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DDR-Comic: Wenn sich die Toten melden
Düstere Romantik in der DDR der 70er Jahre: Ein Gespräch mit Torsten Schulz über seinen Roman »Nilowsky« als Graphic Novel von Niels Schröder
»Nilowsky« ist von 2013, Ihr zweiter Roman. Warum gibt es ihn jetzt als Graphic Novel, gezeichnet von Niels Schröder?
Nach dem Roman habe ich ein Drehbuch geschrieben. Doch der Spielfilm, der entstehen sollte, erwies sich als zu teuer. Niels Schröder hat das Drehbuch als Grundlage genommen.
Der Comic zum Film, den es nicht gibt?
Ja, so ist es. Niels hat gewissermaßen eine Inszenierung auf dem Papier gemacht, fast hundertprozentig dem Text folgend und ästhetisch gesehen dem Ausdruck des Drehbuchs entsprechend. Es gibt ja viele Comics, in denen Text sozusagen nur Beigabe ist. Aber hier hat man es wirklich mit einer szenischen Erzählung zu tun. Mehr und mehr, aus dem Psychotischen der Hauptfigur heraus, findet Surreales statt. Und der Schluss ist ja auch eine Imagination: Man weiß nicht, wo Nilowsky ist – er ist plötzlich verschwunden.
Ist er nicht vom Zug überfahren worden?
Dann würde man seine Leiche sehen.
Torsten Schulz, Jahrgang 1959, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Professor für Dramaturgie an der Filmhochschule Babelsberg. Sein Roman »Nilowsky« erschien 2013 bei Klett-Cotta. Sein letzter Roman war »Öl und Bienen«, der 2022 im selben Verlag veröffentlicht wurde.
Mit dieser Zug-Szene fängt die Graphic Novel auch an.
Genau, das ist die Klammer. Und dazu am Anfang die Prämisse: »Vor einem Jahr hätte ich mir nicht träumen lassen, jemanden vor den Zug zu stoßen.« Das sagt Markus, die zweite Hauptfigur. Die Leser fragen sich an der Stelle: Wie konnte es dazu kommen?
Nilowsky macht seinen Freund Markus, den Erzähler, verrückt. Der geht tagsüber brav in die Schule und trifft danach Nilowsky, der schon etwas älter ist.
Nilowsky arbeitet bei seinem saufenden Vater, der eine Kneipe führt und ihn ständig verprügelt. Deshalb hasst er ihn so sehr, dass er ihn umbringen will.
Aber dann stirbt der Vater von alleine.
Nilowsky gelingt es nicht, den Alten umzubringen. Der killt sich, weil er es will, mit einem großen Schluck Schnaps selbst. Als Selbstmörder spukt er daraufhin im Leben seines Sohnes herum. Und der, auch vom toten Vater malträtiert, bleibt unerlöst. Das geht mir immer noch nahe, besonders wenn ich die Bilder von Niels betrachte. In meiner Jugend gab es ja einige Jungs, so zwei, drei Jahre älter als ich, die wie Nilowsky eine Verzweiflung in sich trugen. Die sich dagegen wehrten, rebellisch waren.
Das echte Proletariat der DDR.
Ich hab Schwierigkeiten mit dem Begriff »echtes Proletariat«. Ich stamme aus der Arbeiterklasse und hab keinen Arbeiter kennengelernt, der sich in diesem Sinne echt oder von mir aus auch unecht genannt hätte. Alle wollten raus aus der Klasse, ein eher kleinbürgerliches Hochkommen war angesagt, Arbeitereskapismus.
Und Nilowsky?
Der ist ein anarchischer Gerechtigkeitsfanatiker. Er will auch beeindrucken, bisweilen schockieren. Er versucht die fantasievolle Selbstentfaltung eines durch die Lebensumstände zu kurz Gekommenen. Und da greift er sich, was ihm zupasskommt: die Leninsche Revolutionstheorie, Voodoo-Zauber, Ingredienzen düsterer Romantik … Ist es nicht düstere Romantik, wenn jemand sein Sperma aufhebt für eine, eine einzige Frau, die konsequent nichts von ihm will, die von keinem Mann was will?
Wenn du sozusagen deine Umgebung nicht kontrollieren kannst, dann kannst du deinen eigenen Körper kontrollieren. Eigentlich ist das so ein Gefängnisding.
Er ist ja ein Gefangener. Und da er es nicht schafft, seinen Vater umzubringen, bleibt er’s auch. Was das Unerlöstsein und Herumspuken des Selbstmörder-Vaters betrifft – so was war in meiner Kindheit noch ziemlich gängiger Aberglaube. Meine Großmutter hatte allerhand davon. Zum Beispiel sagte sie: »Die Verstorbenen, die melden sich noch mal, bevor sie richtig tot sind.«
Das Motiv gibt es in allen Ihren Büchern.
