- Kultur
- Magnetizdat
DDR-Untergrund: Die Lieder von morgen
Aura, Aggression und Avantgarde: Ein neuer Rückblick auf den »Magnetbanduntergrund« der DDR
Im Januar 1990 schrieb Brigitte Herdlitschke im »Tip«, dem Westberliner Stadtmagazin: »Wer seine Ohren liebt, der hielt sie bisher beim Stichwort ›Rock aus der DDR‹ meist ganz schnell zu. Er musste schließlich befürchten, dass sie durch den realexistierenden Schleim solcher Rockzombies wie City, Karat oder Puhdys sofort verklebten.« Als Gegengift empfahl sie nach dem Mauerfall »Gruppen mit so kuriosen Namen wie Die Ich-Funktion, Big Savod, Herbst in Peking, Die Firma, Freygang, Feeling B«. Das waren die Namen der Indie-Rockbands der DDR, die von Punk beeinflusst waren und ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre als »die anderen Bands« auf DT 64 im Radio gespielt und schließlich auch auf Platte veröffentlicht wurden.
Doch der DDR-Untergrund veröffentlichte auf Kassette, aufgenommen in Wohnzimmern und Küchen. Die Kassette war das Medium der Avantgarde- und Experimentalszene unterhalb von Indie-Rock, wobei das Experiment oft darin bestand, überhaupt Musik zu machen, auch wenn man es kaum konnte und sich dafür die Instrumente selbst zusammenbauen musste. Das war derselbe Do-it-yourself-Gedanke wie im Westen, und die Musik hörte sich auch so ähnlich an (prähistorischer Techno, Punk-Jazz, Formen von Krautrock und Dub-Reggae), nur gab es sie ausschließlich auf Kassette, da sonst keine andere Öffentlichkeit möglich war – von diskreten Minikonzerten abgesehen. Im Rückblick nennt man das den »Magnetbanduntergrund«.
Den Begriff prägten Alexander Pehlemann und Ronald Galenza; es war der Untertitel des von ihnen 2006 herausgegebenen Sammelbandes »Spannung Leistung Widerstand« über diese Szene, die viel größer, schillernder und wahnsinniger war, als »Tip« 1990 angenommen hatte. Er erschien mit zwei beiliegenden CDs als Sonderausgabe von Pehlemanns »Zonic«-Magazin und ist seit Langem vergriffen.
Mehr als anderthalb Jahrzehnte später haben Pehlemann und Galenza zusammen mit Robert Mießner einen neuen Sammelband zum Thema vorgelegt: »Magnetizdat DDR«, mehr als doppelt so dick wie das Vorläuferbuch und auch systematischer angelegt. Wurde in den Beiträgen von »Spannung Leistung Widerstand« teilweise auf die Kraft des egozentrisch überhöhten Kneipengesprächs vertraut, so gibt es hier aufgeklärte Essayistik und Geschichtswissenschaft zur Vertiefung und Erweiterung der Diskussion, nun auch ein Kapitel zur unabhängigen Filmproduktion (auf Super-8) und ein ausführliches zu den »Female Voices der DDR-Subkultur« (mit Beiträgen von Yana Milev, Gabriele Stötzer, Uta Hünniger, Cornelia Schleime und anderen).
Der Titel leitet sich ab von den sowjetischen Begriffen »Samizdat« (das, was im Selbstverlag erscheint) und »Tamizdat« (das, was über Umwege im Ausland erscheint). Vervielfältigung und Vertrieb von Kassetten waren ebenso wie die Herstellung von Druckerzeugnissen offiziell genehmigungspflichtig; wer es einfach so tat, handelte schon illegal. Der Magnetbanduntergrund war eine Form der selbst gemachten Gegenöffentlichkeit, Ausdruck von Selbstermächtigung im Realsozialismus. Ende der 80er gab es dann mehrere kleine, konspirativ agierende Kassetten-Labels wie Kröten Kassetten (Berlin), klangFarBe (Karl-Marx-Stadt) oder Trash Tape Rekords (Rostock).
Die Texte in diesem Buch sind Expeditionen in aufregende Miniaturwelten, denn »die Geschichte dieses seltsamen, komischen, traurigen Landes ist längst noch nicht auserzählt«, wie Ronald Galenza schreibt. Miniaturwelt ist nicht despektierlich gemeint. In der Politik- und Kunstgeschichte sind es oft kleine Gruppen und Szenen, die wichtige Dinge entwickeln. So gingen zum Beispiel Anfang der 50er Jahre in Paris jugendliche und künstlerische Außenseiter in die Kneipe »Chez Moineau«, darunter auch die Lettristen, von denen sich dann die politisch bedeutsameren Situationisten um Guy Debord abspalteten. In seinem Standardwerk über diese Szene, »Phantom Avantgarde«, schreibt Roberto Ohrt über das »Moineau«: »Dort lernten sie sich kennen, sich und ihren Unterschied lieben, dort zogen sie sich zurück und von dort brachen sie zu vielen ihrer katastrophalen Unternehmungen auf.«
Paris war es auch, wo die einzig große Werkschau des DDR-Untergrunds stattfand: Das Festival »L’autre Allemagne hors les murs« (Das andere Deutschland außerhalb der Mauern) präsentierte im Januar 1990 im alten Schlachthof von Paris über 200 ostdeutsche Maler, Musiker, Modemacher, Filmer, Performer und Literaten, organisiert vom Kunstwissenschaftler Christoph Tannert und dem französischen Journalisten Maurice Najman, finanziert von Jack Lang, dem Kulturminister der damaligen sozialistischen Regierung Frankreichs.
