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Charles Dickens: Sprachmächtig und sensibel
Museyroom (Teil 15): Ein Museum in der Londoner Doughty Street würdigt den sozialkritischen Romancier
Eigentlich sollte er Advokat werden. Er wurde Romanschriftsteller: Charles Dickens, 1812 in Landport bei Portsmouth geboren, 1870 auf seinem Landsitz Gads Hill Place bei Rochester verstorben. Zwei Jahre lang diente er immerhin einem Rechtsanwalt in London als Schreiber, nebenbei erlernte er autodidaktisch Stenografie und war durch die Vermittlung eines Onkels von 1831 bis 1835 als Parlamentsreporter beim »Morning Chronicle« tätig. Den ersten literarischen Erfolg errang er mit den »Sketches by Boz« (1836, dt. »Londoner Skizzen«, 1838).
Ende März 1837 bezog Dickens mit seiner Gemahlin Catherine das georgianische Stadthaus 48 Doughty Street im Londoner Stadtteil Bloomsbury. Von hier war es nicht weit zum Foundling Hospital, dem Heim für Findel- und Waisenkinder sowie für Kinder aus verarmten Familien, für das sich Dickens engagierte. Was nur ein Teil seines karitativen Engagements ausmachte. Dort organisierte er Fundraising-Events und spendete unter anderem für das Hospital for Sick Children, die Field Lane School oder die Literary Friendly Society. Nicht weit von der Doughty Street entfernt, in der Angehörige der Mittelklassen wohnten, bot sich Dickens bittere Armut dar. Saffron Hill war ein Elendsviertel. Und Dickens selbst hatte als Kind bitterste Armut erlebt. Dies sollte sein schriftstellerisches Werk denn auch prägen, sensibilisierte ihn für Not und Elend.
In den zwei Jahren, in denen die Familie in dem Haus in der Doughty Street lebte, war Dickens sehr produktiv. Hier vollendete er 1837 »The Posthumous Papers of the Pickwick Club« (dt. »Die Pickwicker«, 1837), eine vorwiegend humoristische Schilderung englischen Lebens, die schon in aller Munde war, als sie noch in 18 Fortsetzungen in Heftform im Verlag Chapman & Hall erschien. Das Buch trug wesentlich zu seiner Berühmtheit bei.
Im Museum liegt die Kraft. Glauben Sie nicht? Gehen Sie doch mal rein! Jeden Monat stellen wir eins vor, in Text und Bild. So wie James Joyce es in »Finnegans Wake« geschrieben hat: »This is the way to the museyroom.«
Ebenfalls in der Doughty Street vollendete er seinen Roman »Oliver Twist« (1838), in dem er das Schicksal des gleichnamigen Findelkindes schildert, das in einem Armenhaus aufwächst. In diesem Roman positionierte er sich eindeutig gegen den Pauperismus des frühen industriellen Zeitalters.
Auch dem englischen Schulwesen widmete sich Dickens, so in seinem sozialkritischen Werk »Nicholas Nickleby« (1838/39, dt. »Leben und Abenteuer des Nicolaus Nickleby«, 1839). In Meyers »Taschenlexikon Englische Literatur« (VEB Bibliographisches Institut, Leipzig 1965) wird er mit den Worten gewürdigt: »Dickens schilderte in seinen Romanen realistisch ergreifend das Leben der untersten Volksschichten; er erhoffte die Überwindung der kapitalistischen Klassenwidersprüche durch gegenseitige Toleranz und appellierte an die Wohltätigkeit der herrschenden Klassen.«
1839 zog die Familie Dickens in die Devonshire Terrace, Regent’s Park, um. Im Haus in der Doughty Street lebten fortan wechselnde Mietparteien, es wurde schließlich eine Art Herberge. Bis 1922 die Dickens Fellowship Geld sammelte, um das nunmehr zum Verkauf stehende Gebäude zu erwerben und in eine Dickens-Gedenkstätte umzuwandeln. Am 9. Juni 1925 war es so weit, wurde das Dickens House Museum eröffnet.
