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Liebesnest und Kaderschmiede
Bogensee – ein geschichtsträchtiger Ort, der ein Lernort werden sollte, statt zu verfallen
Und wieder, wie vor fünf, sechs Jahren bereits, meldet sich Sven Heinemann zu Wort und fordert vehement die Vernichtung eines einmaligen geschichtsträchtigen Ortes 40, 50 Kilometer vor den Toren Berlins. »Bogensee stellt für Berlin eine unzumutbare wirtschaftliche Situation dar«, lässt sich der Sozialdemokrat in »Bild« zitieren. Bis zu 300 000 Euro koste das Areal den Senat jährlich. »Dadurch ergibt sich eine Abrissmöglichkeit des Denkmals.«
Bogensee, tief im Wald versteckt, war rund 60 Jahre lang für die Öffentlichkeit weitgehend unzugänglich. Zunächst erhielt NS-Propagandaminister Joseph Goebbels 1936 dort sein (freizeitliches) Refugium, drei Jahre später wurde es auch Arbeitsstätte – von der Stadt Berlin auf Lebenszeit zur Verfügung gestellt. 1946 zog die Freie Deutsche Jugend (FDJ) mit ihrer »Zentralschule« in die Nazibauten ein. Zuvor waren die Gebäude zehn Monate lang von der sowjetischen Armee als Militärlazarett genutzt worden. In den 50er Jahren kamen die Neubauten im stalinistischen Stil hinzu: Lektionsgebäude und Kulturhaus, dazu Wohnheime für rund 500 Studenten. Es war eines der ehrgeizigsten Bauprojekte der DDR seinerzeit, Ulbricht wollte es als »Denkmal des Sozialismus« verstanden wissen. In der Urkunde zur Grundsteinlegung der Neubauten hieß es 1951: »Die Freie Deutsche Jugend mobilisiert unter der Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands die deutsche Jugend für den Kampf um die Schaffung eines einheitlichen, friedliebenden, demokratischen Deutschland. Sie kämpft entschlossen gegen die Kriegspläne des amerikanischen und des wiedererstehenden deutschen Imperialismus.« Bis 1989 wurden in der »FDJ-Jugendhochschule am Bogensee« ausgewählte Kader in Marxismus-Leninismus geschult, Ende 1990 war es vorbei.
Nach einer misslungenen Zwischennutzung durch den »Internationalen Bund für Sozialarbeit« (IB), einen gemeinnützigen und fast vollständig aus Steuergeldern finanzierten Verein, stehen die Gebäude seit 1999 leer und gammeln vor sich hin. Mutmaßlicher Vorsatz der Berliner Senatsverwaltung: Es möge Gras über die Geschichte wachsen.
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Vor mehr als fünf Jahren machte sich Sven Heinemann bereits für den Abriss stark: »Ich wundere mich, dass das Gebäude nicht schon nach dem Krieg zerstört wurde.« Das ist also offenbar eine Herzensangelegenheit für den 45-jährigen Berliner Kommunalpolitiker. Damit steht er in einer unseligen Tradition seiner Partei. In den 60er Jahren wurde in Westberlin heiß über den Abriss jener historischen Wannsee-Villa im Südwesten der Stadt debattiert, in der 1942 die NS-Ministerialbürokratie und hohe SS-Funktionäre die »Endlösung der Judenfrage« beschlossen hatten. Joseph Wulff, ein Auschwitz-Überlebender und leidenschaftlicher Historiker, setzte sich dafür ein, im historischen Gebäude ein »Internationales Dokumentationszentrum zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen« entstehen zu lassen. Er fand viele Unterstützer für sein Vorhaben, auch im Ausland, darunter beim damaligen Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldmann. Doch der West-Berliner Senat war dagegen. Bürgermeister Klaus Schütz (SPD), Amtsnachfolger von Willy Brandt, erklärte unmissverständlich, Berlin brauche keine »makabre Kultstätte«. Damit war das Projekt vom Tisch. 27 Jahre vergingen, ehe am historischen Ort der Wannsee-Konferenz eine Gedenk- und Bildungsstätte entstand. Seit 1992 ist diese aus der deutschen Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit nicht mehr wegzudenken. Misst man an der »Vorlaufzeit« für die Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz, dann könnte ein Geschichtsort Bogensee noch gut im Rennen liegen – würde sich endlich politischer Wille für eine nachhaltige Lösung bilden.
Dafür gibt es, auch in der Sozialdemokratie, tatsächlich Stimmen, und zwar an Ort und Stelle. Der Barnimer Landrat Daniel Kurth (SPD) sowie der Bürgermeister von Wandlitz, Oliver Borchert (Freie Bürgergemeinschaft Wandlitz), fordern ein fünfjähriges »Abrissmoratorium«. Auch der Bund solle gewonnen werden, um endlich ernsthaft und nachhaltig ein Nutzungskonzept zu entwickeln. Bisher wurde eher Legendenbildung gefördert. Abenteurer wurden an diesen »verlorenen Ort« gelockt, von Teufelsaustreibungen wurde im Netz geraunt. Doch ernsthafte Nutzungskonzepte wurden nie angedacht, geschweige denn angeschoben.