Ja, und die Verstorbenen holen einen auch nach. So befürchteten alle Hinterbliebenen nah und fern, dass sie nachgeholt werden. Zeitnah, wie man heute sagt. Erst als der Nächste stirbt, kehrt etwas Beruhigung ein. Obwohl, der muss ja auch einen nachholen. Also, die Sache nimmt kein Ende.
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Nilowskys Freundin ist auch nicht ohne. Sie will nicht altern, wie Oskar Matzerath. Und sie sammelt Kotze in ihrer Armbeuge, die sie nicht säubert.
Das hat mir mal eine Frau erzählt. Sie hatte sich als Mädchen dadurch stark und frei gefühlt. Weil niemand davon wusste. Es war ihr Geheimnis. Eine ziemliche Challenge, das aufrechtzuerhalten.
Eigentlich genau die richtige Haltung für Nilowsky.
Ja. Sie ist asexuell. Und bei ihm bleibt das Sperma. Vielleicht eine gute Bedingung für eine lange Beziehung.
Aber warum muss er ebenso trinken wie sein Alkoholiker-Vater? Er könnte ja auch mönchisch nüchtern den klaren Blick preisen.
Es ist wie bei seinem Vater, der behauptet, er könne darüber entscheiden, ob der Alkohol ihn betrunken macht oder nicht. Damit sind wir wieder bei der selbstbehauptenden Selbsterfindung. Genau die steuert aber Nilowsky ins Desaster. Am Ende gibt es, wie ein Denkmal für ihn, die Wunschprojektion des Erzählers, dass er glücklich in Mosambik lebt. Mit Carola und ihren gemeinsamen Kindern. Und wohl auch mit den Genossen der Frelimo. Zusammen arbeiten sie dort in einem Chemiewerk.
In der DDR wohnen die Mosambikaner in Baracken, in unmittelbarer Nähe einer Chemiefabrik. Und zu ihnen kommen ältere deutsche Frauen aus der Umgebung. Suchen die Liebe und Abwechslung?
Sicherlich. Oder so etwas in der Art. Aber man weiß es nicht, denn man sieht die Baracke nur von außen. Alles, was drin passiert, ist der Imagination des Lesers überlassen. Ich habe übrigens diese jungen Arbeiter kennengelernt. Hab auch miterlebt, wie einige von ihnen nach dem Ende der DDR in Hoyerswerda von einem Mob vertrieben wurden. Ich bin dann zu ihnen nach Mosambik gefahren und hab eine kleine Reportage gedreht. In den 70er und 80er Jahren waren sie in die DDR gekommen und hatten gedacht: Reiches Land, tolle Menschen. Und dann wurden sie mehr oder minder kaserniert und herbe enttäuscht. Und das Geld, das sie verdienten, kassierte zum Teil ihre Regierung. Es ist ihnen bis heute nicht oder nur geringfügig ausgezahlt worden.
Und Nilowsky ist der stolze Kommunist? Der sich nicht unterwerfen würde?
Vor allem ist er anarchisch. Solche Menschen gab es selten im real existierenden Sozialismus. Schon häufiger gab es solche Menschen wie mich, die das Anarchische toll fanden, aber selber doch nicht den Mut hatten, so weit zu gehen. Ich war durchaus gesellschaftskritisch, aber im tatsächlichen Leben auch relativ opportunistisch.
Weil Ihre Eltern gesagt haben: »Pass auf dich auf, Junge«?
Meine Eltern waren unablässig gegen die DDR. Weinen ihr auch heute keine Träne nach. Der Witz war: In meiner Pubertät rebellierte ich gegen sie und argumentierte in heißen Diskussionen pro DDR. Ich sagte so was wie: Der Sozialismus in der DDR hat viele Probleme und Fehler, aber im Gegensatz zum Westen haben wir ihn wenigstens. Und was wir haben, müssen wir eben reformieren.
Das hat Peter Hacks auch gesagt, gegen Hans Magnus Enzensberger.
Na also. Nicht ohne Skurrilität, dieser Diskurs. Bei meinen Eltern war’s ambivalent: Einerseits sagten sie: Der spinnt. Andererseits dachten sie wohl auch: So wie er denkt, bringt er es eher zu was in der DDR, als wenn er anders drauf wäre. Dass diese DDR dann so schnell den Bach runtergeht, hatten wir ja alle nicht gedacht.
Psychoanalytisch gesprochen muss Nilowsky mit zwei Vätern brechen, mit dem eigenen Vater und mit dem Paternalismus des Sozialismus.
Ich glaube, er wäre gegen jede Gesellschaft. Und er würde in jeder Gesellschaft mehr oder minder zugrunde gehen.
Niels Schröder/Torsten Schulz: Nilowsky. Bebra, 160 S., br., 22 €.
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