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Im Feindesland

Ihre letzte Konferenz widmete die Linksfraktion im Bundestag dem Auschwitz-Prozess vor 60 Jahren

Karl Höcker, ehemaliger SS-Obersturmführer, und Bruno Schlage, Aufseher in Auschwitz, vor dem Prozess: Gesicht zeigen war ihre Sache nicht.
Karl Höcker, ehemaliger SS-Obersturmführer, und Bruno Schlage, Aufseher in Auschwitz, vor dem Prozess: Gesicht zeigen war ihre Sache nicht.

Wehmut schwang mit, die Enttäuschung war ihnen anzumerken: Petra Pau und Jan Korte. Die Linksfraktion im Bundestag hatte am vergangenen Freitag zu einer Konferenz in Erinnerung an den 1963 in Frankfurt am Main eröffneten Auschwitz-Prozess ins Berliner Paul-Löbe-Haus geladen. Mit Bedauern teilten die beiden Abgeordneten der Linkspartei den versammelten Wissenschaftlern, Vertretern von KZ-Gedenkstätten, des Jüdischen Museums, Moses-Mendelssohn-Zentrums und Bundesarchivs sowie zivilgesellschaftlicher Zusammenschlüsse wie der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) mit, dass dies die letzte Konferenz der Linksfraktion sei. Da jene nunmehr Geschichte ist. Korte versicherte jedoch, dass sich die Partei weiterhin historischer Themen annehmen werde. Was in einer wieder zunehmend geschichtsvergessenen Zeit dringend notwendig ist.

Schade, dass auf dieser Konferenz nicht der Mann explizit vorgestellt wurde, der den Frankfurter Auschwitzprozess gegen den Widerstand der eigenen Zunft und Anfeindungen aus der Mehrheitsgesellschaft durchgesetzt hatte: der hessischer Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Seine Vita hätte Auskunft gegeben über seine Motivation. Der in einem liberal-jüdischen Elternhaus als Sohn eines Textilunternehmers Geborene hatte in Heidelberg, München und Tübingen Jura studiert, war jüngster Amtsrichter in der Weimarer Republik und wurde bereits im März 1933 für einige Monate verhaftet. 1936 emigrierte er nach Dänemark und lebte nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Untergrund. Als 1943 die Deportation der dänischen Juden nach Theresienstadt begann, konnte er im Zuge einer einzigartigen Rettungsaktion dänischer Juden nach Schweden entkommen, wo er mit Willy Brandt die Zeitschrift »Sozialistische Tribüne« gründete. 1949 kehrte er nach Deutschland zurück. 1952 war er Ankläger im sogenannten Prozess gegen Otto Ernst Remer, ehemaliger Kommandeur des Berliner Wachbataillons, der de facto den Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 vereitelt hatte. Bauer prägte damals den Grundsatz: »Ein Unrechtsstaat, der täglich Zehntausende Morde begeht, berechtigt jedermann zur Notwehr.« Infolge dessen wandelte sich allmählich die Haltung zu den bis dato in der Bundesrepublik als »Landesverräter« diffamierten Hitlergegnern aus konservativen, militärischen und aristokratischen Kreisen. Jene aus anderen sozialen und politischen Lagern mussten auf Anerkennung noch ein paar Jahrzehnte warten.

In der »Strafsache gegen Mulka u.a.«, wie der Auschwitz-Prozess offiziell hieß, saßen außer dem SS-Hauptsturmführer und Adjutanten des Lagerkommandanten Rudolf Höß, der 1947 in Polen zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war, 21 weitere Täter auf der Anklagebank. Auch wenn der Prozess mit geringen Haftstrafen endete, markierte er eine Zäsur in der juristischen und geschichtspolitischen Aufarbeitung der Naziverbrechen in der Bundesrepublik. Bauer starb drei Jahre später, sein Tod gilt gerichtsnotorisch als Suizid. Zweifel bleiben. Als Jude und Homosexueller war er nicht nur in der NS-Zeit gefährdet, sondern auch in der Bundesrepublik, zumal er die Verbrechen der Vergangenheit ans Licht brachte. Überliefert ist von Bauer das fast resignativ klingende Wort: »Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich feindliches Ausland.«

