• Kultur
  • Theater und Erinnerungsarbeit

Spielen, um zu verstehen

Erinnerungsarbeit zwischen Kunst und Wissenschaft: ein Einblick in das Berliner Recherchekollektiv Vajswerk

Work in Progress: die Schwestern Laserstein, gesehen durch das Recherchematerial
Work in Progress: die Schwestern Laserstein, gesehen durch das Recherchematerial

Sie beide sind Teil des Recherchekollektivs Vajswerk in Berlin, das »szenische Realisierungen« zu »gesellschaftsrelevanten Themen« erarbeitet, wie es auf Ihrer Website heißt. Eines Ihrer Projekte handelt von den Schwestern Laserstein, zwei deutsche Jüdinnen, von denen eine nach dem Nationalsozialismus nach Deutschland zurückgekehrt ist, die andere nicht. Können Sie darüber etwas erzählen?

Laura Mitzkus: Es geht um Käte und Lotte Laserstein, die beide den Holocaust überlebt haben. Die Geschichte ist so: Die eine Schwester, die Künstlerin Lotte, ist nach Schweden emigriert, als die Nazis begannen, jüdische Menschen auszugrenzen. Die Mutter der beiden wurde ins KZ Ravensbrück deportiert und ist da auch ermordet worden. Käte Laserstein, die Lehrerin, ist untergetaucht und hat mit Freundinnen in einer Gartenlaube die letzten Kriegsjahre überlebt.

Christian Tietz: Sie wurden als Jüdinnen verfolgt, und bei Käte Laserstein kam noch hinzu, dass sie lesbisch war, also einer zusätzlichen Gefährdung ausgesetzt.

Mitzkus: Wir begleiten diese beiden Frauen jetzt schon seit einigen Jahren, mittlerweile mit dem vierten Projekt »zurück.bleiben«. Im November 2022 hatten wir uns beispielsweise konzentriert auf Kätes Zeit in der Laube. Vorher haben wir uns mit der Beziehung zwischen den beiden Schwestern beschäftigt, weil wir so wahnsinnig viele tolle Briefe von der Käte Laserstein an ihre Schwester vorliegen hatten. Da geht es auch herrlich in den Alltag rein.

Tietz: Für unser Theaterstück »Lasersteins Orte« haben wir dann zwei Schauspielerinnen gesucht, die diese beiden Schwestern darstellen, also die mittlerweile berühmte Malerin Lotte Laserstein und ihre zwei Jahre jüngere Schwester, die Lehrerin Käte Laserstein. In deren ehemaliger Schule hatten wir zuvor ein Projekt mit einem Kunstkurs gemacht, wobei die Schüler*innen wussten, dass die Überlebende an ihrer Schule Lehrerin gewesen war. Wir haben die Geschichte der beiden Schwestern von zwei Gesichtspunkten aus erzählt: Auf der einen Seite der Aula war das Atelier der Lotte Laserstein, auf der anderen Seite die Schultafel und das Redepult, an dem Käte Laserstein damals selbst gesprochen hatte. Authentische Orte eben.

Sie streben als Recherchekollektiv einen »Dialog von Kunst und Wissenschaft« an. Wie genau sieht diese Arbeitsweise aus?

Mitzkus: Wir reisen herum, gehen an die historischen Orte, an die Geburtsorte, oder dahin, wo die Tat, der Mord, was auch immer passiert ist, bei unserem Projekt »Großes Kino DDR« zum Beispiel. Manchmal finden wir vorab Menschen, mit denen wir uns direkt vor Ort unterhalten. Manchmal passiert es auch spontan, dann quatschen wir Leute, Zeitzeug*innen in den Dörfern an und finden interessante Sachen heraus. Und die Historiker*innen setzen sich in die Archive.

Tietz: Manchmal gibt es ja noch überhaupt nichts, und da machen dann wirklich alle mit, auch die Schauspieler*innen – sie führen selbst die Interviews mit den Menschen, die sie später darstellen werden.

Ich kenne solche Situationen von politischen Bildungsreisen, wenn Zeitzeug*innen ihre Geschichte erzählen. Aber die Holocaust-Überlebenden, die ich beispielsweise getroffen habe, erzählen ihre Geschichte natürlich nicht zum ersten Mal, sondern präsentierten ein Narrativ mit einem sehr rigiden, sicher psychologisch notwendigen Rahmen, dessen Grenzen sehr behütet sind. Es ist eine große Verantwortung, wenn jemand da auf Sachen zu sprechen kommt, die nicht vorgesehen waren. Hatten Sie sich darauf vorbereitet?

Tietz: Was man uns wirklich immer zugesteht, ist, dass wir ganz ernsthaft und verantwortungsbewusst an die Sache herangehen. Dass wir nicht nach einer Gelegenheit suchen, uns irgendwie in Szene zu setzen. Sondern dass unser erstes Interesse ein inhaltliches ist, ein Interesse an einer Person, die nicht wir selbst sind. Und dann entsteht durch die »Augenblicklichkeit« des Theatermoments doch so etwas, dass man meint, man sieht die eine Figur durch eine andere Figur hindurch. Es entsteht eine Art Verkörperung. Die ist mal näher dran, mal weiter entfernt von der historischen Person. Beim allerersten Stück, das wir als Vajswerk 2015 gemacht haben, haben zwei Holocaust-Überlebende mit zwei Jugendlichen Theater gespielt. Da haben die Jugendlichen von heute die Jugendlichen von damals verkörpert.