Anders als im Westen setzte der Ost-Untergrund untereinander nicht auf Distinktion durch Abgrenzung der subkulturellen Szenen, sondern auf Kooperation und Begegnung. »Man kannte sich und arbeitete genreübergreifend zusammen«, schreibt Ronald Galenza über das Ostberlin der 80er. »Maler, Filmleute, Musiker, Poeten, Puppenspieler und Hallodris machten nun Kunst, Krach und Unfug. So überschnitten sich einige Teile der Prenzlauer-Berg-Literatur-Szene mit unangepassten Bands.«
Es gab viele »Bündnisse Geistesverwandter«, erinnert sich Christoph Tannert: »Der Zorn auf das Versagen der Regierung und schwelende Wut trieben uns zusammen.« Die Malerin und Sängerin Cornelia Schleime, die in Dresden die Band Zwitschermaschine mitgründete, sagt in einem Interview: »Es ging um die Aura, darum, Aggression zu transportieren.« Für den Galeristen und Schriftsteller Henryk Gericke wollten »die Schmerzensmänner und Klageweiber einer letzten Teenagergeneration nicht aufrecht, sondern in Schönheit sterben«.
Gemeinsam mit Michael Boehlke hatte Gericke 2005 für die gleichnamige Ausstellung das Buch »Ostpunk – too much future« herausgegeben. Zu viel Zukunft, die Daueranrufung dessen, was noch kommen sollte, was noch aufzubauen sei, machte mürbe und die lähmende Gegenwart eher schlechter als besser. Davon berichtet auch Grit Lemke in ihrem Bestseller »Kinder von Hoy« – über die ständigen Vertröstungen in der sozialistischen Musterstadt Hoyerswerda, die niemals fertig wurde.
Doch »›Skeptizismus‹ galt als ›konterrevolutionär‹«, betont Christoph Tannert, denn die Kinder der DDR galten als die »Hausherren von morgen«. Wenn die sich aber langweilten, weil sie den Eindruck hatten, dass nichts voranging, entstand für Henryk Gericke eine »Friedhofsatmosphäre«: »Im Osten ging die Sonne immer auch weltanschaulich auf, und ebendeshalb war die DDR im Kern dunkel.« Er interessierte sich für klassische Schauerromane und Dark-Wave-Bands wie Joy Division und Bauhaus aus England oder Die Art aus Sachsen, auch so eine »andere Band«, die zuerst Die Zucht hieß, ein Name, den der Staat aber nicht erlaubte. »Gestern hab ich in der Zeitung gelesen, dass es mit gut geht« sang der Schwarze Kanal 1979/80, eine Persiflage auf »Wir singen heute schon die Lieder von morgen«, einen optimistischen Aufbausong der DDR-Singebewegung. Und Rosa Extra spielten 1983 »Mit’m Bock auf nichts«.
Mit diesen beiden Songs beginnt die Platte zum Buch, eine Compilation als Dreifach-Vinyl-Album, das man extra kaufen muss und das unbedingt auch tun sollte, denn es ist sehr gut. Mehr als 40 Tracks zeigen hier, was alles ging im »40-jährigen Transitraum, immer wartend auf eine bessere Zukunft« (Galenza): Es gibt tollen Post-Punk-Reggae von Ornament und Verbrechen, freien Dada-Pop von Der Expander des Fortschritts, psychedelischen Rockabilly von der Karl-Marx-Stadt Studio Big Band 1989 oder spielerischen Electro von Robert Sakrowski, aufgenommen mit einem Korg-Synthesizer, den seine Oma vom Westbesuch mitgebracht hatte.
Viele Lieder sind sehr witzig, denn Ironie war oft auch eine Waffe. Die Arroganten Sorben singen sorbisch ohne Sorben zu sein, das Freie Orchester betrommelt im Lied »Raumkrank« die Winzigkeit seines Proberaums, Die Gehirne besingen den Rauch einer Zigarette, Heinz & Franz »Kochkäse« und Aufruhr zur Liebe die »Sowjetfrau Für Dich« – eine Kombination der Titel zweier Frauenzeitschriften. Letzterer Einfall stammt vom Dichter Bert Papenfuß, der auf diesem Sampler auch selbst vertreten ist, indem er zur wallenden Musik von Bernd Jestram und Ronald Lippok einen Text deklamiert, damals sein gängiger Vortragsstil.
Die Dichter Matthias BAADER Holst und Peter Wawerzinek verfuhren ebenso, während Stefan Döring ohne Musik auskommt, wenn er sein Gedicht »East Days in lost Berlin« vorträgt – das wäre auch ein guter Titel für das ganze »Magnetizdat«-Projekt gewesen. Gäbe es noch Musikzeitschriften, wäre dieses Dreifachalbum, versehen mit einem von Robert Mießner sehr informativ gestalteten zweisprachigen Booklet, auf jeden Fall eine »Platte des Monats«, ich schwöre. Über alle Künstler*innen ist im Buch zu lesen – das ist wichtige Grundlagenforschung über die »Sonderzone DDR«, wie die drei Autoren in den Liner Notes das Dreifachalbums den untergegangen Staat nennen.
»Fest steht: Die DDR ist jetzt kein abgeschottetes Experimentierfeld mehr, sondern ein Markt – und das wird seine Auswirkungen auch auf die Musikszene haben«, konstatierte 1990 Brigitte Herdlitschke im »Tip« und beendete ihren Artikel mit der Parole: »Die DDR-Musik ist tot, lang lebe die DDR-Musik!«
Alexander Pehlemann/Ronald Galenza/Robert Mießner (Hg.): Magnetizdat DDR. Magnetbanduntergrund Ost 1979–1990. Verbrecher-Verlag, 462 S., br., 29 €.
V. A.: »Magnetizdat DDR« (Iron Curtain Radio/Major Label/Broken Silence)
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.