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Im Kino »Becoming Giulia«: Grüße vom Beckenboden
In »Becoming Giulia« porträtiert Laura Kaehr die Tänzerin Giulia Tonelli, die nach der Geburt ihres Sohnes zurück auf die Bühne will
Wandelt man das vielleicht berühmteste Zitat Bill Clintons ab, könnte es auch für Mütter und ihren Kampf zurück zum alten Körper gelten: It’s the Beckenboden, stupid! So geht es auch Giulia Tonelli in Laura Kaehrs Dokumentarfilm »Becoming Giulia«. Tonelli ist erste Solotänzerin am Ballett Zürich und vor drei Monaten Mutter geworden. Bei den Sprüngen, sagt sie in einer Szene, merke man das am deutlichsten (Grüße vom Beckenboden).
Nach insgesamt elf Monaten Pause kehrt sie im Frühjahr 2019 zurück auf die Bühne und Kaehr begleitet sie dabei drei Jahre lang. Ihre Kolleg*innen empfangen sie an ihrem ersten Tag bei den Proben zu »Romeo & Julia« mit Applaus, eine hat sogar Tränen in den Augen, selbst der Chefchoreograf – von Choreografen im Ballett hat man üblicherweise das Bild eines feuerspeienden Drachens im Kopf – begrüßt sie mit lieben Worten. An dieser Stelle wird schon deutlich, dass Kaehr einen anderen Ballettfilm machen wollte als einen, der die Klischees bedient, die man üblicherweise parat hat und die sich dank Filmen wie »Black Swan« hartnäckig halten (und an denen sicherlich auch viel Wahres ist).
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Kaehr zeigt eine Protagonistin, die es anders machen will: Die Kälte, die Unbarmherzigkeit, vor allem den Machismus, die vorgefertigten Frauenrollen (meist vor Liebe zergehend, schmachtend, unglücklich) will Tonelli überwinden. Warum? Weil ihre neue Rolle als Mutter sie stärker gemacht habe als je zuvor, sagt sie. Vier Monate nach der Geburt ihres Sohnes Jacopo steht sie in der Hauptrolle von »Romeo & Julia«, eine Inszenierung des Intendanten Christian Spuck, in Zürich wieder auf der Bühne.
Dann folgen harte Schnitte. Man sieht Tonelli im Wohnzimmer Strampler zusammenlegen, die Couch mit einer Fusselbürste bearbeiten, Brei einkochen, der viel zu wässrig geraten ist, worüber sie mit ihrem Partner Bernhard Auchmann diskutiert. Krasser könnten die Gegensätze nicht sein.
Die 1983 geborene Italienerin verbrachte ihre Kindheit in Pisa und wurde an der Balletto di Toscana und an der Ballettakademie der Wiener Staatsoper zur Tänzerin ausgebildet. 2010 kam sie als Solistin ans Ballett Zürich. Im Dezember 2018 kam ihr Sohn zur Welt.
Kaehr, die selbst als Tänzerin ausgebildet wurde, kommt wohl auch deshalb Tonelli sehr nah, fängt ihr schmerzverzerrtes Gesicht ein, wenn sie nach der langen Pause wieder schwierige Figuren und Schritte hinbekommen will. Die Kamera (Felix von Muralt, Stéphane Kuthy) tanzt immer mit der Protagonistin oder zeigt sie sehr verletzlich, wenn sie darüber spricht, was der kleine Jacopo in ihrem Leben verändert hat.
Jacopo ist ein Wunschkind, das wird im Laufe der Doku sehr deutlich. Eine bewusste Entscheidung also, in einer Welt, die familienfeindlicher nicht sein könnte. Und ebenso klar setzt Tonelli auch diesen Kontrapunkt: Prima Ballerina und gleichzeitig Mutter. Es ist machbar.
Kaehr zeigt Tonelli, wie sie diskutiert, sich über Probenpläne beschwert, die nicht für Mütter gemacht sind und auch mal spontan nach vorne oder hinten verschoben werden. Sie zeigt Tonelli, eine Weltklassetänzerin, die Anweisungen von Choreografen nicht versteht (die zugegebenermaßen eher kryptisch sind), die daraus aber auch schlussfolgert, dass die Unverständlichkeit Absicht ist, um die Leine möglichst kurz zu halten. »Sie behandeln uns wie Kinder, damit wir besser zu kontrollieren sind«, sagt sie einmal.
Kaehr zeigt Tonelli aber auch völlig übermüdet bei den Proben und am Küchentisch. Wenn es sehr wichtige Termine gibt, nimmt sie am Abend vorher eine Schlaftablette, um überhaupt Kraft für das Kommende zu haben. Streckenweise hat man als Zuschauer*in Angst, der Film könnte damit enden, dass Tonelli körperlich zusammenbricht und ihre Karriere beenden muss. Kaehr zeigt eine Frau, die in drei Jahren nicht einen einzigen freien Tag hat. Die zwischen dem Allergietest ihres Kindes im Krankenhaus, Durchfallattacken mit permanentem nächtlichem Windelwechseln und wichtigen Proben für eine Premiere hin und her balanciert.
Und am Ende bleibt Tonelli trotz all dieser Anstrengungen die Kraft zu sagen, dass sie Ambitionen habe, die sie sich nicht wegreden lasse von Menschen, die behaupteten, sie habe ihr Ziel ja schon erreicht: Mutterschaft. Sie will neue Frauencharaktere auf die Bühne bringen und man glaubt ihr, dass dieser Reifeprozess nie stattgefunden hätte, wäre sie nicht inzwischen Mutter zweier Kinder. Man merkt, dass hier eine Frau spricht, die sich nicht mehr formen lässt und lassen will, weil sie bei sich selbst angekommen ist.
Zusammen mit der britischen Choreografin Cathy Marston geht Tonelli nichts Geringes als eine Ballettrevolution an. Beide wollen Frauen auf der Bühne zeigen, die keine passiven Kindchen sind, sondern starke Charaktere wie die Ehebrecherin Hester Prynne in Nathaniel Hawthornes »The Scarlett Letter« (»Der scharlachrote Buchstabe«). Zunächst per Videochat, dann auch in persönlichen Gesprächen gehen sie ihren Plan strategisch an, das Stück auf die Bühne zu bekommen, und wollen eine eigene Kompagnie gründen.
Kaehr zeigt an Tonelli exemplarisch, wo das klassische Ballett steht und wo das moderne Ballett hin möchte. Es scheint ein langer Weg zu sein und oft merkt man dem Film an, dass er von einer Enthusiastin gemacht ist, die viel Zeit auf Einstellungen verwendet, die der Stoff- und Figurenentwicklung bei den Proben gewidmet sind. Aber auch das ist stringent zu Ende gedacht, denn Tonelli sagt selbst, dass ihr die Geschichten genauso wichtig seien wie die Ästhetik, die beim Ballett fast unmenschlich perfekt inszeniert ist.
Dass Kaehrs Film eine Entwicklung aufgreift, die unabdingbar ist, will das Ballett uns heute noch berühren, zeigt die Tatsache, dass die Britin Cathy Marston, selbst zweifache Mutter, in der Saison 2023/24 die künstlerische Leitung des Ballett Zürich übernommen hat (was zum Zeitpunkt des Drehs noch nicht bekannt war). Die Revolution kann beginnen.
»Becoming Giulia«: Schweiz 2022. Regie: Laura Kaehr. 103 Minuten, Start: 18. Januar
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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