Berlinale »Small Things Like These«: Wege zur Menschlichkeit

Berlinale-Wettbewerb: In »Small Things Like These« findet ein Mann in der Grausamkeit irischer Mädchenheime Parallelen zu seiner Vergangenheit

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein in vielerlei Hinsicht außergewöhnlicher Eröffnungsfilm – die meiste Zeit dunkel, erzählt er doch von Wärme.
Ein in vielerlei Hinsicht außergewöhnlicher Eröffnungsfilm – die meiste Zeit dunkel, erzählt er doch von Wärme.

Das wird den feierlichen Abendgarderoben, wenn sie über den roten Teppich durch das Blitzlichtgewitter geschritten sind, endlich auf ihren Plätzen sitzen und es im Saal dunkel wird, aber aufs Gemüt schlagen! Denn es bleibt anderthalb Stunden in »Small Things Like These« (»Kleine Dinge wie diese«) von Tim Mielants meist sehr dunkel. So viel Mut zur cineastischen Konsequenz gab es noch nie zur Berlinale-Eröffnung. Sonst griff man aus diesem Anlass immer schnell in die Schublade für leichte Unterhaltung, diesmal nicht.

Die ersten Bilder zeigen an, in was für einer Welt wir uns hier bewegen. Katholisch, kleinbürgerlich und nach außen hin gut geordnet, geradezu idyllisch. Kirchenglocken läuten über der irischen Ortschaft, ein Kloster ist zu sehen, ein Rabe in Großaufnahme. Wer denkt da nicht an E.A. Poes berühmtes Gedicht »Der Rabe«, das anhebt: »Mitternacht umgab mich schaurig, als ich einsam, trüb und traurig sinnend saß ...« Dann tritt bei Poe ein unerwarteter Besucher ein, der unheimliche Kunde bringt.

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So auch hier, aber erst nach und nach erfahren wir, welch ein Besucher nächtlich zu Bill Furlong kommt, diesem als Kohlenhändler schwer arbeitenden Familienvater von fünf Töchtern. Es ist die Erinnerung, die, wenn sie einmal eingetreten ist, sich nicht mehr abweisen lässt. Cillian Murphy spielt den eher introvertierten Kohlenhändler mit eigenem Lkw und zwei, drei Angestellten, als friedlichen und zu jedem freundlichen Mann, in dem es zu irrlichtern beginnt. Wenn er von der Arbeit kommt, wäscht er sich erst einmal den Kohlenstaub ab, bevor er ins kleine Wohnzimmer tritt, wo ihn die Familie schon zum Essen erwartet. Diese Waschungen haben etwas von einem Ritual.

Bill ist alles andere als ein dominanter Mensch. Er antwortet seinen übermütigen Töchtern nachdenklich und hat keine Geheimnisse vor seiner Frau. Diese kleine Gemeinschaft lebt trotz aller Enge offensichtlich gern zusammen. Die Familie ist weder arm noch reich, schlägt sich auf sparsame Weise durch. Wenn Bill, was selten geschieht, mal mit den anderen Männern in die Kneipe geht, dann trinkt er dort nur Kaffee und bleibt auch nicht lange.

Die Familie wohnt in einem kleinen Haus, und natürlich gehen sie alle zusammen in die Kirche, wo die Nonnen des Klosters im Ort die Gottesdienste abhalten. Gerade ist Weihnachten, da kommt der festlich geschmückte Baum aus dem Kloster. Dessen Oberin bestimmt, was hier geschieht und was nicht. Emily Watson spielt sie mit schneidender Herzenskälte. Wenn sie von Nächstenliebe spricht, klingt das wie eine Drohung.

Nein, die Sonne scheint in diesem Film nicht eine Sekunde. Das liegt auch daran, dass Bill seine Kohlen immer schon sehr früh ausfährt, wenn es noch dunkel ist. Auch das Kloster zählt zu seinen Kunden. Und einmal, als er dort Kohlen ausliefert, sieht er, wie eine junge Frau hingebracht wird. Sie schreit, klagt und bittet, aber schnell schließt sich das Tor hinter ihr. Denn dieses Kloster ist ein sogenanntes Magdalenenheim, von denen es in Irland zahlreiche gab. Über zehntausend schwangere Minderjährige wurden in solchen Heimen bis 1996 »verwahrt«. Da sie in den Augen der Kirche Sünderinnen waren, behandelte man sie schlecht. Viele der Kinder, die dort geboren wurden, starben bald.

