DOK Leipzig: Doku als Therapie

Bei der 66. Ausgabe des Dokumentarfilmfestivals DOK Leipzig wurden geniale Porträts von Menschen in allen Lebenslagen gezeigt

Ausschnitt aus der französisch-palästinensischen Dokumentation »Bye Bye Tiberias«
Ausschnitt aus der französisch-palästinensischen Dokumentation »Bye Bye Tiberias«

Einer der ersten Eindrücke, den die Stadt Leipzig während des Internationalen Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm in einem weckt, ist ein Gefühl von Unkompliziertheit. Vieles ist zu Fuß erreichbar, die Kinotickets sind nicht so teuer und man kommt einfach an die Karten. Das Ticketing-System ist vernünftig und fair, vergleicht man es mit manchem internationalen Festival und damit, was für bizarre Hürden man für die Buchung eines Tickets überwinden muss. Es gibt außerdem genug kostenfreie Veranstaltungen für die Menschen in der ganzen Stadt, auch ein zusätzliches Online-Angebot an Filmen für diejenigen, die aus diversen Gründen nicht ins Kino gehen können oder wollen oder einfach kein Ticket bekommen haben, weil die Veranstaltung ausverkauft war. Die Kinos sind relativ klein, aber das Interesse am Festival ist groß. Und das Publikum auffallend jung.

Kurios nur, dass ein normales Essen in einem nicht luxuriösen Restaurant in der Leipziger Innenstadt (kein Imbiss und kein Fastfood) teurer ist als ein solches Essen in einem ähnlichen Restaurant im Zentrum von Cannes!

Und das Programm? Dieses Jahr wurden insgesamt 225 Arbeiten aus rund 60 Ländern vom 8. bis zum 15. Oktober präsentiert. Bei den zwei Hauptwettbewerben (Deutscher und Internationaler Dokumentarfilm) sowie beim Publikumswettbewerb gab es bemerkenswerterweise viele familiäre oder persönliche Geschichten. Etliches wurde sehr simpel erzählt oder produziert, was an sich nicht schlecht ist. Bei einigen Dokus hatte man das Gefühl, dass der Prozess des Filmemachens eher eine therapeutische Reise war, was auch nicht negativ klingen soll.

Was aber bei manchen Werken ziemlich störte, war der unnötige Versuch, bei jedem Thema unbedingt poetisch wirken zu wollen. Eine Verpoetisierung des Dokumentarfilms konnte man zumindest bei vielen ausgewählten Arbeiten des diesjährigen Programms beobachten.

Besonders viele Kurzfilme konnten leider nicht überzeugen. Nicht jeder Long Take ist zwingend künstlerisch oder philosophisch, sondern einfach nur langweilig. Und nicht alle bewegten Bilder ohne Plot sind irgendwie avantgardistisch, sondern nur Nonsens. Manchmal hatten die Filme eigentlich gute Ideen oder interessante Geschichten, aber keine passenden Bilder dafür. Die Lücken wurden dann häufig durch symbolische Szenen oder Landschaft ersetzt („Schauhaus“ von Anna Lauenstein und Max Hilsamer – Deutscher Wettbewerb Dokumentarfilm oder »Heaven and Home« von Daniil Lebedev – Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm). Manchmal gab es bloß Landschaftsbilder und nichts anderes („Gudow Nord“ von Sophia Schachtner – Deutscher Wettbewerb Dokumentarfilm). Manche Dokus wirkten eher wie eine Uni-Abschluss-Präsentation. Oft war nicht klar, warum gerade das Medium Dokumentarfilm für dieses oder jenes Projekt gewählt wurde; man fragte sich, ob da ein Vortrag oder eine Foto-Reihe nicht besser funktioniert hätte?

