Dietmar Sous Erzählung »16:0«: »Champions League – pfui Teufel!«

Ein Gespräch mit Dietmar Sous über seine neue Erzählung »16:0« und ein ziemlich unbekanntes Kapitel der deutschen Fußballhistorie

  • Interview: Frank Schäfer
  • Lesedauer: 5 Min.
»Sechzehn Tore gegen den Zaren!« Adolf »Adsch« Werner ist der schwarzbehoste Schnurrbartträger in der Mitte.
»Sechzehn Tore gegen den Zaren!« Adolf »Adsch« Werner ist der schwarzbehoste Schnurrbartträger in der Mitte.

Nach einer Ihrer Lesungen haben Sie zu meinem Entsetzen davon gesprochen, kein weiteres Buch mehr schreiben zu wollen. Glücklicherweise sind Sie rückfällig geworden mit »16:0«. Warum?

Meine Ankündigung, mich in den endgültigen Ruhestand zu versetzen, war nicht kokett, und die Weltpresse hat auch sehr gelassen reagiert. Ich hatte zu der Zeit nichts mehr im Kopf, Flasche leer. Gelitten habe ich darunter nicht die Bohne, war nie ein romantisch zwanghafter Schreiber. Aber die Quälgeister vom Transit-Verlag gaben keine Ruhe. Als ob ich von Bedeutung wäre und Deutschland ungeduldig was Neues von mir erwartete. Totaler Quatsch, natürlich. Aber auch wohltuend, diese Zuneigung, dieses Vertrauen. Und so hab ich versucht, meine Birne wieder etwas zu füllen. Passend zur kommenden Europameisterschaft mit 112 Jahre altem Fußball.

Interview

Dietmar Sous, Jahrgang 1954, ist ein Chronist plebeji­scher Lebens­welten. Seine lakonisch-komische Erzähl­prosa ist in der deutschen Literatur einzig­artig. In seinem neuen Kurz­roman »16:0« erzählt er vom linken Schorn­stein­feger Adolf »Adsch« Werner, Tor­hüter bei Holstein Kiel, der mit der Fußball­national­mann­schaft während der Olym­pischen Spiele in Schweden 1912 einen legendären Kanter­sieg gegen die Auswahl Russ­lands erringt: »Sechzehn Tore gegen den Zaren!« – der höchste Sieg der DFBler in der Geschichte.

»16:0« liefert viel Zeitkolorit: den Hurra-Patriotismus, die Herrenmenschelei, den Untertanengeist, die wachsende Kriegslüsternheit im deutschen Kaiserreich. Man ist erstaunt, wie plastisch Sie das frühe 20. Jahrhundert wiederauferstehen lassen in einem so schmalen Buch. Es ging Ihnen auch um ein Stimmungsbild, oder?

Zunächst ging es mir nur darum, ein Thema zu finden. Dieser 16:0-Erfolg der deutschen Nationalelf bei der Olympiade 1912 hat mich als Statistik-Erotiker schon lange fasziniert. 16:0 gegen Russland, nicht gegen den Vatikan! Aber interessanter als die Höhe des Sieges fand ich, dass das letzte Tor bereits in der 69. Minute gefallen ist. Was, verdammt, war in den letzten 21 Minuten los? Einen Spielbericht, der darauf eingeht, habe ich nicht gefunden, nur höchst erstaunliche Sätze wie: »Das Spiel lief an den Russen vorbei, und ihr Torwart war schwach.« Ich war anscheinend allein mit meiner Verwunderung. Es ist auch niemand auf die Idee gekommen, »meinen« Helden, den Torwart Adolf »Adsch« Werner, mal ins »Aktuelle Sportstudio« einzuladen und zu befragen. Der Mann hat immerhin bis 1975 gelebt. Aber gut, dieses Desinteresse, diese Fixiertheit auf das Wunder von Bern und das 3:4 gegen Italien bei der WM in Mexiko war eine, vielleicht meine Chance. Die Zeit des frühen 20. Jahrhunderts fand ich immer schon äußerst spannend, vor allem die Frage, wie es zum Ersten Weltkrieg kommen konnte. Den Erzählungen meines wachen Opas Heinrich, grausamer Jahrgang 1896, hab ich auch immer gern zugehört – Mentalitätsgeschichte nennt man das wohl heute. Sie haben ja schon entscheidende Stichworte genannt: Untertanengeist, nationalistische Kriegsverherrlichung, auf der anderen Seite aber auch das politische Erstarken der Arbeiterklasse, trotz aller Schikanen »von oben«.