»Liebesnest von Hitlers Hass-Minister soll abgerissen werden«, titelt »Bild« Ende März, und in der »Morgenpost« wird es brav nachgeplappert. Im »Liebesnest« soll die Liaison zwischen dem NS-Propagandaminister und der tschechischen Schauspielerin Lida Baarova im Verborgenen geblüht haben, eine Affäre, die beinahe zu einer Regimekrise geführt hätte. Doch das »Liebesnest«, ein Blockhaus auf der anderen Seite des Sees, der Villa gegenüberliegend, ist bereits Geschichte, vor fünf Jahren wurde es abgerissen – was die Journalisten leicht hätten herausfinden können.
Die Geschichte des Blockhauses ist so etwas wie die Blaupause für das, was der Berliner SPD-Senat seit Jahrzehnten tatkräftig am Bogensee verfolgt. Es soll Gras über die unselige Geschichte wachsen. Kritische Geschichtserzählung am historischen Ort war und ist nicht gewünscht, auch nicht unter der jüngeren Generation sozialdemokratischer Stadtoberhäupter wie Klaus Wowereit oder seinem Nachfolger Michael Müller. Und Propagandisten wie Sven Heinemann.
Rund zehn Jahre, ab 1995, hatte in dem Blockhaus der Forstamtsleiter von Lanke, Romeo Kappel, recht kommod gewohnt. Mittlerweile ist er in Pankow tätig. Als er in Bogensee auszog, glaubte er, über das Haus eigenmächtig zu verfügen und es still und heimlich ausschlachten und für den Abriss freigeben zu können. Als der Autor dieser Zeilen im Winter 2006/07 zu Recherchen vor Ort weilte, sich über den Zustand des Blockhauses wunderte und den Senat, den Denkmalschutz und das Landesforstamt Berlin informierte, war die einzige konkrete(re) Antwort, das gesamte Gelände werde zur Renaturierung freigegeben. Ansonsten fielen die Antworten ausweichend aus, hinhaltend, abwiegelnd. Einzig eine Denkmalschützerin vom Brandenburgischen Landesamt für Denkmalpflege, Ilona Rohowski, schien alarmiert und reagierte umgehend. Sie schrieb für das Blockhaus den Denkmalschutz fest und verhinderte so damals zunächst den bereits in die Wege geleiteten Abriss.
Dass die Berliner Forsten das Gebäude mitten im Wald fortan ungenügend sicherten und überwachten, passt zur historischen Gleichgültigkeit. Es folgten Vandalismus, dann eine Brandstiftung (2015) und schließlich doch noch der Abriss (2019). Das Projekt, Gras über die Geschichte am Bogensee wachsen zu lassen, ist an dessen Ostufer erfolgreich abgeschlossen; dort wächst nun nur noch Unkraut, im Sommer gibt es auch einige Sonnenblumen.
Auf dem gesamten Areal am Bogensee lastet seit Jahrzehnten ohnehin so etwas wie kriminelle Energie. Hier bedient sich jeder nach Gutdünken, offenbar ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Den Landesrechnungshof scheint es auch nicht zu interessieren.
Das Landhaus, Goebbels’ Villa, hingegen steht noch und ist in der Substanz gut erhalten mit originaler Innenausstattung. 30 Räume, 1600 Quadratmeter Wohnfläche. Es wurde 1939 zusammen mit zwei weiteren Gebäuden erbaut, auch diese sind noch gut erhalten. Goebbels nutzte sie nicht nur zur Erholung, sondern zeitweise auch als Ausweichquartier und Amtssitz. Die holzgetäfelten Wände sind passabel erhalten, ebenso Einbauschränke, Regale, Parkett, Fensterbeschläge aus Messing, Fensterbänke aus Marmor. Auch die schmiedeeiserne Tür am Haupteingang stammt aus der Zeit von Hitlers Propagandachef.
In der großen Eingangshalle, dem sogenannten Kaminzimmer, empfing Goebbels seine Gäste: Filmstars, Journalisten, Politiker. Marika Rökk war einst hier, Margot Hielscher, Brigitte Horney, Ilse Werner, Zarah Leander und viele andere – vor allem Frauen – aus der Filmbranche. Im März 1940 stimmte Goebbels hier führende Journalisten der Berliner Tageszeitungen auf die kommenden Kriegsereignisse ein. Mit der Eroberung und Einverleibung Polens wollten sich die Welteroberer nicht zufriedengeben. Und mit Rüstungsminister Albert Speer besprach der Propagandaminister hier im Mai 1944 den Wiederaufbau der von alliierten Bombern bereits stark zerstörten Infrastruktur Deutschlands.