Was war denn Ihre Intention bei dieser Inszenierung?

Tietz: Es geht natürlich um Wissensvermittlung, darum, zu verstehen, was damals war – wir erzählen Geschichten, die noch nicht erzählt worden sind. Aber dann geht es uns noch um eine in besonderer Weise emotionale Vermittlung. Das passiert einerseits automatisch, wie es im Theater so ist: Wir haben einen Menschen vor uns, der etwas vorspielt, etwas erzählt, uns vor Augen tritt. Aber in unserem Stück »Das Spiel von Dina und Jovan« passierte das auch dadurch, dass die Überlebenden tatsächlich mit uns auf der Bühne standen. Grundsätzlich gibt es bei uns eine besondere Verbundenheit zu den Figuren durch das, was wir über die Recherchen in Erfahrung bringen. Durch diese Arbeit entsteht ein besonderer emotionaler Zugang. Wir haben es eben nicht einfach mit irgendwelchen Daten oder Zahlen zu tun, sondern mit den Geschichten, die beispielsweise in einem Briefwechsel drinstecken – in Briefen, die vor uns vielleicht erst drei, vier Leute gelesen haben.

Mitzkus: Es ist halt nicht fiktiv. Und ich glaube, das macht die Geschichten erlebbar, sie rücken einem näher.

Ich denke, dokumentarisches Arbeiten ist ein großer Vorteil für den kritischen Gehalt eine Kunstwerks – wenn man mit den historischen Quellen arbeitet, kommt man nicht ganz drum herum, das Werk entlang der gesellschaftlichen Realitäten zu entwickeln. Gab es denn Leitfragen, die Sie sich in Bezug auf die Handlungen oder Entscheidungen der Lasersteins gestellt haben?

Tietz: Käte geht 1954 zurück nach Deutschland, Lotte bleibt in Schweden. Warum entscheidet man sich, nach Berlin zurückzukehren und die Kinder der ehemaligen Verfolger zu unterrichten? Warum bleibt man als Künstlerin im Exil? Kommt man ab und zu nach Deutschland zurück, hat man dieses deutsche Kapitel abgeschlossen, oder schlägt man es völlig neu auf? Auf diese Fragen gibt es mehr als eine Antwort. Und deswegen ist es schön, dass wir als Kunstprojekt erkunden, wie wir diese verschiedenen Antworten erfahrbar machen können.

Sie spielen also verschiedene Begründungszusammenhänge durch?

Mitzkus: Ja. Ich habe gerade nochmal darüber nachgedacht, warum ich diese Arbeit so gut finde: Weil wir uns nicht positionieren. Wenn du versuchst, wirklich jedes Fünkchen und Eckchen zu beleuchten, bleibt es eben ohne Kommentar und Position. Am Berliner Ensemble hingegen, wo ich bis 2013/14 gearbeitet habe, ist damals oft nur ein einziger Blickwinkel gezeigt worden.

Tietz: Wir sagen weder, genau diese Person ist Käte Laserstein, noch sagen wir, genau so ist es gewesen. Und wir geben diesen Spielraum auch dem Publikum, um zu zeigen: Es war so – oder so – oder vielleicht auch so.

Ich verstehe, was Sie meinen mit den verschiedenen Handlungsoptionen. Aber Sie positionieren sich doch trotzdem politisch, allein durch die Auswahl Ihrer Themen?

Mitzkus: Richtig.

Tietz: Und wenn dieses Thema ist: Begibt man sich wieder nach Deutschland? Was ist das für ein Land, in dem wir leben, aus dem wir herausgeschmissen wurden? Käte Laserstein ist ja eine klassische Remigrantin, sie kehrte zurück in ein Kollegium, in dem viele Mitglied des NS-Lehrerbundes gewesen sind. Der Begriff der Remigration geht ja jetzt durch alle Nachrichten und alle Köpfe. Außerdem sind wir natürlich durch die Ereignisse in Israel und Gaza seit Oktober wieder in einer ganz anderen Diskussion – was eben Jude sein, in Deutschland Jude sein, bedeutet.

Das ist nochmal ein spezifisches Thema, die Remigrant*innen nach dem NS, die ja tatsächlich in eine Gemeinschaft der Täter*innen zurückgekehrt sind. All diese Vorgänge rücken immer weiter in die Ferne – und die Überlebenden des Holocaust sind mittlerweile nahezu alle verstorben.

Tietz: Das stimmt. Aber was kommt jetzt wieder hoch durch den gegenwärtigen Antisemitismus, der über all die Jahre latent war und nun plötzlich wieder ganz da ist?

Interview

Laura Mitzkus studierte Schauspiel am Max-Reinhardt-Seminar in Wien, Christian Tietz ist Theaterwissenschaftler und Historiker. Die erwähnten Arbeitsweisen des Recherchekollektivs Vajswerk werden ergänzt durch Projekte zur kulturellen Bildung, in denen sich Jugendliche auf biografische Spurensuche begeben und mit ihren Ergebnissen und Eindrücken ihre eigenen Stücke entwickeln. Mehr ist zu erfahren unter: www.vajswerk.de

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.