Eine Ausnahme war die 22-minütige deutsch-österreichische Doku „getty abortions“ von Franzis Kabisch, die sich humorvoll mit der Darstellung der Abtreibung in den deutschen und österreichischen Medien beschäftigt und die Narrative, die durch diese Bilderpolitik reproduziert werden, analysiert. Ein kreativer „Desktopfilm“, dessen Form klugerweise zu dem Inhalt des Werkes passt. Die Doku hat übrigens den Preis der Goldenen Taube im Bereich Deutscher Kurzfilm gewonnen.

Ein sehr gelungenes Werk aus der Sektion »Internationaler Dokumentarfilm« war »Suzanne from Day to Day« von den französischen Regisseuren Stéphane Manchematin und Serge Steyer, der seine Weltpremiere in Leipzig feierte. Mehr als ein Jahr haben die beiden Filmemacher die in den Vogesen lebende 91-jährige Suzanne in ihrem Alltag begleitet. Die stets kichernde Selbstversorgerin lebt dort in einem Haus ohne Wasser- oder Stromanschluss, wo auch ihre Großeltern einst wohnten. Das Haus wurde mehr oder weniger im selben Zustand erhalten. Ohne sich mit Suzannes Biografie zu beschäftigen oder ihren Lebensstil zu kommentieren, werden einige Fragmente ihres Lebens gezeigt, die tief mit der Natur verbunden sind. Das ist ein schönes Beispiel für eine Doku, in der die Landschaft tatsächlich eine Rolle spielt und nicht bloß als Bildmaterial da ist, damit ein Vortrag oder ein Gedicht aufs laufende Bild vorgelesen werden kann.

Professionellere, besser recherchierte und verhältnismäßig aufwendiger produzierte Dokumentarfilme gab es vor allem in der Sektion »Publikumswettbewerb«. In dieser Sparte wurden Titel präsentiert, die, im Gegensatz zu den Filmen des Deutschen Wettbewerbs, die alle in Leipzig uraufgeführt wurden, eher ihre Weltpremiere auf anderen Festivals wie Cannes, Venedig, Sundance oder Toronto hatten und in Leipzig nun ihre deutsche Premiere feierten.

Fast jedes Werk von den acht ausgewählten Filmen dieser Kategorie war auf seine eigene Art genial: von der polnischen Doku »Vika!« von Agnieszka Zwiefka über eine 84-jährige Frau, die in Warschau als DJ arbeitet bis zu »The Mother of All Lies« der marokkanischen Regisseurin Asmae El Moudir, die anhand von Puppen über ein Massaker in einem Stadtviertel von Casablanca, wo sie aufwuchs, und gleichzeitig über ihre eigene Familie reflektiert.

Besonders stark war die französisch-palästinensische Dokumentation »Bye Bye Tiberias« von Lina Soualem, die von ihrer Mutter, der in Frankreich lebenden und bekannten palästinensischen Schauspielerin Hiam Abbass, und deren Familie handelt. Abbass kehrt in ihr Heimatdorf Deir Hanna zurück, das sie vor 30 Jahren als junge Frau verlassen hatte, um ihre Träume als Schauspielerin zu verwirklichen. Es ist eine persönliche Frauengeschichte, die gleichzeitig als Geschichte eines Ortes dient. Zwischen allen Familienfotos und -videos, Erinnerungen und Erzählungen wird leise Abschied genommen von Orten und Menschen, die es nicht mehr gibt.

Die Gewinner*innen


Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm:
Goldene Taube Langfilm:
»While the Green Grass Grows« von Peter Mettler (Schweiz, Kanada)
Silberne Taube Langfilm:
»Beauty and the Lawyer« von Hovhannes Ishkhanyan (Armenien, Frankreich)
Goldene Taube Kurzfilm:
»An Asian Ghost Story« von Bo Wang (Niederlande, Hongkong)
Silberne Taube Kurzfilm:
»30 Kilometres per Second« von Jani Peltonen (Finnland)

Deutscher Wettbewerb Dokumentarfilm:
Goldene Taube Langfilm:
»Einhundertvier« von Jonathan Schörnig (Deutschland)
Goldene Taube Kurzfilm:
»getty abortions« von Franzis Kabisch (Deutschland, Österreich)

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