Blockiert wegen einer Lüge

Seenotretter klagen gegen Strafen in Italien

46 Menschen kann die Crew der »Humanity 1« bei ihrem zweiten Einsatz am 30. November an Bord nehmen. Sie waren aus Furcht vor einem Pullback nach Libyen über Bord eines Küstenwachschiffs gesprungen.
46 Menschen kann die Crew der »Humanity 1« bei ihrem zweiten Einsatz am 30. November an Bord nehmen. Sie waren aus Furcht vor einem Pullback nach Libyen über Bord eines Küstenwachschiffs gesprungen.

Seit dem 3. Dezember 2023 ist die unter deutscher Flagge fahrende »Humanity 1« in der Kleinstadt Crotone in Süditalien festgesetzt. Die Besatzung soll gegen ein Anfang des Jahres vom Innenminister Matteo Piantedosi erlassenes Dekret verstoßen haben, wonach ein Rettungsschiff nach einem einzigen Einsatz sofort einen zugewiesenen Hafen ansteuern muss. Nun wehrt sich der Verein SOS Humanity, der das Schiff betreibt, mit einer Klage vor dem Zivilgericht in Crotone. Die Aktivisten wollen erreichen, dass die dreiwöchige Blockade durch die Hafenpolizei und eine Geldstrafe über 3333 Euro zurückgenommen werden.

Die »Humanity« ist nicht das erste deutsche Schiff, das von einer solchen Festsetzung und einer Geldstrafe betroffen ist. Auch der Regensburger Verein Sea-Eye sowie der in Berlin ansässige Verein Sea Watch klagen deshalb wegen jeweils drei Fällen vor italienischen Gerichten.

Der Fall der »Humanity« ist jedoch besonders. Denn die Behörden werfen dem Kapitän vor, Anweisungen der libyschen Küstenwache in internationalen Gewässern nicht befolgt zu haben. Dadurch seien Menschenleben gefährdet worden. Das sei jedoch falsch, sagt der Verein, und belegt dies mit einer minutiösen Dokumention des in Rede stehenden Einsatzes. Die behauptete Anweisung hat es demnach nicht gegeben. Aus Videos und aufgezeichneten Funksprüchen geht stattdessen hervor, dass die libysche Küstenwache die Menschen in Seenot in Gefahr gebracht hatte. Wäre die »Humanity 1« nicht vor Ort gewesen, wären sie ertrunken.

Die Vorwürfe der italienischen Behörden beziehen sich auf den 30. November. An dem Tag nahm die Crew zunächst 90 Menschen aus einem Holzboot an Bord. Von dem zivilen Überwachungsflugzeug »Seabird« erhielt der Kapitän währenddessen Informationen zu einem anderen Seenotfall und nimmt Kurs auf den angegebenen Standort. Eine Koordination mit der eigentlich zuständigen libyschen Leitstelle war nicht möglich, da die dort erreichte Person nur arabisch sprach – was gegen internationale Standards verstößt, auf die sich die Vereinten Nationen geeinigt haben.

Auf dem Weg zu dem zweiten Notfall erfuhr die Besatzung der »Humanity 1«, dass die libysche Küstenwache bereits mit ihrem Patrouillenboot »Zawiya« vor Ort ist und die Menschen nach Libyen zurückbringen will. Etliche Insassen des Bootes springen deshalb ins Wasser. Die italienischen Behörden behaupten, dies sei anlässlich des Eintreffens der »Humanity 1« erfolgt: Die Geflüchteten hätten versucht, das rettende deutsche Schiff zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt ist es allerdings nachweislich fünf Kilometer entfernt, ein Sichtkontakt deshalb unmöglich.

Jahrelang wurde die libysche Küstenwache von EU-Militärs ausgebildet, angeblich auch zu Standards bei der Seenotrettung. Dagegen verstößt die Besatzung eklatant: Weder wirft sie den Ertrinkenden Westen oder andere Rettungsmittel zu, auch ein Schlauchboot wird nicht ins Wasser gelassen. Deshalb versucht nun die Crew der »Humanity 1«, die im Meer verstreuten und teilweise bereits untergegangenen Menschen an Bord zu holen. Und sieht sich dabei durch eine Anweisung aus Italien im Recht: Die Rettungsleitstelle in Rom sagte dem Kapitän über Funk, er solle alles tun, um das Leben der Menschen zu schützen. 46 von ihnen werden daraufhin gerettet.

Auf dem Weg zur Ausschiffung in dem aus Italien zugewiesenen Hafen Livorno weit im Norden Italiens sichtet ein Crewmitglied mit dem Fernglas abermals ein überbesetztes Holzboot. Das Schiff führt – diesmal koordiniert von der italienischen Leitstelle – eine dritte Rettung durch und bringt weitere 40 Menschen an Bord. Anschließend erhält es die Anweisung, alle Geflüchteten in Crotone von Bord gehen zu lassen. Doch dem Kapitän wurde ein vierter Notfall gemeldet, diesen erreicht das Schiff am späten Abend und kann weitere 24 Menschen aus Seenot retten.

Die in vier Einsätzen geretteten 200 Menschen gingen schließlich zwei Tage später in Crotone an Land. Dort soll das Schiff laut der Anweisung bis zum 23. Dezember bleiben. Die nun eingereichte Klage wird daran nichts ändern, denn bis zur Verhandlung können Monate vergehen.

Im besten Falle könnten die Gerichte jedoch dafür sorgen, das sogenannte Piantedosi-Dekret wenigstens teilweise auszuhebeln. Denn jeder Tag, den die Rettungsschiffe festgesetzt sind, können sie nicht zu Notfällen auslaufen. Was das bedeutet, hat sich zuletzt am Wochenende gezeigt: Mindestens 61 Menschen sind in der libyschen Such- und Rettungszone ertrunken, weil keine zivilen Organisationen vor Ort waren.

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