Der Film hat einen fast bedächtigen Gestus. Alle Dramatik geht hier nach innen, sie gewittert in Bill. Doch mehr und mehr wird seine Gestalt zum Seismographen, bekommt die lang eingeübte demütige Haltung Risse. Auf ihn trifft das Wort des Philosophen Ernst Bloch zu, der vom Einüben des aufrechten Ganges sprach.

In zahlreichen kunstvoll montierten Rückblenden hebt sich nach und nach der Nebel über der Vergangenheit. Ein Unbehagen hat Bill ergriffen, obwohl ihn das, was im Kloster passiert, gar nichts angeht. Das sagt jedenfalls seine Frau zu ihm und auch: »Dir ist es doch gut ergangen!« Stimmt das? Er weiß es nicht mehr. Sein Selbstbild ist zerbrochen, lauter Erinnerungsfetzen steigen in ihm auf. Seine Mutter war bei einer wohlhabenden Dame als Hausangestellte beschäftigt und er als Kind gehörte dazu. Die Dame war sehr freundlich zu ihm und seiner Mutter, obwohl doch diese zu den »gefallenen Mädchen« (wie man lange Zeit auch in Deutschland sagte) gehörte. Bill hat Glück, seine junge Mutter auch – bis sie eines Tages ganz unerwartet stirbt und Bill allein auf der Welt ist. Die freundliche Dame nimmt sich seiner an, er kann wirklich nicht klagen.

Plötzlich, dreißig Jahre später, reißt ihn das Schicksal seiner Mutter in die Tiefe. Er sieht sie wieder vor sich, wie sie ihm den Mantel auswäscht. Die anderen Kinder hatten ihn, das Hurenkind, angespuckt. Jetzt ist er für diese längst ein geachteter, hart arbeitender Mitbürger. Aber das Bild des Mädchens, wie es ins Heim gestoßen wurde, lässt ihn nicht mehr los. Das hätte auch seine Mutter sein können. »Misch dich da nicht ein!«, raten ihm Freunde. Die Nonnen könnten ihm sehr schaden, gerade jetzt, wo es ihm und seiner Familie gut gehe. Aber mit all den Erinnerungen im Herzen geht es ihm eben nicht mehr gut. Er ist doch der Sohn einer ledigen Mutter, die in den Augen der mächtigen katholischen Kirche nicht mehr als eine Sünderin war, die büßen sollte.

Und so beginnt Bill auf eine Art innere Reise zu gehen, die seine Familie besorgt fragen lässt, was mit ihm los sei. Aber er kann nicht länger so tun, als wüsste er von nichts. Er weiß, im Magdalenenheim werden junge Frauen, solche wie seine Mutter eine war, gequält und gedemütigt. Zweimal findet er im Kohlenkeller des Klosters jenes rebellische Mädchen, das er anfangs beobachtet hatte. Nun sperrt man sie hier ein. Der Entschluss wächst in ihm, sie von hier fortzuholen und bei sich aufzunehmen. Aber in einer Kleinstadt im Schatten eines alles beherrschenden Klosters?

Doch Bill zögert nicht länger, es komme, was da wolle. An dieser Stelle, als er seiner inneren Stimme zu folgen beginnt, bricht dieser außergewöhnliche Film ab. Dieser Mensch hat sich entschlossen und nichts, keine noch so scheinbar vernünftigen Argumente, werden ihn davon abbringen können. Das ist ein gute Nachricht zum Auftakt der Berlinale.

»Small Things Like These«: Irland/Belgien 2024, Regie: Tim Mielants. Mit: Cillian Murphy, Eileen Walsh, Michelle Fairley. 96 Min. Fr. 16.2., 15 Uhr, Verti Music Hall; Fr. 6.2., 18 Uhr, Verti Music Hall; So. 18.2., 19 Uhr, Colosseum 1.

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