Wer heute das Haus besucht, gewinnt den Eindruck, dass der weltberühmte Schriftsteller das Haus gerade eben erst verlassen hat. Auf einem Bett ist ein frisch gebleichtes Nachthemd ausgebreitet, im Esszimmer der Tisch gedeckt, die Küche ist aufgeräumt und in dem schon im Verfall begriffenen Weinkeller warten noch ein paar alte Flaschen darauf, entkorkt zu werden. Auf dem ersten Blick fällt auf, dass Charles Dickens und seine Gattin Catherine, die zehn Kinder gebar, sich mit unzähligen Porträts ihrer selbst umgeben haben. Das von Samuel Lawrence (1812–1884) gemalte Porträt des jungen Ehepaares hing bis zu ihrer Trennung im Jahre 1858 auch in den später vom Paar bewohnten Häusern.
Catherine hatte zudem den mit der Familie Dickens befreundeten irischen Künstler Daniel Maclise (1806–1870) beauftragt, ihre Kinder Charley, Katey, Mamie und Walter zu zeichnen, um die Porträts dann auf eine US-Reise mitnehmen zu können. Eine »schöne Ähnlichkeit« bescheinigte Catherine der Büste ihres Mannes, die der amerikanische Bildhauer Henry Dexter (1806–1876) während der ersten Lesereise von Dickens durch die USA 1842 schuf. Im Dining Room (Esszimmer) ist ein Gipsabguss des verloren gegangenen Originals vor einem Buntglasfenster ausgestellt.
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Den in seinem Arbeitszimmer zu sehenden Schreibtisch hatte der Literat 1859 erworben. Im Drawing Room (Empfangs- oder Gesellschaftszimmer) ist Dickens’ Lesetisch zu sehen. Diesen hatte er für seine öffentlichen Performances entworfen, in deren Vorbereitungen er seine ganze Familie sowie Freunde einbezog. Für die Lesung seiner Romanszenen, die er gestenreich unterstrich, hatte Dickens sich stets vorab in seine Bücher Bühnenanweisungen notiert – etwa »seufzen«, »stöhnen« oder »klopfen«. Als Vortragskünstler war Dickens so beliebt wie als Romancier, 5000 Eintrittsvorverkäufe (plus Schwarzhandel), die es beispielsweise vor einem Auftritt des als »Star der Literatur« Gehandelten gab, zeugen davon. Dickens hatte als Jugendlicher den Wunsch gehegt, Schauspieler zu werden und war stets auch ein häufiger Theaterbesucher. Als er 1857 selbst ein Theaterstück, »The Frozen Deep« von Wilkie Collins (1824–1889) inszenierte, lernte er die junge Schauspielerin Ellen Ternan (1839–1914) kennen, die seinen Avancen allerdings erst nach langer Zeit nachgeben sollte. Zu diesem Zeitpunkt war das Ehepaar Catherine und Charles Dickens bereits getrennt. Eine Scheidung war jedoch im sittenstrengen England der Königin Victoria, dieser »blähsüchtigen alten Vettel« (James Joyce), nicht möglich.
Was wäre ein Schriftstellermuseum ohne Schriften? Im Museum werden hauptsächlich Dickens’ eigene Werke, Handschriften und Manuskripte präsentiert. Über eine Bibliothek, die diesen Namen verdient, verfügte er beim Einzug in das Haus in der Doughty Street noch nicht. Sein Kollege, der philosophisch angehauchte Goethe-Biograf George Henry Lewes (1817–1878), stellte 1838 bei einem Besuch in Dickens’ Arbeitszimmer fest, es befänden sich dort lediglich »dreibändige Romane und Reisebücher«. Unter den Handschriften aus der 100 000 Objekte umfassenden Sammlung des Museums sticht neben der Schönschrift auf den Manuskriptseiten von »Nicholas Nickleby« besonders ein kurzer Brief hervor, den Dickens in der Zeit vor seiner Tätigkeit bei einem Rechtsanwalt verfasste. Es ist das früheste handschriftliche Dokument, das von ihm erhalten ist.
Nicht im Museum zu finden sind die Würdigungen dieses sozialkritischen Schriftstellers durch Friedrich Engels und Karl Marx. Engels hatte Dickens im Kopf, als er 1844 schrieb, die neue Generation von Schriftstellern widme ihre Aufmerksamkeit »der armen und verachteten Klasse, ihren Schicksalen und ihrem Glück, ihren Freuden und ihren Leiden«. Und Marx schrieb zehn Jahre später: »Dickens ist eines der großartigsten Beispiele der englischen Dichter, deren detailreiche und sprachmächtige Werke mehr politische und gesellschaftliche Wahrheiten gegeben haben als alle Berufspolitiker, Publizisten und Moralisten zusammen.«
Charles Dickens Museum, 48 Doughty Street, London, https://dickensmuseum.com
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