Größere Aufmerksamkeit als Bauer erfuhr auf der Konferenz der Linksfraktion ein Nebenkläger im Frankfurter Auschwitz-Prozess: Friedrich Karl Kaul, übrigens auch Sohn eines jüdischen Texilunternehmers, der im Februar 1933 aus »rassischen Gründen« sein Referendariat beenden musste, im KZ Lichtenburg und in Dachau inhaftiert war, ehe ihm die Ausreise nach Lateinamerika gelang, von wo aus er in die USA abgeschoben worden ist. Katharina Rauschenberger vom Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt am Main sprach von einigen Unklarheiten in dessen Biografie. Seine Verteidigung von westdeutschen Kommunisten, die vom KPD-Verbot 1956 betroffen waren, verschaffte ihm »nach anfänglichem Misstrauen Ansehen bei der Parteiführung«, welche ihn aber dennoch lange warten ließ, bevor er nach Israel fliegen durfte, um als Beobachter am Eichmann-Prozess teilnehmen zu können. Erhofft hatte sich Kaul allerdings, als Nebenkläger auftreten zu können. In Jerusalem sei er sehr umtriebig gewesen, so Katharina Rauschenberger, um Öffentlichkeit für die DDR zu gewinnen und Personen des öffentlichen Lebens in der Bundesrepublik zu entlarven wie etwa Hans Globke, Kommentator der Nürnberger Rassegesetze und »graue Eminenz« in der Regierung von Konrad Adenauer.

Auch der Segen »von oben«, nach Frankfurt am Main fahren zu können, ereilte Kaul erst vier Wochen vor Beginn des Auschwitz-Prozesses. Enttäuschend für den ehrgeizigen Juristen war, dass die Verantwortung der I.G. Farben für die industrielle Tötung von Hunderttausenden Juden in den Gaskammern, die Verquickung ideologischer, politischer und wirtschaftlicher Mordinteressen nicht in den Fokus geriet. Ebenso, dass die Schuld der Angeklagten gemäß dem normalen Mordparagrafen des bürgerlichen Strafgesetzbuches geprüft wurde und die Verteidigung sich auf Befehlsnotstand berufen konnte.

Rauschenberger würdigte Kauls durchaus eigenmächtiges Agieren wider Vorgaben des Politbüros, merkte aber auch an, er habe nicht davor zurückgeschreckt, Dokumente zu fälschen, wenn es ihm nützte. Seine Intention, der politischen Klasse in der DDR anzugehören, habe sich aus den erniedrigenden Erfahrungen in der NS-Zeit gespeist. Was in der anschließenden Diskussion von Ralph Dobrowa, selbst Jurist, der Kaul noch persönlich kannte, bestätigt wurde: Kaul sei mehrfach von SA-Männern verprügelt und als »jüdisches Kommunistenschwein« beschimpft worden. Seine Bestrebung, NS-Täter wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verurteilen, sei erst mit dem Münchener Prozess ab 2009 gegen John Demjanjuk, ukrainischer Freiwilliger (Trawnik) in Sobibor, in Erfüllung gegangen.

Im Gegensatz zu dem DDR-Staranwalt dürfte kaum jemand hierzulande Jan Sehn kennen, »die treibende Kraft bei der juristischen Ahndung deutscher Verbrechen in Polen«, wie Filip Ganczak vom Institut für Nationales Gedenken in Warschau berichtete. Der 1909 in einer katholischen Familie geborene Jurist gehörte der bereits im März 1945 in Krakau gegründeten Auschwitz-Kommission an, die Dokumente und Zeugenaussagen sammelte. Er hatte Rudolf Höß wie auch Amon Göth, einen österreichischen SS-Mann, der an der Liquidierung des Krakauer Ghettos beteiligt war (und auch in Steven Spielbergs »Schindlers Liste« auftauchte), mehrfach verhört. Nur wenigen, historisch Interessierten dürfte bekannt sein, dass der erste Auschwitzprozess mit 40 Angeklagten im November/Dezember 1947 in Krakau stattfand. 1960 traf Sehn erstmals Bauer. Auf unkonventionelle Weise trug Sehn belastendes Material zusammen, suchte Zeugen auf und vermittelte eine Ortsbesichtigung des Gerichts am Tatort Auschwitz.

