»Malina« von Ingeborg Bachmann: »Die Vergangenheit ableiden«

Fritzi Wartenberg inszeniert Ingeborg Bachmanns Roman »Malina« am Berliner Ensemble

  • Emily Philippi
  • Lesedauer: 5 Min.
Trauriges Dreiergespann auf dem Schlachtfeld der eigenen Wohnung: Constanze Becker, Josefin Platt und Maeve Metelka.
Trauriges Dreiergespann auf dem Schlachtfeld der eigenen Wohnung: Constanze Becker, Josefin Platt und Maeve Metelka.

Was tun in einer Gefängniszelle, in der sich nichts befindet außer den Wänden und dem gefangenen Körper? Was, wenn die einzig mögliche Bewegung an der Wand entlang verläuft und diese Wand als Ausgangs- und Fluchtpunkt, Welt und Material herhalten muss?

Es beginnt mit einem Kritzeln, einem Kratzen. Drei Frauen, deren Dackelfrisuren, 60er-Jahre-Deutschlehrerinnen-Kostüme und Lesebrillen so angestrengt wirken wie ihre Schreibhände, bearbeiten mit Stiften fünf große Blöcke, unbeweglich wie Felsblöcke oder Grabsteine, in der Form auch an Bücher oder antike Steintafeln erinnernd. Die drei Schauspielerinnen, die hier zugange sind, Constanze Becker, Maeve Metelka und Josefin Platt, kostümiert von Elena Scheicher, lassen sich durch hereinkommendes Publikum nicht stören – dieses Kritzeln unlesbarer Sätze ist keine Kommunikation, sondern ein vergeblicher Versuch, sich aus einer hoffnungslosen Situation herauszuschreiben.

So beginnt Fritzi Wartenbergs Inszenierung »Malina«, die am vergangenen Mittwoch am Berliner Ensemble Premiere hatte. Grundlage ist der gleichnamige Roman von Ingeborg Bachmann, den sie »ausdrücklich eine Autobiographie, aber nicht im herkömmlichen Sinn. Eine geistige, imaginäre Autobiographie« nannte. Diesen Roman, der eher ein körperloses Schreiben als ein Sprechen ist, in eine Bühnenform bringen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die viele Entscheidungen und Erfindungen erfordert. Wie die Übersetzung des Schreibprozesses in Handlungen, des Körperlosen in Körper, des unaussprechlichen Horrors in ausgesprochenen Horror gelingen kann, zeigt, zum Beispiel, die geschickte Wahl, die drei Schauspielerinnen alle das weibliche »Ich« des Romans spielen zu lassen und zugleich eine andere männliche Rolle. So wird möglich, was paradox klingt: Dass ein Gespräch passiert und gleichzeitig nicht passiert.

Die Hauptfiguren in Bachmanns Roman sind zwei Männer, Ivan und Malina, und ein »Ich«, das keine klassische Erzählerin ist, sondern unmittelbar aus einem Moment heraus, einem »Heute«, schreibt. Beiden Männern untergeordnet, kann »Ich« auf keinen von ihnen verzichten. Ivan (meist gespielt von Maeve Metelka) arbeitet in einem nicht näher bezeichneten »Institut für äußerst notwendige Angelegenheiten«, hat wenig Zeit und liebt nach eigener Aussage niemanden. Er entscheidet, wann er kommt und geht, und, was Ivan und »Ich« zusammen tun: Meistens Schachspielen, was auch Krieg Spielen bedeutet. In Wartenbergs Inszenierung verrenkt sich Constanze Becker, von Ivan dirigiert, in Posen sexueller Unterwerfung über ein aus Zetteln gelegtes Schachbrett – oder sind es Küchenfliesen? Wenn Ivan nicht zu Besuch ist, sind »Ich« und Ivan durch das Telefon verbunden. Im Zentrum des von Janina Kuhlman gestalteten Bühnenbilds liegt ein perverses Riesentelefon, an, auf und unter dem die Angerufene sich abmüht. Kraftproben mit dem Telefon verliert sie – sie kann es weder verschieben noch reiten. Wie an einer Nabelschnur hält sie sich an der schwarzen Telefonstrippe fest, die sich bald auch um ihren Hals legen könnte.