Der Kamin im großen Empfangsraum existiert nicht mehr, dafür gibt es aber die legendären Terrassenfenster noch, die per Knopfdruck im Boden verschwanden, um den Weg zur Terrasse freizugeben. Solche automatisch versenkbaren Panoramafenster gab es damals nur bei Hitler auf dem Obersalzberg und bei Göring im nahe gelegenen Carinhall in der Schorfheide. Als der am 7. März 1946 gegründeten Freien Deutschen Jugend – auf Bitte von dessen Vorsitzenden Erich Honecker – das Gelände von der Sowjetischen Militäradministration zur Verfügung gestellt wurde, fanden in dem Raum Vorträge von Veteranen vor angehenden Jugendfunktionären statt. Hier referierten Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, Hermann Axen, Paul Wandel, kurz: jene Männer, die die Führungsriege der späteren DDR ausmachten.
Goebbels’ Arbeitszimmer, ebenfalls mit Blick zum See, hat sich am besten erhalten. Hier diktierte der Minister seine Leitartikel für die Wochenzeitung »Das Reich«, von hier erfolgten seine Instruktionen für Rundfunk und Presse. Im Dezember 1942 kam es im Waldhof zu einer folgenreichen Begegnung mit Martin Bormann, dem Leiter der Parteikanzlei Hitlers. Goebbels erhielt grünes Licht für seine Politik der »totalen Kriegführung«. Im Waldhof verfasste er kurz darauf seinen grundlegenden Aufsatz »Der totale Krieg«.
Auch der Filmsaal, mehr als 100 Quadratmeter groß, ist noch zu erkennen. Dort stellte Goebbels die »Wochenschau« zusammen, ließ sich Filme vorführen, prüfte, zensierte und verbot. Hier könnte man Strategien und Wirkungsmechanismen von Goebbels’ Visionen darstellen, Spielfilme und »Wochenschauen« jener Jahre zeigen. Am Bogensee plauderte Goebbels mit Zarah Leander und Anny Ondra, der Ehefrau Max Schmelings. Filmfragen habe er mit Heinz Rühmann und Hilde Krahl besprochen, entnimmt man seinem Tagebuch. Veit Harlan ließ er mehrfach kommen, um mit ihm über den antisemitischen Film »Jud Süß« zu reden.
Bogensee ist ein Ort der Propaganda. Man könnte hier ihre Konstruktionen, Mechanismen und Wirkung dokumentieren, unter der Voraussetzung, nicht gemäß der Totalitarismusdoktrin NS-Diktatur und DDR gleichzusetzen. Im Gegenteil, es könnten hier, an authentischer Stätte, wesentliche Unterschiede in Anspruch und Wirklichkeit erörtert werden. Mörderische, rassistische Ideologie einerseits, eine sich antifaschistisch und humanistisch definierende andererseits, die dennoch scheiterte. Bogensee könnte als Denkort gewonnen werden. Auch ein Gesamtkonzept für die Region könnte entwickelt werden. Der sogenannte Honecker-Bunker befindet sich nördlich direkt angrenzend an das Gelände. Die Reste von Görings Carinhall sind nicht weit entfernt, Honeckers Jagdschloss Hubertusstock liegt im Umkreis, ebenso die Waldsiedlung Wandlitz, in der die Mitglieder des DDR-Politbüros ab 1960 unterkamen.
Von all dem wollen die Berliner Stadtväter und -mütter sowie das Berliner Immobilienmanagement (BIM) nichts wissen. Und Heinemann spielt mit gezinkten Karten. Der Sozialwissenschaftler mit typischer Funktionärskarriere ist seit Oktober 2011 Mitglied des Abgeordnetenhauses und seit Januar 2022 Landesgeschäftsführer der SPD. Seit 2017 firmiert er aber zudem als Mitglied im Aufsichtsrat von BIM. Er ist Sprachrohr derjenigen, die weniger an Nutzungskonzepten interessiert sind als vielmehr an Kostenreduzierung, Abrisspolitik und Geschichtsverdrängung.
Apropos: Warum Bogensee, in Brandenburg gelegen, zu Berlin gehört? Weil das 5000 Hektar umfassende Gelände 1919 vom hoch verschuldeten Grafen, Kämmerer und Geheimrat »seiner Majestät« Wilhelm von Redern für 20 Millionen Reichsmark an den Magistrat verkauft wurde.
Von unserem Autor erschien die bisher einzige umfassende Foto-Text-Dokumentation zur Geschichte des Ortes: »Goebbels’ Waldhof am Bogensee. Vom Liebesnest zur DDR-Propagandastätte«.
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