufliegt, hat sie mit Sturheit und Selbstbewusstsein hart erkämpft.
Ab und an werden die Szenen von eingespielten Kommentaren der ehemaligen New Yorker Bügermeister Rudy Giuliani und Michael Bloomberg unterbrochen, die von Nulltoleranz und von Stop-and-Frisk sprechen, nichts anderes als Racial-Profiling und die Kriminalisierung von Armut, die also auch von Polizeigewalt gegen Schwarze erzählen und von einem New York, das schick und lebenswert für alle werden soll. Eine schlichte Lüge, wie Inez’ Geschichte beweist: »Während viele andere Filmemacher sich einen Namen gemacht haben mit großartigen Oden und Liebesbriefen an die Stadt, war es mein erklärtes Ziel, letztendlich einen Film darüber zu machen, wie New York mein Herz und das Herz der Menschen in meinem Umfeld gebrochen hat«, sagt Rockwell.
Und immer wieder kommen einem Ausschnitte aus Ta-Nehisi Coates »Zwischen mir und der Welt« in den Kopf, eine in Buchform gebundene Anklage an die rassistische US-amerikanische Gesellschaft. Wenn Coates an seinen Sohn schreibt: »Ich kenne den Traum schon mein ganzes Leben lang. Er besteht aus schmucken Häusern und hübschen Vorgärten. Grillen am Memorial Day (…) Baumhäusern und Pfadfindern. Der Traum riecht nach Pfefferminz und schmeckt nach Erdbeerkuchen. Und so lange wollte ich in diesen Traum flüchten und mir mein Land wie eine Decke über den Kopf ziehen. Aber das geht nicht, die Möglichkeit bestand nie, denn der Traum ruht auf unserem Rücken, sein Bettzeug ist aus unseren Körpern gemacht.« Auch »A Thousand and One« erzählt von diesen Körpern. Und ohne einen Funken pathetisch zu sein, verweist der Film immer wieder auf die Identität der Black Community (in einer sehr langen Einstellung wird das Straßenschild der Frederick Douglass Avenue gezeigt; Terrys großes Vorbild ist Quincy Jones), aber auch auf ihren großen Schmerz.
Im Zentrum steht jedoch immer die Mutter-Sohn-Geschichte, von der sich alles andere ableitet. Dabei ist der Film zu keiner Zeit eine kitschige Sozialromanze. An den entscheidenden Stellen, an denen man die größtmögliche Wendung ins Katastrophale erwartet, bricht Rockwell mit diesem Schubladendenken und zeigt, wie peinlich vorprogrammiert Sehgewohnheiten geworden sind. So ist Inez’ neuer Partner Lucky (Will Catlett) kein düsterer, gewaltbereiter Schlägertyp, sondern ein liebevoller Stiefvater für Terry, der ihm in entscheidenden Momenten seiner Pubertät eine Stütze ist, auf die nicht viele Jugendliche bauen können. Aber auch Lucky ist, wie Inez, eine ambivalente Figur, weil die Verhältnisse nun mal so sind wie sie sind.
Rockwell zeichnet genau nach, warum Inez für Terry so unbedingt ein besseres als ihr eigenes Leben will: aus Liebe, die sie nie erfahren hat. Dabei ist Inez’ Mutterschaft keine erdrückende Liebe aus Sehnsucht, sondern eine ehrliche, bedingungslose Liebe, streng, wenn es darum geht, Weichen fürs Leben zu stellen. Eine Strenge, die den Halt gibt, den Inez nie bekommen hat. Diese sehr fein austarierte Balance aus Fürsorge und Selbstständigkeit, die jede Mutter irgendwie managen muss, beschreibt Rockwells Film sehr genau. Perfekt ist diese Liebe nie, dafür ist Rockwells Drehbuch zu clever. Inez darf unberechenbar, launisch und impulsiv sein. An einer Stelle sagt Inez dann auch den Satz: »Beschädigte Menschen wissen nicht, wie man sich liebt.« Und sie macht Fehler aus den richtigen Gründen, die am Ende aber eine unvorhergesehene und dramatische Wendung einleiten, die dem Film keinen effekthascherischen Moment verpasst, sondern nur noch tiefer in die komplexe Gefühlswelt ihrer Protagonist*innen hineinzieht.
Obwohl der Film so viele verschiedene Themen aufs Tableau bring (Blackness, Rassismus, Mutterschaft, Gentrifizierung), sind sie immer organisch miteinander verbunden und wirken nie wie künstlerischer Whataboutism, denn dafür hat Rockwell viel zu akribisch recherchiert. Inez Charakter etwa speist sich aus mehreren Schwarzen Frauenfiguren, die Rockwell selbst in ihrer Kindheit und Jugend erlebt hat. Der Wandel New Yorks, der vor allem Harlem und seinen Bewohner*innen zu schaffen machte, war für Rockwell zentral, weil sie selbst in dieser Stadt aufwachsen ist und den Rassismus, der in der Gentrifizierung steckt, erlebte. Ihr Spielfilmdebüt, das beim Sundance Filmfestival den großen Preis der Jury gewann, ist ein unglaublich kraftvolles Porträt einer Frau, die sich mit der Beschissenheit der Dinge nicht abfinden will und aus Liebe alles richtig und gleichzeitig alles falsch macht. Der beste Film des Jahres – bis jetzt.
»A Thousand and One«: USA 2022. Regie und Drehbuch: A.V. Rockwell. Mit: Aaron Kingsley Adetola, Teyana Taylor, Josiah Cross, William Catlett. 117 Minuten, läuft im Kino.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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