Der zweite Mann, Malina (meist gespielt von Josefin Platt), scheint anfänglich eher zum Inventar als zum Personal der Wohnung zu gehören. Auf der Bühne sitzt oder steht er irgendwo herum wie der Tisch mit der Schreibmaschine, die Aschenbecher und der Whiskey, allerdings nicht untätig, sondern mithörend, wenn telefoniert wird, mitschreibend, wenn ein Brief aufgesetzt wird.

Mit der Zeit wird klar, dass der Körper, die Wohnung, die Ivan aufsucht und verändert, eigentlich schon immer Malinas Wohnung gewesen ist. Auf den letzten Seiten des Romans sagt die »Ich«-Schreiberin: »Ich habe in Ivan gelebt und ich sterbe in Malina.« Das Leben, das nicht ihres ist, beendet sie damit, dass sie buchstäblich in der Wand der Wiener Wohnung, Ungargasse 6, verschwindet. Als Ivan in der letzten Szene zum letzten Mal anruft, geht Josefin Platt als Malina ans Telefon und erklärt, dass in dieser Wohnung nie eine Frau gelebt hat.

Bachmanns Buch endet mit dem Satz »Es war Mord«. Die Frage, wer der Mörder ist, wird nie explizit beantwortet. Er wird »der dritte Mann« oder »mein Vater« genannt. Seine Tochter vergewaltigt er, lässt sie viele unterschiedliche Todesarten sterben, deportiert sie, bringt sie ins Konzentrationslager und vergast sie. Diese Szenen, am eigenen »Ich«-Leib phantasiert, gehören in Bachmanns Roman genauso zum Wiener Alltag wie die lästigen Einladungen zu den »Altenwyls und Jordans«, die »Ich« regelmäßig absagen muss.

Wartenbergs Inszenierung verlässt wie die Romanvorlage nie die Wohnung. Die Zeit steht still wie in ganz Österreich, wo niemand an einer Zukunft arbeitet, sondern es nur noch gilt »die Vergangenheit ganz abzuleiden« (Bachmann). Weil sich nichts verändert, ist der Übergang zwischen Langeweile und Grauen nur eine Lichteinstellung – der Raum bleibt derselbe, wenn das Morden wieder beginnt. Konzentrationslager und Gaskammern kommen unter Wartenbergs Regie allerdings nicht vor. Stattdessen werden abstraktere Todesarten inszeniert, etwa die Bedrohung durch ein menschenfressendes Krokodil. Es wäre interessant, die Gründe für diese Entscheidung zu erfahren. Wiederholt sich hier nicht eine Verdrängung, die die »Ich« -Schreiberin in Bachmanns Roman nicht mehr aushalten will?

Die Aufführung ist klassisches Sprechtheater mit einer Vielzahl an Stimmen, die einander unterfüttern, überlagern, ins Wort fallen. Im Pathos bläst Becker ihre Stimme auf, bis sie platzt, Metelka weiß, wie ein Wiener das Wort »widerlich« artikuliert, und Platt spricht mit alter und zugleich kindlicher Stimme den überzeitlichen Horror aus. Sätze werden gebunden durch Musik von David Rimsky-Korsakow – und unterbrochen von Ivans Transistorradio.

Die Inszenierung ist zu genau, um sentimental zu werden. Einmal entsteht ein Moment der Euphorie, als die »Ich« -Schreiberin bei immer heller werdendem Licht aufzählt, welche Bücher sie wann, wo und wie gelesen hat, gipfelnd in der Erinnerung ans Lesen von Lenin, vollkommen betrunken, und an die Freude beim Lesen von Zeitungen und Zetteln seit ihrer Kindheit.

Der Schritt in die Wand, an der Bachmanns »Ich« gekratzt hat, ist kein Schritt in die Zukunft. Nicht verschwunden ist ihr Zeugnis davon, dass außerhalb dieser Wände eine andere Welt sein könnte.

Nächste Vorstellungen: 8., 9. und 10. April

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