Adolf Werner ist in Ihrem Buch ein guter linker Mann, der die Republik will und auch nicht besonders vaterländisch gestimmt ist. Ist das historisch verbürgt?

Adschs Länderspiele und Erfolge mit Holstein Kiel sind dokumentiert, außerdem wusste ich, dass er Schornsteinfeger war und zwei jüngere Brüder hatte. Das war's. Ich konnte also vorbehaltlos meiner üblichen Tätigkeit nachgehen und mir einen Helden zusammenlügen. Mit einem angepassten, kaisertreuen Torwart, der mit seiner sittenstrengen Verlobten durch den Kieler Stadtpark wandelt, hätte ich nicht monatelang Tür an Tür leben wollen. Mit einem linken Sozialdemokraten in einem Obrigkeitsstaat ließ sich aber ganz gut arbeiten.

Sie lassen überdies die amateurhaften Anfänge des Fußballs wiederauferstehen. Es gibt zwar auch schon geheime Auflaufprämien und Ablösesummen, aber natürlich in anderem Rahmen. Sind Sie ein Fußballromantiker?

Durch und durch. Champions League – pfui Teufel, kommt mir nicht vor die Augen. 18-jährige Millionäre, die ihre Kommentare und andere Lebensweisheiten in jedes Mikrofon hauchen, das ihnen hingehalten wird, schalte ich weg. Die Spiele meines Heimatklubs FC 66 Breinigerberg, Fahrstuhl zwischen neunter und zehnter Liga, habe ich mir gern und sehr nervös angeschaut. Aber damit ist auch Schluss. Der wesentlich ambitioniertere Nachbarverein hat meinen Klub zu Tode fusioniert.

Sie sind ohnehin ein großer Romantiker. Ihre Frauenfiguren sind in allen ihren Büchern von besonderer Apartheit.

Ich bin nicht mit allem einverstanden, was Adsch so treibt und von sich gibt, aber völlig seiner Meinung, wenn er sagt, auf der ganzen Welt gebe es nichts Schöneres und Aufregenderes als die Frau.

Es gibt aber auch wieder einen grausamen Lehrer. Diese Figur spielt in vielen Ihrer Romane und Geschichten eine Rolle. In Ihrer Klappentext-Vita schreiben Sie, das altsprachliche Goethe-Gymnasium in Stolberg »überlebt« zu haben. Was ist Ihnen widerfahren?

In den Swinging Sixties waren leider nicht nur die Beatles, die freie Liebe und der Minirock an der Macht, die NSDAP regierte auch noch mit in der Bundesrepublik. Kanzler Kiesinger und die furchtbaren Juristen waren keine Einzelfälle. An meiner – ich sag das jetzt mal altersmilde – eher konservativ-liberalen Schule gab es einen Deutschlehrer, der Tag für Tag, Jahr für Jahr ein Terrorregime führte, an dem einige Mitschüler buchstäblich zerbrochen sind. Pädagogik bedeutete für diesen Lehrer: Demütigung, Bestrafung und Willensschulung – Schulung nach seinem braunen Willen. Im Nachhinein war das ganz hervorragender Anschauungsunterricht. Aber dankbar bin ich diesem Kommandanten dafür nicht.

Ihre Diktion ist in »16:0« eine andere als in ihren letzten Romanen. Wollten Sie den Sprachstand des frühen 20. Jahrhunderts adaptieren?

Mein Sound passiert mir einfach so, da gibt es nichts Kalkuliertes. Ich wusste, dass die Kicker damals schon gern zu Anglizismen gegriffen haben, sehr zum Ärger der Sprachreiniger, die es schon lange vor den heutigen Gender-Feinden gab, und hab das sparsam nachvollzogen. Auf altertümliche oder schon ausgestorbene Wörter und Wendungen habe ich weitgehend verzichtet, damit es nicht so gemacht wirkt.

Noch eine letzte Frage zur Sprache. Sie brauchen wenig Platz, um ihre Figuren plastisch zu profilieren, und trotzdem liest sich das ungemein flüssig und nicht übermäßig komprimiert. Wie macht man das?

Hinsetzen, Handy weg, Radio aus, sämtliche Ausschweifungen auf den nächsten Monat verschieben, am Ball bleiben.

Dietmar Sous: 16:0. Eine Erzählung. Transit, 96S., geb., 18€.

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