Eine besondere Tragik wohnt seinem Tod inne: Er starb 1965 in einem Hotel in Frankfurt am Main im Alter von nur 56 Jahren an Herzversagen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, so Ganczak auf nd-Nachfrage, dass die Anfeindungen der westdeutschen Öffentlichkeit gegen ihn zur Zeit des Prozesses seinen Tod beschleunigten. Man fand im Hotelzimmer eine Ausgabe der »Deutschen Soldatenzeitung« mit einem Hetzartikel gegen den tapferen polnischen Anwalt. Ganczaks Biografie »Jan Sehn und die Ahndung der Verbrechen von Auschwitz« ist jüngst auf Deutsch im Wallstein-Verlag erschienen.

Verhängnisvolle Kontinuitäten vom Kaiserreich über die Weimarer Republik in die NS-Zeit zeichnete Michael Wildt von der Humboldt-Universität nach. Beamtenschaft und Ministerialbürokratie waren auf einen »starken Staat« fixiert, antisemitisch und antimarxistisch eingestellt. Daran konnten die Nazis anknüpfen. Wildt verwies auf das »Ermächtigungsgesetz« vom 24. März 1933 als zentrales Element für den Übergang zur Diktatur, dem auch der spätere Bundespräsident Theodor Heuss zugestimmt hatte, weil er wie viele andere dem Wahn der Abwehr eines kommunistischen Aufstandes unterlag und dem Irrtum aufsaß, es handele sich nur um einen temporären Ausnahmezustand. Angst und Opportunismus spielten eine große Rolle, aber auch die Aussicht auf neue Chancen mit der Entlassung von Juden und politischen Gegnern aus allen öffentlichen Ämtern. »Es gab schon früh eine Komplizenschaft«, so Wildt.

Es habe anfangs zwar durchaus noch Anwälte gegeben, die etwa die Morde in Dachau aufklären wollten, die SS sei jedoch vom bayerischen Justizminister Hans Frank gedeckt worden, der schlichtweg Akten verschwinden ließ. Während die Massenmorde an den Juden im Krieg und fern der Heimat stattfanden, erfolgten die Deportationen der deutschen Juden in die Ghettos und Vernichtungslagern im besetzten Osten vor aller Augen. Zunehmend berichteten auch Wehrmachtsangehörige in ihren Briefen an ihre Familien von Verbrechen in den besetzten Gebieten. »Es spricht für das schlechte Gewissen der Deutschen, dass die Bombardements deutscher Städte dann als Rache der Juden interpretiert wurden«, sagte Wildt.

Wie sich die Rehabilitierung der Attentäter vom 20. Juli dem Remer-Prozess verdankt, so ist auch die Gründung der Zentralen Stelle Ludwigsburg zur Aufklärung von NS-Verbrechen auf einen Prozess zurückzuführen – den Ulmer Einsatzgruppenprozess, der 1958 gegen Angehörige der Gestapo, des SD (Sicherheitsdienst) und Ordnungspolizei wegen der Ermordung von über 5000 jüdischen Kindern, Frauen und Männern 1941 in Litauen stattfand.

Thomas Will, Leiter der Zentralstelle seit 2020, gab einen kurzen Aufriss von den ersten alliierten Sondergerichten nach dem Krieg, ab 1955 auch der bundesdeutschen Justiz, um sodann die Problematik des Nachweises individueller Schuld zu diskutieren, also »ob der Täter die Tat selbst wollte oder auf Befehl handelte«. Der Staatsanwalt informierte über die Einengung in der Rechtssprechung ob eben des Sakrilegs der »subjektiven Theorie«, die bundesdeutschen Gerichten allzu oft Ausweichmanöver gestattete. Auch hätten sie sich lange Zeit nicht für »im Ausland«, also in den deutsch-faschistisch okkupierten Gebieten, begangene Verbrechen zuständig gefühlt. Er beklagte, dass es den Mitarbeitern seiner Zentralstelle nicht gestattet ist, die von ihnen erarbeiteten Expertisen in den von ihnen angeregten Verfahren zu begründen.

