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Erst mal warmlaufen
Das Berliner Theatertreffen ist eröffnet: Zum Auftakt lud Ulrich Rasche mit »Nathan der Weise« zum Bühnen-Workout
In der Schule – so hört man allenthalben – lernt man fürs Leben. Dass das besonders angenehm ist, darf man bezweifeln. Wer deutsche Bildungseinrichtungen besucht hat, kann froh sein, wenn die Traumata kurierbar sind.
Nehmen wir die schönen Künste. Wäre es nicht Aufgabe des Lehrpersonals, Lust zu machen auf Musik, Literatur, Schauspiel? Da vor den Schulklassen aber selten ein Robin Williams steht und mit seinen Zöglingen »Club der toten Dichter« spielt, sondern meistens eben doch ein sogenannter Quer- respektive Seiteneinsteiger mit Interesse an langen Sommerferien und wenig Interesse an der musischen Entwicklung von Heranwachsenden, wird die Schülerschaft mit dem Befehl zum Genuss ins nächstgelegene Theater eingewiesen und soll am Ende brav klatschen. Falls es zu einem neuen Versuch kommt, eine Bühne aufzusuchen, der auch noch aus freien Stücken erfolgt, darf man sich bereits glücklich schätzen, da die abschreckende Wirkung immerhin nur von beschränkter Dauer gewesen ist.
Es geht auch anders! Nora Hertlein-Hull, die neue Leiterin des Berliner Theatertreffens, hat in ihrer Eröffnungsrede zur diesjährigen Festivalausgabe am Donnerstag nicht vergessen, Grüße an eine Schulklasse aus Radebeul zu senden. Die Lehrerin habe wie eine Löwin um die Karten gekämpft. Ein solches Engagement, das nicht vor den Türen des heimischen Karl-May-Museums haltmacht, sondern bis zu den Hauptstadtfestivals reicht, ist wirklich löblich.
Und tatsächlich war fast das gesamte Spielplanangebot in Windeseile ausverkauft. Für die Eröffnungspremiere dürfte es besonders schwierig gewesen sein. Aber wenn schon, denn schon. Immerhin handelte es sich auch um eine der Pflichtlektüren im schulischen Deutschunterricht: Lessings »Nathan der Weise«, hier in einer Inszenierung des Theatertreffen-Routiniers Ulrich Rasche von den Salzburger Festspielen.
Ob es dem nachwachsenden Publikum gefallen hat? Wer weiß. Gänzlich unberührt von den großen Bildern wird wohl kaum jemand geblieben sein. Die chorischen Passagen in den Ensembleszenen hatten eine Kraft und Genauigkeit, wie man sie selten im Theater hört. Und keinesfalls unerwähnt bleibe die beeindruckende schauspielerische Leistung. Genannt seien hier vor allem drei Darstellerinnen: die auf der Bühne lange Zeit vermisste Valery Tscheplanowa, die energiegeladen die Titelrolle übernommen hat, Julia Windischbauer als Recha und Almut Zilcher als Sittah.
Lessings »Dramatisches Gedicht in fünf Akten« mit seiner berühmten Ringparabel gilt als Schlüsseltext der Aufklärung, als ewig gültiger Appell für Toleranz. Rasches Interesse gilt den Grenzen dieser Aufklärung. Texte von Lessings Zeitgenossen, etwa von Fichte und Voltaire, flicht er in die Inszenierung ein. Sie zeugen nicht von Vernunft, sondern sind Ausdruck des Antisemitismus, gegen den auch die Aufklärer selbst nicht immun waren. Die Aufklärung, hämmert uns der Regisseur ein, hat Grenzen.
Im Juli 2023 zur Premiere gelangt, konnte das künstlerische Team kaum ahnen, zu welchen Massakern es im Oktober des letzten Jahres kommen würde. Matthias Pees, Intendant des Hauses der Berliner Festspiele, Kulturstaatsministerin Claudia Roth und Nora Hertlein-Hull, sie alle betonen die dazugewonnene Aktualität der Theaterarbeit, was wohl eine grobe Vereinfachung ist. Es ist weder Rasche noch Lessing vorzuwerfen, dass der Abend wohl kaum zur Erklärung dienen kann für das, was sich in Nahost seit Monaten abspielt.
Für die Inszenierung bedient sich Rasche der Mittel, die er zu zwingenden Werkzeugen seines Stils gemacht hat. Die Bühne ist in nebelverhangenes Dunkel gehüllt. Schneisen durch das Grau und Schwarz schlägt nur das grell-weiße Leuchten von Lichtdesigner Alon Cohen. Die Drehbühne hält kaum je still, sie wird den Spielerinnen und Spielern zum Laufband, auf dem sie unaufhörlich rhythmisch staksen, um doch nur auf der Stelle zu stehen. Ein fast vierstündiges Bühnen-Workout.
Dazu kommt der durchgehende Sound (Raimund Hornich), der atmosphärisch alles szenische Geschehen überlagert. Nein, man kann sich der soghaften Wirkung kaum entziehen. Aber was befördert diese Darstellungsweise aus Rasches mittlerweile bekannter Trickkiste an Erkenntnis hervor? Die Regiemittel verstellen den Blick des Zuschauers auf das Drama.
Dass hier dennoch einiges geboten wird, die Spielerinnen und Spieler immer neue Bilder im Licht konstruieren, dass es sich hier um höhere Schauspielkunst handelt, daran muss man nicht zweifeln. Der Schlussapplaus zeugte ebenfalls davon. Doch es bleibt ein durchaus streitbarer Abend. Und so soll es ja auch sein beim Berliner Theatertreffen, der Bestenschau, bei der die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen des letzten Jahres aus dem deutschsprachigen Raum gezeigt werden.
Die monolithische Inszenierung von Ulrich Rasche am Eröffnungsabend wurde bereits mit Falk Richters sehr feingliedriger und berührender Theaterarbeit »The Silence« an der Schaubühne am Lehniner Platz kontrastiert, in der mit dem Schauspieler Dimitrij Schaad ebenfalls ein Ausnahmekünstler auf der Bühne steht. Auf die weiteren Inszenierungen – aus Jena und Nürnberg, aus München und Zürich, aus Hamburg und Bochum – darf man gleichermaßen gespannt sein.
Den vollständigen Spielplan des Berliner Theatertreffens finden Sie unter:
www.berlinerfestspiele.de/theatertreffen
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