Will bestätigte, dass der Demjanjuk-Prozess die Wende brachte. Nun habe man auch Angehörige des Wachpersonals wie Oskar Gröning, SS-Mann in Auschwitz, oder eine Stenotypistin wie Irmgard F., im KZ Stutthof tätig, anklagen können, ohne ihnen eine eigenhändige Tötung von Menschen nachweisen zu müssen. Gröning starb indes 2018 im Alter von 96 Jahren, ohne die Strafe für Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen angetreten zu haben, die Sekretärin, ebenfalls 96, erhielt nach »Jugendstrafrecht« zwei Jahre Bewährung für Beihilfe zum Mord in über 11 000 Fällen. Höchst unbefriedigend. Ebenso das Verfahren im vergangenen Jahr gegen den 101-jährigen früheren SS-Angehörigen Josef S., Wachmann im KZ Sachsenhausen.

Warum auch heute Verfahren und Urteile gegen hochbetagte NS-Verbrecher wichtig sind, begründete Will nicht nur mit dem in den 60er Jahren nach heftigen kontroversen Debatten vom Bundestag beschlossenen Leitsatz »Mord verjährt nicht«, sondern auch damit, dass die Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Für die Opfer und deren Angehörigen sei oft weniger das Strafmaß wichtig als vielmehr, dass die Taten als Unrecht gebrandmarkt werden, bemerkte der Jurist. Was Andre Goldstein, Sohn des Auschwitz-Überlebenden Kurt Julius Goldstein, bekräftigte: »Es ging ihnen um die Anerkennung der Schuld vor deutschen Gerichten, nicht so sehr um rechtliche Wiedergutmachung. Das war für die Opfer ein Lebenselixier.«

Will weiß, dass das Ende der Ermittlungstätigkeit seiner Behörde aus rein biologischen Gründen ansteht: »Sind die Täter verstorben, gibt es keine Anklage mehr.« Aber er hofft, dass die im Laufe der Jahrzehnte angehäuften Unterlagen, die »von gesamtstaatlicher historischer Bedeutung sind«, erhalten werden. Und wünscht sich dafür Unterstützung aus Berlin. Was Petra Pau für die Linkspartei versprach. Fragt sich nur, inwieweit es dieser noch möglich sein wird. Die langjährige Abgeordnete ließ wissen, dass der in zwei Wochen zur Verabschiedung anstehende Bundeshaushalt für 2024 Kürzungen in politischer Bildung vorsehe. Zu absoluter Unzeit.

Hat Fritz Bauer gegen das Verdrängen gekämpft, ist heute gegen Verharmlosungen anzugehen. Anna Corsten von der Friedrich-Schiller-Universität Jena zitierte zu Beginn ihres Referats Gerhard Ritter, einen namhaften bundesdeutschen Geschichtsprofessor: »Wir deutschen Historiker haben die Pflicht, die deutsche Geschichte gegen verletzende Äußerungen zu schützen.« Sodann erinnerte sie an den Historikerstreit 1986 in der Bundesrepublik zur Singularität des Holocaust, um letztlich den »Neuen Historikerstreit« zu problematisieren, für den unter anderem der Australier Dirk Moses steht: »Die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch ist für viele das moralische Fundament der Bundesrepublik … Es ist an der Zeit, diesen Katechismus aufzugeben.«

Zum Anschluss gab es noch eine Filmvorführung. »Impressionen einer Hauptverhandlung« titelte Kaul seine bereits 1964 für das DDR-Fernsehen erstellte Mini-Serie zum Frankfurter Auschwitzprozess. Filmhistoriker Detlef Kannapin adelte diese als »einen Glücksfall deutscher Fernsehgeschichte«. Sie sei das Vorbild für das dokumentarische Theaterstück von Peter Weiss »Die Ermittlung« von 1965 gewesen. In Kauls fiktiv-authentischer Erzählung (in der er sich selbst hineinschrieb, gespielt von Hannjo Hasse) tritt auch der US-Dramatiker Arthur Miller auf, der sich fragt, ob der Typ von Bewegung, der Männer hervorbrachte, wie die im Auschwitz-Prozess auf der Anklagebank sitzenden, je wieder in Deutschland entstehen könnte. Tja ...

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